Читать книгу Am hellichten Tag - Simone van der Vlugt - Страница 6
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ОглавлениеDüsseldorf liegt bereits hinter ihr, als sie eine Raststätte ansteuert. Robbie ist aufgewacht und hat angefangen zu quengeln. Er muss etwas essen, also ist sie gezwungen, eine Pause einzulegen. Sie selbst hat auch Hunger. Außerdem ist sie müde von der langen Fahrt, die Glieder sind steif, und der Rücken schmerzt.
Nathalie fährt zur Tankstelle, hält neben einer Zapfsäule und tankt voll. Beim Zahlen nimmt sie noch rasch eine Flasche Mineralwasser und eine Tüte Paprikachips aus dem Regal. Zurück im Auto, schreit Robbie wie am Spieß; sie versucht vergeblich, ihn zu beruhigen. Langsam fährt sie weiter zum Parkplatz. Mit einer Hand öffnet sie die Heckklappe, legt Robbie in den Kofferraum und wechselt routiniert die Windel.
Ihr Blick bleibt an dem grauen Plastiksack hängen. Sie muss ihn unbedingt loswerden. Neben der Tankstelle hat sie einen Müllcontainer gesehen. Vielleicht kann sie den Sack nachher hineinwerfen, wenn weniger Leute unterwegs sind. Aber es ist Ferienzeit, und auf der Raststätte herrscht Hochbetrieb.
Sie nimmt die Reisetasche vom Rücksitz und geht mit Robbie zu einer Picknickbank. Dort versucht sie, ihm ein paar Löffel Gemüsebrei einzuflößen. Er scheint ihm nicht zu schmecken, ebenso wenig wie die kalt angerührte Milch aus der Nuckelflasche. Nachdem er eine Weile laut protestiert hat, findet er sich mit der dürftigen Kost ab. Er isst das ganze Gläschen leer und saugt dann so gierig am Fläschchen, als wäre er am Verdursten.
»Langsam, mein Schatz!«, mahnt Nathalie. Fasziniert sieht sie ihm beim Trinken zu. Als sie plötzlich jemand von der Seite anspricht, erschreckt sie sich fast zu Tode.
»Sie haben anscheinend keinen Autositz für das Kind?«
Es dauert einen Moment, bis ihr klar wird, dass sie von der Landsmännin neben ihr nichts zu befürchten hat.
»Ich habe gesehen, wie Sie Ihr Baby vorhin aus dem Auto genommen haben. Hat es etwa auf dem Beifahrersitz gelegen? Sie wissen hoffentlich, wie gefährlich das ist! Wenn Sie plötzlich scharf bremsen müssen, fällt das Kind runter oder fliegt womöglich gegen die Windschutzscheibe.« Ihr missbilligender Tonfall ist nicht zu überhören. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, was mich das überhaupt angeht, aber ich kann so etwas einfach nicht mit ansehen. Ich habe drei Enkelkinder, und mein Schwiegersohn hat sie auch immer ohne Kindersitz im Auto mitgenommen. Bis er einen Unfall hatte. Zum Glück sind die Kinder mit ein paar blauen Flecken davongekommen, aber genauso gut hätten sie ...«
»Ja«, sagt Nathalie schnell. »Sie haben völlig recht. Vielen Dank.«
Die Frau wirkt unschlüssig, ob sie gekränkt sein soll, weil Nathalie ihr ins Wort gefallen ist, oder zufrieden, weil sie ihr beigepflichtet hat. Sie holt Luft, um noch etwas zu sagen, aber Nathalie schenkt ihr ein entwaffnendes Lächeln. »Ich kaufe noch heute einen Kindersitz, versprochen!«
»Mir geht es nur um das Kind«, sagt die Frau im Gehen. »Denn am Ende sind immer die Kinder die Leidtragenden.«
Nathalie lächelt ihr noch einmal zu.
»Blöde Kuh«, murmelt sie dann, während sie Robbie das Gesicht abwischt.
Nathalie kann solche Besserwisserinnen nicht ausstehen. Außerdem wird sich diese Frau garantiert an sie erinnern, wenn nach ihr gefahndet wird. Mehr noch, sie wird sogar noch wissen, an welcher Raststätte sie sie gesehen hat.
Nathalie seufzt laut. Den Müllsack wird sie lieber woanders wegwerfen.
Eine halbe Stunde später ist sie wieder auf der Autobahn. Robbie liegt auf seiner Decke am Boden und spielt mit einem Frotteeteddy.
Nathalie nimmt sich vor, bei der ersten Gelegenheit einen Kindersitz zu kaufen. Auf keinen Fall darf sie erneut auffallen. Beim nächsten Mal ist es womöglich ein Polizist, der sie auf das Baby anspricht.
Kurz vor Köln fällt ihr ein grellbuntes Plakat am Straßenrand auf, das für ein Einkaufszentrum wirbt. Sie nimmt die Ausfahrt und folgt den Hinweisschildern.
Gleich neben dem Supermarktkomplex steht ein blaues Gebäude mit der Aufschrift BABYLAND.
Nach einer knappen Stunde steht Nathalie an der Kasse. Ihre Einkäufe – Babyspielzeug, eine Packung Wegwerfwindeln, ein Reisebett, ein Buggy und ein Maxi-Cosi – bezahlt sie bar.
Auf dem Weg zum Auto fällt ihr Blick auf einen Müllcontainer am Rand des Parkplatzes.
Sie wirft den Plastiksack hinein.
Minuten später ist sie wieder auf der Autobahn.
Inzwischen weiß sie, wohin sie will: ins Ferienhaus ihrer Eltern in Italien. Sie war jahrelang nicht mehr dort, aber die Adresse kennt sie auswendig, also dürfte es mit dem Navi kein Problem sein, dorthin zu kommen. Irgendwann wird die Polizei das mit dem Ferienhaus sicherlich herausfinden, aber mit etwas Glück dauert das noch eine Weile.
Auf den Schildern über der Autobahn ist jetzt Frankfurt angeschrieben. Die Strecke führt an Feldern mit hoch stehendem Mais vorbei. Die eintönige Landschaft wirkt wie hypnotisierend, und allmählich kommt Nathalie zur Ruhe.
Die Stimme aus dem Navi holt sie wieder in die Wirklichkeit zurück, fordert sie vor einem Autobahnkreuz auf, sich rechtzeitig einzuordnen.
Robbie ist nach dem Abstecher ins BABYLAND in seinem neuen Kindersitz eingeschlafen. Nathalie dagegen fühlt sich noch kein bisschen müde. Notfalls kann sie die ganze Nacht durchfahren. Mit jedem Kilometer, den das Auto zurücklegt, entfernt sie sich weiter von Vincent.
Vielleicht ist die Polizei inzwischen schon im Haus, sichert Spuren und findet auch ihre Fingerabdrücke. Sie sind zwar nicht registriert, aber es gibt genug Leute, die wissen, dass Vincent und sie ein Paar waren.
Bestimmt wird man rasch ihren Namen herausbekommen. Sie nimmt sich vor, die niederländischen Nachrichten abends im Internet zu recherchieren. Die meisten Hotels bieten ja einen WLAN-Zugang an, notfalls geht sie in ein Internetcafé.
Nathalies Handy klingelt, und sie zuckt zusammen. Als sich die Freisprechanlage zuschaltet, geht das schrille Läuten in ein dezentes Summen über.
Ungläubig starrt sie auf das Display: VINCENT.
Im nächsten Moment erfasst sie Panik, und sie gerät mit dem Auto ins Schleudern.
Das ist vollkommen unmöglich! Das kann nicht sein!
Vincent ist tot – sie hat doch die heftig blutende Kopfwunde gesehen!
Jemand muss sie mit seinem Handy anrufen. Bestimmt die Polizei. Man hat ihn also gefunden und sucht bereits nach ihr!
Die Freisprechanlage summt unbeirrt weiter.
Nathalie drückt die rote Taste, und das Gerät verstummt. Gleich darauf schaltet sie auch ihr Handy aus.