Читать книгу Am hellichten Tag - Simone van der Vlugt - Страница 10
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ОглавлениеBis zu ihrem zwölften Lebensjahr verstand sich Nathalie gut mit ihrem Vater. Er war so voller Energie und Optimismus, ein typischer Selfmademan. Er hatte es zu etwas gebracht, obwohl er aus einem der ärmeren Viertel Roermonds stammte. Als junger Mann hatte er eine Autowerkstatt aufgemacht und damit recht gut verdient. Später spekulierte er mit Immobilien, und weil er sich geschickt anstellte, brachte ihm das ein Vermögen ein.
Er konnte sich eine Villa im Nobelviertel Kitskensdal leisten und heiratete eine bildschöne Frau, mit der er drei Kinder bekam: zwei Töchter und einen Sohn.
Nathalie war zehn und Cécile sechzehn, als ihre heile Welt zusammenbrach.
Ihre Mutter und der kleine Bruder, ein ungeplanter Nachkömmling, kamen bei einem Autounfall ums Leben. Aus ihrem Vater, der bisher immer gesellig und gut gelaunt gewesen war, wurde ein in sich gekehrter, mürrischer Mann. Zu allem Übel musste er auch noch harte geschäftliche Rückschläge einstecken. Er war gezwungen, die Villa zu verkaufen, und sie zogen in ein einfaches Reihenhaus.
Das gab ihm offenbar den Rest, denn nun veränderte sich sein Wesen vollends. Er trank zu viel, bekam wegen der kleinsten Kleinigkeit Wutanfälle und prügelte. Cécile musste als Sündenbock für alles herhalten. Sie war fünfeinhalb Jahre älter als Nathalie, mitten in der Pubertät und aufmüpfiger als ihre Schwester. Nicht selten bekam Nathalie mit, wie sich der Vater mit roher Gewalt Zugang zu Céciles Zimmer verschaffte, wenn sie sich nach einem heftigen Streit eingeschlossen hatte.
In solchen Situationen versteckte sie sich hinter dem Vorhang in ihrem Zimmer und hielt sich die Ohren zu, um die Schläge und Céciles lautes Weinen nicht zu hören.
Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zog Cécile aus und ließ sich so gut wie nicht mehr zu Hause blicken.
»Zum Glück hab ich dich noch«, sagte der Vater. »Versprich mir, dass du nie so wirst wie deine Schwester!«
Nathalie versprach es und meinte es durchaus ernst. Nie würde sie es wagen, ihren Vater so anzuschreien wie Cécile, geschweige denn, sich gegen seine Schläge zu wehren. Dass man mit einem solchen Verhalten alles nur noch schlimmer macht, hatte sie zur Genüge mitbekommen. Sie nahm sich fest vor, ihm nicht den geringsten Anlass zu geben, sie zu schlagen.
Zunächst deutete auch nichts darauf hin. Nathalie war der erklärte Liebling ihres Vaters.
»Dass ich dich habe, ist wie ein Geschenk«, sagte er. »Du bist meine kleine Prinzessin.«
Als ausgesprochen hübsches Kind mit dunklen Locken und braunen Augen hatte Nathalie von jeher alle bezaubert, und ihr Vater wurde nicht müde, das immer wieder zu erwähnen. »Du bist so ein liebes Mädchen und hast deiner Mutter und mir immer nur Freude gemacht«, sagte er. »Warum spielst du eigentlich nicht mehr Geige wie früher? Hol sie doch mal und lass was hören!«
Als Nathalie dreizehn wurde, hatte sie nur noch wenig Lust, auf Kommando Geige zu spielen, bloß damit ihr Vater keinen Wutanfall bekam.
Sie war ihren Klassenkameradinnen in der Entwicklung voraus, hatte bereits ihre Tage, bekam einen Busen, begann sich zu schminken und für Jungs zu interessieren. Gleichzeitig merkte sie deutlich, dass ihr Vater Probleme damit hatte.
Also kleidete sich Nathalie so, dass ihre weiblichen Formen nicht auffielen, und tat, als stünde sie noch auf Zoobesuche oder eine Partie »Mensch ärgere dich nicht«.
War sie im Badezimmer, traute sie sich nicht, sich einzuschließen, zog sich jedoch in Windeseile an, wenn sie den Vater die Treppe heraufkommen hörte. Er kam zwar nicht absichtlich ins Bad, wenn sie gerade duschte, fand aber, sie solle sich nicht so anstellen, wenn er sich mal kurz die Hände waschen oder rasieren wollte.
Abends vor dem Fernseher zog er sie an sich, genau wie früher. Und obwohl ihr das unangenehm war, protestierte sie nie. Er erklärte ihr Zusammenhänge in den Nachrichten und übersetzte die Gags aus englischsprachigen Sitcoms, dabei konnte Nathalie damals schon ziemlich gut Englisch. Ein einziges Mal beging sie den Fehler, ihn zu korrigieren, und zog sich damit seinen Zorn zu. Er geriet so außer sich, dass er ihr eine Ohrfeige gab, die erste von vielen.
Nathalie wurde klar, dass nicht nur ihre körperliche Entwicklung den Vater irritierte. Er tat sich generell schwer damit, wenn etwas sich seiner Kontrolle entzog. Der Tod seiner Frau und seines Sohns, die finanziellen Einbußen und zwei heranwachsende Töchter, die ihn mit jedem Jahr weniger brauchten – er hatte wohl das Gefühl, alles entgleite ihm.
Und damit, dass Nathalie, sein ganzer Stolz, erwachsen wurde, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, kam er schon gar nicht zurecht.
Niemand merkte etwas, weder die Klassenkameraden noch die Lehrer. Die Freundinnen ihres Vaters ahnten es bestimmt, aber keine von ihnen kam ihr zu Hilfe, und wenn die Beziehung vorbei war, sah Nathalie sie nie wieder. Auch den Nachbarn dürften die lautstarken Zornausbrüche ihres Vaters nicht verborgen geblieben sein, doch keiner sprach sie je darauf an. Cécile studierte inzwischen in Amsterdam und rief nur alle paar Monate einmal an. Aber da sie weit weg wohnte und ohnehin nichts für sie tun konnte, antwortete Nathalie nur ausweichend auf ihre Fragen.
Wenn der Vater sie schlug, achtete er perfiderweise darauf, dass die Spuren nicht auffielen. Die blauen Flecken am Körper konnte Nathalie mühelos unter der Kleidung verbergen, die seelischen Wunden waren ohnehin unsichtbar.
Im Nachhinein versteht sie selbst nicht, warum sie sich nie jemandem anvertraut hat. Wahrscheinlich aus Scham. Oder weil ihr Vater sich jedes Mal, wenn er sie geschlagen hatte, wortreich dafür entschuldigte und danach eine gute Woche besonders nett und liebevoll war. In diesen Phasen war die Welt wieder in Ordnung, und trotz allem liebte Nathalie ihren Vater, zumal sie ja nur ihn hatte. Sie gab sich alle Mühe, nichts zu tun, was ihn aufregte und dazu brachte, seine andere Seite zu zeigen. Aber es nützte wenig, er schlug immer wieder zu.