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8. Gemälde

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Durch das Fenster sah Sarah das Wohnzimmer im warmen Schein des Ofens und einer Leselampe aufleuchten. Sie wusste nicht, wie leise sie sein sollte, versuchte zu hören, wie laut ihre Schritte waren. In ihren Ohren dröhnte es noch vom Kneipenlärm.

Die Wohnzimmertür stand offen. Vor dem Kamin ein gusseiserner Ofen, davor wiederum ein großer Sessel und zwei Lehnstühle. Elegant, mit geschnitzten Armlehnen und Beinen, einem fahlgrünen Samtpolster. Auf dem Sessel lag ein dunkles Fell. Sarah trat näher und bemerkte, dass der Kopf noch dran war. Ein Bärenfell. Sie streckte die Hand aus und strich darüber. Kräftiges, dickes Haar, doch darunter war es erstaunlich weich. Ruppig und flauschig zugleich. In dem Zimmer standen zwei große Bücherregale. Französische und englische Romane, viele Kunstbände. Sarah erkannte drei Buchrücken, lächelte, es waren Werke von Thor Heyerdahl. Vorsichtig nahm sie eines vom Regalbrett. Fatu Hiva. Derselbe orangefarbene Einband wie bei ihrem Vater. Bei ihm hatte das Buch brüderlich neben dem alten Exemplar ihrer Mutter gestanden, dem norwegischen Original aus den dreißiger Jahren.

Sie schnupperte daran. Holzfeuer und altes Papier. Auf dem Vorsatz stand in eleganter Schrift ein Name. Marion Goodwin. Sie stellte das Buch wieder zwischen die anderen zurück.

An der Wand hingen Jagdtrophäen. Als Sarah sie sich näher ansehen wollte, hörte sie Geräusche aus der Küche. Mary trat in die Tür, eine Flasche Wein und ein Glas in der Hand.

»Hallo, Sarah, nimm dir ein Glas aus dem Geschirrschrank, wenn du Wein möchtest, und komm zu mir.« Mary setzte sich in den Sessel mit dem Bärenfell, unter die Leselampe.

Kurz bevor Sarah sich einschenkte, hielt sie inne. »Wein ist doch sicher eine Seltenheit, so weit oben im Norden?«

»Es hat viele Vorteile, hier einen Lebensmittelladen zu haben. Darunter den, dass ich mir so manchen Luxus nicht abzugewöhnen brauchte.«

»Du bist also nicht hier geboren?«

Mary lachte. »Hier wird fast niemand geboren.«

»Warum?«

Mary zuckte mit den Schultern und schaute ins Feuer. Sagte dann, in Forty Mile kämen kaum Kinder auf die Welt, und es würden schon gar keine hier gezeugt.

Sarah sah sie ungläubig an.

»Hier wird niemand schwanger. Seit fast hundert Jahren gibt es die Stadt, und noch nie wurde ein Kind hier gezeugt. Manchmal werden Kinder hier geboren, aber gezeugt werden sie immer woanders.«

Mary erzählte ihr vom sogenannten Fluch der Ersten Völker. Schon seit Anbeginn der Zeiten hätten die hier im Sommer ihre Jagdgründe gehabt, am Zusammenfluss beider Flüsse. Dort fingen sie Fisch und trockneten ihn, dort hielten sie große Hochzeitszeremonien ab. Doch dann hatten die Trapper unweit ihrer Niederlassungen Gold gefunden, und nicht einmal ein Jahr später waren die alten Jagdgründe von Zehntausenden Menschen überschwemmt. Der unberührte Norden war schlagartig allgemein bekannt. Da hätten sich die ursprünglichen Einwohner entschieden, ihre Jagdgründe zu verlassen, aber unter einer Bedingung: Dass man sie noch weiter nördlich in Ruhe ließ. Pakte wurden geschlossen, Verträge unterzeichnet, es floss kein Tropfen Blut. »Seither werden hier keine Kinder gezeugt. Der Legende nach sind die neuen Bewohner mit Unfruchtbarkeit bestraft worden, weil sie den Ureinwohnern ihre fruchtbaren Fischgründe gestohlen haben – für immer und ewig. Oder zumindest so lange, wie sie versuchen, hier Kinder zu zeugen.«

Sarah schüttelte den Kopf.

Mary fuhr fort. »Vor ein paar Jahren ist ein junger Medizinstudent hergekommen, um das Phänomen zu untersuchen.« Die Frauen von Forty Mile hätten ihn ausgelacht, sie ließen ihn abblitzen, als er sie untersuchen wollte. Ein halbes Jahr lang ließ er ihnen über den Arzt höfliche Bittbriefe zukommen, dann gab er auf. »Es ist also immer noch ein Rätsel. Aber trotzdem stimmt die Geschichte«, schloss Mary. »Und man kann sich die Verhütungsmittel sparen, das kommt noch dazu. Du wirst es noch öfter hören. Es ist eine merkwürdige Geschichte, und wir erzählen sie gern.«

Sarah fragte Mary, was sie morgen, an ihrem ersten Tag in Forty Mile, unternehmen solle.

Mary lächelte eine Weile still vor sich hin. »Ich hatte mehrere erste Tage hier. Allein zu sein ist schon mal ein guter Anfang.«

Ihr fast weißes Haar fiel offen über eine Schulter, in lockeren Wellen. Das warme Licht der Leselampe wischte ihr die schärfsten Falten aus dem Gesicht. es war nicht schwer zu erkennen, wie schön sie als junge Frau gewesen sein musste.

Ihr Gespräch verlief ruhig, plätschernd; es war ein seltsames, aber vertrautes Zusammensein. Ab und zu entstand eine längere Stille, die nicht unangenehm war. Vancouver war wie eine andere Welt, und Sarah versuchte, sich zu erinnern, wann sie ihre Arbeit zuletzt so lange liegen gelassen hatte.

Der Rausch der Erschöpfung und des Weins flossen wie eine warme Decke zusammen. Sarah gähnte, streckte sich. Sie verabschiedete sich von Mary und ging nach oben.

Neben dem Fenster stand die Staffelei. Draußen, im Licht der Straßenlaterne gegenüber der Kneipe, ihr Auto. Sie zögerte kurz. Lüftete dann eine Ecke des Tuchs, das über der Staffelei hing. Sie schaltete das Licht ein. Es war eine kleine Arbeit. Eine dunkle Landschaft von Bergen und Wäldern, im Vordergrund eine Felsgruppe. Sarah kniff die Augen zusammen. Das Bild verwirrte sie. Auf den ersten Blick wirkte es roh und rasch hingeworfen, doch je länger sie hinschaute, desto mehr Details fielen ihr auf. Von kräftigen Pinselstrichen zu immer feineren Ansätzen. Von einer dicken Schicht undurchsichtiger Paste zu einer feinen Glasur. Vorn in der Felsgruppe lag der Körper eines Mannes. Nackt und gebrochen. Klein in der Landschaft, groß in dem Schmerz, den er hinausschrie. Das ganze Werk zeugte von ungeheurem Können und war doch seltsam unfertig.

Sie breitete das Tuch wieder darüber. Im Schrank fand sie die Bettwäsche, von der Mary gesprochen hatte. Im unteren Fach stand eine zugeklebte Pappschachtel. Wieder derselbe Name wie in dem Buch von Thor Heyerdahl. Marion Goodwin. Eine Adresse in Quebec. Briefmarken und Stempel, sicher jahrzehntealt. Ihre Finger griffen nach der Schachtel. Dann bezwang Sarah ihre Neugier und schloss die Schranktür wieder.

Morgens beim Aufwachen dauerte es eine Weile, bis sie begriff, wo das Knallen der Tür herkam. Der Laden.

Als sie angezogen war, ging sie nach unten. Mary, die gerade eine Frau bediente, rief ihr von der Theke aus guten Morgen zu. Sarah winkte und lief nach draußen, in die Kälte. Sie schulterte den Rucksack und ging los, durch die Hauptstraße, zum Zusammenfluss beider Flüsse. Sie stieg über die Böschung zum Wasser. Graue runde Steine und kantigerer Kies im Flussbett zu ihren Füßen. Das Flüsschen, das von Süden kam, war fast schon eisfrei, außer an den schmutzigen Uferrändern. Von dem breiten Strom, der von Osten nach Westen floss, erklang ein lauteres Rauschen. Massive, an die Ufer getriebene Eisbrocken rieben gegeneinander, ein Stück weiter prallten Schollen auf Eis, das wieder festgefroren war. Es wirbelte und sprudelte, schabte und schlug, das Wasser graubraun, weil es bis zum Grund aufgewühlt war. Unbegehbar, unbefahrbar – das brüllte der Fluss aus Eis und Stein und machte das Nordufer unerreichbar.

Sarah folgte dem Strom flussaufwärts bis zum östlichen Stadtrand; dort begann die Bergwand, die den Ort wie eine Hand umschloss und an den Winkel des Zusammenflusses drängte. Sarah musterte den Steilhang, suchte nach einem Weg zwischen den kleinen Tannen und Birken. Später. Erst wollte sie etwas essen.

In der Kneipe mischte sich der abgestandene Zigarettenrauch von gestern Abend mit dem Duft nach Kaffee und Eiern mit Speck. Der Vormittag war kaum angebrochen, doch hinten tranken vier ältere Männer schon Bier. Sarah setzte sich auf einen Hocker und begrüßte die Barfrau. Die umsorgte die Gäste, die sonst ihren Hunger weggetrunken hätten. Matronenhaft stapfte sie durch die Kneipe, mal mit Pfannen voller Eier und mit großen Brotbrocken, dann wieder mit Kaffee und perfekt gezapftem Bier.

Sarah frühstückte an der Theke. Zwei Kaffees später standen Adam und Jacob neben ihr. Sie wirkten noch etwas zerknautscht, lachten aber beide, als Jacob erzählte, Adam habe schon vor einer Stunde versucht, ihn aus dem Bett zu zerren, um wieder herzukommen.

»Molly hier hat er auch sehr gern, aber ihretwegen kriegt man ihn um diese Uhrzeit nicht aus den Federn.«

Jacob machte der Barfrau ein Zeichen. Diese warf den Männern einen kritischen Blick zu und drehte sich dann zu den hinter ihr aufgereihten Flaschen. Der Schuss Whisky, den sie ihnen in den Kaffee goss, wurde dankbar angenommen.

Sarah gratulierte ihnen zum Auftritt von gestern Abend.

Adam grinste. »Wenn du noch eine Weile dableibst, wirst du das öfter erleben.«

Als der Kaffee mit Schuss seine Wirkung tat, erwachten Adams und Jacobs Lebensgeister. June lief draußen vorbei und Jacob rief sie herein. Sarah beobachtete das Geplänkel zwischen den dreien. Dann wendete June sich an sie.

»Sarah, heute ist also dein erster Tag hier.«

Sarah erzählte, sie habe vor, die Bergwand hinaufzuklettern, um zu sehen, wie weit sie käme.

»Oder wir fahren dich einfach das erste Stück hoch, sonst brauchst du den ganzen Tag dafür. Oder?« June warf Adam und Jacob einen fragenden Blick zu, sie nickten. Es war Wochenende und sie hatten noch nichts vor.

Adam holte sein Auto, Jacob und June gingen rüber zu Mary, Proviant für unterwegs besorgen. Inzwischen wartete Sarah draußen vor der Kneipe.

Das Einsteigen in Adams Auto war chaotisch. Adam bat Sarah neben sich, June, Jacob und Muddy, Adams Labrador, quetschten sich auf die Rückbank. Der Motor startete, Jacob beugte sich zwischen Adam und Sarah hindurch nach vorn und schaltete das Kassettendeck ein. Die Musik setzte mitten in einem Stück ein. Sie sausten aus Forty Mile heraus, hörten laut dröhnend und mit offenen Fenstern Flatt & Scruggs. Muddy versuchte ständig, nach vorne zu krabbeln, und wurde mit Geschubse und Befehlen zurückgedrängt. Um elf Uhr morgens gingen auf der Rückbank die ersten Bierdosen zischend auf.

Sarah lehnte sich zur Seite, Wind im Haar, die kühle Bierdose in der Hand. Sie schaute nach draußen. Tief in ihrem Bauch hatte sie ein Tauwettergefühl. Dann erschien ein neues Bild vor ihrem inneren Auge. Eine leere Werkbank. Was, wenn sie einfach aufhörte? Wenn sie, statt das Angebot anzunehmen oder auszuschlagen, einfach keinen Schmuck mehr entwarf. Wenn sie sich eine andere Arbeit suchte? Eine normale Arbeit, die nicht an ihr zehrte und sie auffraß? Seit zehn Jahren war sie als Designerin zunehmend erfolgreich geworden, und in dieser Zeit hatte sie den Boden unter den Füßen verloren. Immer mehr Freunde waren weggefallen, immer weniger Menschen, die ihr nahe waren, ihr noch blieben. Ann war geblieben, die schon. Aber auch sie warf ihr vor, kalt zu sein. Blind für andere. Nur für ihre Arbeit zu leben.

Sie schloss die Augen, roch Diesel, Zigaretten, Bier, den Moschusduft ungewaschener Männer und den Schlamm an ihren Schuhen. Was auch immer hier gerade geschah, es war genau das, was sie gebraucht hatte.

Norden

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