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2. Dodge

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Das Sonnenlicht an der Wand zeigte Sarah, dass es schon weit nach zehn Uhr sein musste. Sie hatte Kopfschmerzen und ihr war übel vom Nachgeschmack zu vieler Zigaretten. Sie stieg aus dem Bett, stellte sich unter die Dusche.

Das Motel lag an der Autobahn und ihr Zimmer blickte auf die Ebene. Die letzten schmutzigen Schneereste weigerten sich hartnäckig, zu schmelzen. Ihre Stirn lag an der Scheibe, die dunklen Locken fielen ihr wie nasse Pinsel auf die Schultern. In der Ferne konnte sie die Berge des Nordens sehen. Unruhe grummelte in ihrem Bauch.

Sie kniete sich neben ihren Rucksack, holte einen Waschbeutel aus dem vorderen Fach und kramte eine Weile darin herum. Schließlich wählte sie drei ältere Stücke. Ring und Armband, zum Armband passende Ohrringe. Den Schmuck vom Vortag nahm sie vom Nachttisch und verwahrte ihn. Dann wühlte sie zwischen den zusammengeknüllten Klamotten nach Unterwäsche, die noch frisch aussah, und zog saubere Kleidung darüber.

Als sie alle ihre Sachen wieder im Rucksack verstaut hatte, kam sie in die Lobby. Auch dort war alles sauber, aber alt und verschlissen, wie überall im Motel. Der Geruch nach vergangenen Jahrzehnten hing im Teppichboden, in der verstaubten Tapete und der Holzverkleidung. Es war das letzte Motel vor Forty Mile. Bald würde der Highway 37 in den Klondike Highway übergehen, die letzte Gerade in Richtung Norden. Noch dreihundert Meilen, dann war sie da. Einen Tag Fahrt, etwa sechs Stunden.

Bis spätabends hatte sie ein Stück weiter in einem Blueslokal an der Theke gesessen und die vorletzte Etappe ihres Roadtrips gefeiert. Ein Lokal wie viele andere, die sie unterwegs besucht hatte. Aber hier war das Publikum rauer, die Musik besser. Nach einer Weile setzte sich ein älterer Mann neben sie. Eine Mütze auf dem Kopf, um seine Glatze zu verbergen, mit Bart und einem eindrucksvollen Bauch. Alles andere als nüchtern, aber friedlich. Einen Ellbogen auf der Theke, ihr Bier vor sich, nickten sie sich zu.

»Nicht so redselig, was?«

Er war weniger begriffsstutzig, als sie gedacht hatte.

Als Thekennachbar war er die ideale Gesellschaft für einen Abend allein. Sie redeten mit langen Zwischenpausen. Über das Leben, die Straße und den Norden. Alles und nichts. Er bestätigte ihre Vermutung: dass sie sich den richtigen Ort ausgesucht hatte, um nachzudenken. Gute Leute. Raubeinig, aber gut.

Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sie sich voneinander. Nach einer Woche unterwegs war der Mann an der Theke der Erste, mit dem sie ein paar Worte gewechselt hatte, und er hatte nicht mal nach ihrem Namen gefragt.

Sarah zahlte für Übernachtung und Frühstück. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Mit dem Rucksack über der Schulter ging sie zu ihrem Auto. Der olivgrüne Lack war unter der Schicht Schlamm und Schmutz kaum mehr zu erkennen.

Der Ledersitz war noch eiskalt von der Nacht. Auf der Rückbank das Schlachtfeld einer Woche auf der Straße, von Vancouver bis hierher. Jetzt noch der letzte Tag, dann war sie am Ziel. Noch dreihundert Meilen, dann kam sie zur einzigen und letzten Stadt nördlich von allem.

Sie befolgte ein mittlerweile festes Ritual, schnallte sich an, faltete die Landkarte an der richtigen Stelle auf, öffnete ihren Kassettenkoffer und fuhr mit den Fingern über die Hüllen. Den Höhenlinien und der Farbe der Karte nach zu urteilen, erwarteten sie heute die unterschiedlichsten Landschaften. Flachland, Wälder, niedrige Berge und Fernblicke. Gewundene Flüsse. Nur zwei Brücken.

In ihrer Gewohnheit, den Landschaften bestimmte Musikrichtungen zuzuteilen, hatte sie noch keine Gesetzmäßigkeit entdeckt. Aber es gab Konstanten. Berge vertrugen sich gut mit Punk, Täler und Flachland eher mit New Wave. Ihre Stimmung war während der ganzen Fahrt gleich geblieben: die eines Menschen, der sich mit aller Macht um eine anstehende Entscheidung drückt. Weg und Ziel waren eins.

Sie zweifelte. Wählte dann doch Punk. Hardcore. Erst Blackflag, dann NoMeansNo, danach Minor Threat. Sie legte die Kassetten in der richtigen Reihenfolge hin und ließ den Motor an. Bis zur letzten und einzigen Tankstelle vor Forty Mile bräuchte sie einen halben Tag. Im Kofferraum hatte sie zwei volle Benzinkanister. Der schlimmste Frost war vorbei, sie brauchte nicht mehr zu befürchten, dass der Motor streikte.

Die Straße schlängelte sich durch den Wald, führte manchmal ein paar Meilen geradeaus, bog vor einem gewundenen Fluss ab, folgte erst seinem Lauf und wich dann einem Bergkamm aus. Je weiter der Tag voranschritt, desto schneller fuhr sie. Hier bahnte sich der Frühling gerade erst seinen Weg durch den Schnee. Die Tundra lag vor ihr wie ein bizarres Schachbrett aus weißem Schnee und braunem Gras. Die Birkenwälder waren noch kahl. Zierliche weiße Stämme, geklöppelte braune Zweige drum herum.

Außer ein paar Trucks gehörte die Straße nach Norden ihr allein. Der ganze Norden gehörte ihr allein. Ihre Finger trommelten auf den Lenker, ihr Kopf nickte im Takt des synkopierten Geschreis des Sängers.

Hin und wieder zwang sie sich, an den Brief und das Angebot zu denken, an die Entscheidung, die zu Hause auf sie wartete. Sie legte die Möglichkeiten nebeneinander. Es gelang ihr nicht, hartnäckige Hintergedanken zu verdrängen. Doch die Landschaft rief, und bald ließ sie den Blick wieder über das Flachland und die Berge schweifen.

Vier Stunden später war das Frühstück verdaut und ihr Magen knurrte wieder.

Ein Truck stand an der Tankstelle. Sarah blieb im Auto sitzen, bis der Fahrer zurückkam, einstieg und davonfuhr. Dann tankte sie und ging ins Gebäude. Es roch süß, nach Kuchen. Altem Kaffee. Motoröl und Pisse. Schon beim Aussteigen hatte der Tankstellenbesitzer sie vom Fenster aus beobachtet. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen.

»Allein unterwegs?«

Sarah sah ihn an. Schäbig, dickbäuchig und in einem schmuddeligen Blaumann. Sie nickte und fragte, ob es eine Toilette gebe. Grinsend deutete er mit dem Kinn in die hintere Ecke.

»Mach dich auf was gefasst, Miss.«

Das Klo war schmutzig und stank, doch es kam gelegen.

Zurück in der Tankstelle, ließ sie sich Zeit. Sie nahm noch etwas Wasser, Schokolade, Dörrfleisch und Rosinen, trödelte vor dem Presseregal. Fernsehzeitschriften, zwei Zeitungen und viele Sexheftchen. Eine Vogue von vergangenem Jahr. Sie legte den Kopf schief, zögerte. Schaute zu dem Mann hinterm Schalter. Er beobachtete sie immer noch. Einen Moment lang war es ihr peinlich, dann riss sie sich zusammen. Sie legte die Dinge, die sie gerade aus den Regalen genommen hatte, auf die Theke, griff nach dem Magazin und blätterte darin, bis sie die Werbung der Schmuckfirma gefunden hatte. Eine Doppelseite, ziemlich weit vorne.

Sie seufzte.

Die Marke stand in Großbuchstaben darüber, im Übrigen sollte man anscheinend nur auf das Model achten. Das rekelte sich nackt auf einem Bett, halb unter einer Pelzdecke, mit schwülstigem Blick. Das Schmuckdesign fand sie nicht schlecht. Aber wie immer waren die Edelsteine zu protzig. Sie musste lange suchen, bis sie den Namen des Designers fand. Ganz unten rechts auf der Seite, in kleinen Lettern.

Aha.

War es das, was sie wollte?

Sie seufzte erneut und legte das Magazin zurück ins Regal. Bei der Kasse fragte sie, ob sie einen Kaffee bekommen könnte.

»Aber sicher.« Der Mann nahm einen Becher aus dem Regal hinter sich und schenkte ihr Kaffee aus der großen Thermoskanne auf der Ladentheke ein.

»Schickes Auto, Miss. Wo kommst du her?«

»Vancouver.«

Der Mann legte den Kopf in den Nacken, musterte sie. Schaute wieder zum Auto. Er hielt die Zuckerdose hoch, sie schüttelte den Kopf.

»Wie viele Tage?«

»Mit heute eine Woche.«

»Schicke Karre. Von deinem Alten bekommen?«

»Gekauft. Wollte ich schon immer haben.«

Der Mann schaute nochmals zum Auto. »Wie hat es sich in den Rockies gemacht?«

»Prima. Ist gut hochgekommen. Herrlich in den Kurven. Wie ist der Rest der Strecke?«

Der Mann kratzte sich den Nacken. »Geht so. Mach dich auf ein paar Kratzer gefasst. Nur noch ein paar Meilen, dann ist der Asphalt zu Ende. Permafrost. Alles Harte macht der Frost sowieso kaputt. Gute Straße, aber Schotter. Schade um den Lack. Zweihundertneunzig PS?«

»Dreihundertdreißig. Es ist der Vierzylinder.«

»Hmm. So schöne Autos sieht man hier selten.«

Sie trank den Kaffee aus, zahlte und verabschiedete sich.

Als sie bei der Tür war, rief er ihr noch etwas hinterher.

»Vorsicht in der Dämmerung, Miss, du willst keinen Elch auf der Windschutzscheibe!«

Sarah legte ihren Einkauf ordentlich auf den Beifahrersitz und hupte zum Abschied. Im Rückspiegel sah sie den Mann in der Tür stehen. Er hob die Hand.

Noch hundert Meilen.

Norden

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