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Keine Anleitung zum Erwachsensein

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Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie das erste Mal das Gefühl hatten: »Jetzt bin ich wirklich erwachsen!«? Passierte es nach dem ersten nicht jugendfreien Kuss? Nachdem der erste Rausch dazu geführt hatte, dass Sie am Morgen danach über der Kloschüssel hingen? Nach dem ersten verzehrenden Liebeskummer, den Sie nicht zu überleben glaubten? Oder nachdem Sie mit dem ersten Lohn auf den Putz gehauen hatten? Oder brauchte es länger, bis sich dieses ersehnte Gefühl einstellte? Nachdem Sie Ihrer/Ihrem Liebsten das Jawort gegeben hatten? Nachdem Sie zum ersten Mal Eltern geworden sind und Ihnen schlagartig klar wurde, dass Sie jetzt nicht mehr nur für sich selber verantwortlich sind? Oder nach dem Tod eines Elternteils, als Ihnen klar wurde, dass Sie jetzt vielleicht der/die Nächste sind?

Seit ich mich erinnern kann, wollte ich erwachsen sein. Denn ich dachte, Erwachsensein sei gleichbedeutend mit der Freiheit, das tun und lassen zu können, was ich wollte. Und nicht, was Eltern, Lehrer oder sonstige Autoritätspersonen von mir verlangten. Wenn ich nur das Wort Autorität hörte, bekam ich Gänsehaut. Und, ehrlich gesagt, geht es mir noch immer hin und wieder so. Was beweist, dass ich auch heute durchaus noch unerwachsene Momente habe.

In guten Zeiten spüre ich dies, wenn mich Gefühle überwältigen und ich die ganze Welt umarmen oder vor Sehnsucht platzen könnte. Dann, wenn ich mich mit jeder Faser meines Körpers und meiner Seele lebendig fühle. Und ich, trotz meinem Alter, überzeugt bin, mein Leben und meine Zukunft würden wie ein weißes Blatt vor mir liegen.

Schmerzhafter sind die Augenblicke, in denen ich an frühere schwierige Zeiten erinnert werde. Dieses »Triggern« macht, dass man ein altes Erlebnis oder Gefühl so spürt, als handle es sich um ein aktuelles Ereignis. Wenn ich mich etwa in einer fremden Umgebung verlaufe, kann es sein, dass ich mich plötzlich genauso elend fühle wie damals, als ich als kleines Mädchen meine Mutter beim Einkaufen verloren hatte. Eine ungerechte Kritik kann die Überzeugung auslösen, ich sei »dumm«, so wie mich mein Mathelehrer genannt hatte, als ich es an der Tafel nicht schaffte, eine schwierige Gleichung zu lösen. Und der Geruch von frischer Leber dreht mir noch heute den Magen um, weil ich diese früher wegen meiner Blutarmut essen musste.

Ja, ich bin heute erwachsen. Jedenfalls für mein Umfeld. Ich erledige meine Pflichten, übernehme Verantwortung für mich und andere, zahle meine Steuern und fühle mich nicht jedes Mal, wenn ich einen Polizisten sehe, als ob ich etwas ausgefressen hätte. Aber ich freue mich darüber, dass es immer noch viele Momente in meinem Leben gibt, in denen ich mich nicht erwachsen fühle. Auch wenn es ein bisschen wehtut, wenn ich mich dann manchmal nicht nur wunderbar, verrückt oder kindisch, sondern auch verlassen, ungeliebt oder dumm fühle.

Aber hey, das ist doch Leben!

Sind denn alle guten Männer schon vergeben?

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