Читать книгу Am hellichten Tag - Simone van der Vlugt - Страница 14

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Drei, vier Stunden, mehr Schlaf ist nicht drin. Obwohl Nathalie hundemüde ist, fährt sie beim kleinsten Geräusch hoch und liegt anschließend lange wach. Sie hat einmal gehört, dass sterbende Menschen ihr Leben wie einen Film an sich vorüberziehen sehen. Ganz ähnlich ergeht es ihr in dieser Nacht. Jedes Mal, wenn sie kurz eindämmert, stürmen Bilder auf sie ein. Bilder, die sie bis ins Innerste aufwühlen, sodass sie beim Wachwerden völlig desorientiert ist.

Sie dreht den Kopf zur Seite. Robbie liegt neben ihr in tiefem Schlummer. Hin und wieder schmatzt er leise.

Seltsamerweise wirkt sein Anblick beruhigend auf Nathalie, dabei müsste sie sich eigentlich Sorgen um das Kind machen, statt Trost aus seiner Anwesenheit zu ziehen.

Sie döst wieder ein, wird jedoch bald darauf abrupt aus dem Schlaf gerissen, weil Robbie jämmerlich zu schreien beginnt.

Sie nimmt das Baby in den Arm und flüstert ihm Koseworte ins Ohr. Tatsächlich wird der Kleine ruhiger, fängt aber sofort wieder zu quengeln an, als sie ihn ablegt.

Seufzend steht Nathalie auf, um seine Windel zu wechseln. Dann setzt sie ihn in den Buggy und gibt ihm seinen Frotteeteddy, den er jedoch auf den Boden wirft. Er macht seinen Körper steif, schreit lauthals, und sein Köpfchen läuft rot an.

Hastig bereitet sie im Badezimmer eine Mahlzeit für ihn zu. Sie gibt Milchpulver in das Fläschchen, dazu Wasser, dann schüttelt sie das Ganze und stellt es in den Babykostwärmer.

Kaum ist die Milch einigermaßen warm, eilt sie damit zu dem schreienden Robbie.

Zu Hause hat sie festgestellt, dass er schon allein trinken kann, wenn sie ein zusammengerolltes Handtuch unter die Flasche legt. Als er zu nuckeln begonnen hat, schaltet sie ihr Handy an. Ungeduldig fixiert sie das Display und wartet auf die Einschaltmelodie.

Fünf Anrufe werden angezeigt, alle von Vincent. Sekundenlang ist Nathalie wie vor den Kopf geschlagen.

Könnte es sein, dass nicht die Polizei angerufen hat, sondern tatsächlich Vincent selbst? Hat er überlebt?

Nervös beißt sie sich auf die Unterlippe und ruft die letzte Nachricht ab. Als sie die Stimme hört, ist alle Hoffnung dahin: »Nathalie, ich bin’s. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, jedenfalls hast du verdammtes Glück, dass ich noch lebe. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du so einfach davonkommst.« Die Stimme schweigt für ein paar Sekunden. »Nico hat sich um meine Kopfverletzung gekümmert. Sei froh, dass ich dich gestern nicht erwischt habe, sonst hättest du dein blaues Wunder erlebt. Aber inzwischen hab ich mich wieder eingekriegt. Wir müssen reden, Nathalie. Ich weiß, dass du in Frankfurt bist. Ich bin im gleichen Hotel abgestiegen und warte morgen im Frühstücksraum auf dich. Bis dann.«

Nathalie wird schwindlig vor Angst. Das Telefon in der Hand, lässt sie sich auf die Bettkante sinken. Vincent ist hier, mit ihr unter einem Dach! Sie zweifelt keinen Moment daran, dass es stimmt. Er hat sie gefunden, wahrscheinlich mithilfe irgendeines Peilsenders am Auto. Das wäre typisch für ihn. Er muss immer alles unter Kontrolle haben. Nicht zuletzt deshalb hat sie schon mehrmals versucht, ihn zu verlassen.

Diesmal aber ist sie fest entschlossen, sich nie mehr schlagen und herumkommandieren zulassen. Nicht von Vincent und auch von sonst niemandem mehr. Sie ist erwachsen und kommt allein zurecht. Zu Vincent zurückzukehren kommt für sie nicht infrage, sonst wäre sie, nach allem, was passiert ist, so gut wie tot. Sie kennt seine Sprüche. Im Frühstücksraum, vor den anderen Hotelgästen, würde er sich nachsichtig geben, aber sobald sie allein wären, müsste sie büßen – wie, das will sie sich gar nicht erst vorstellen.

Bleibt also nur die Flucht. Aber falls er sie doch irgendwann zu fassen kriegt, hat sie ein Riesenproblem ...

Kalte Schauder laufen ihr über den Rücken, Panik steigt auf.

Dann reißt sie sich zusammen und zwingt sich zu handeln. Hastig zieht sie sich an und packt ihre Sachen.

Robbie, der zufrieden an seinem Fläschchen nuckelt, folgt ihr mit den Augen.

Um halb sechs ist sie so weit. Der Kleine ist satt, und das wenige Gepäck, das sie mit aufs Zimmer genommen hat, steht an der Tür.

Frühstücken kann man zwischen sieben und elf, hat sie im Prospekt gelesen. Vincent kann warten, bis er schwarz wird – sie hat ihm nichts mehr zu sagen.

Rasch prüft sie, ob sie auch nichts vergessen hat, dann hängt sie das Gepäck an die Griffe des Buggys und schiebt ihn in den Flur. Kurz darauf drückt sie im Lift den Knopf fürs Erdgeschoss.

Dass Vincent nicht der Märchenprinz ist, für den sie ihn anfangs hielt, hat sie schon relativ bald gemerkt. Nachdem sie Knall auf Fall zu ihm gezogen war, kam sie vom Regen in die Traufe. Und er versuchte gar nicht erst, vor ihr zu verbergen, womit er sein Geld verdient.

Ab seinem siebzehnten Lebensjahr schlug er sich als Kleinkrimineller durch. Später beging er Einbrüche, auch im Auftrag für einen Anteil an der Beute, und organisierte Drogentransporte. So machte er sich im Milieu einen Namen und galt bald als einer der ganz schweren Jungs.

Zu Anfang hatte Nathalie kein Problem damit, dass Vincent auf illegale Weise seinen Lebensunterhalt bestreitet. Dass er anderen damit schadet, war ihr ziemlich egal, zumal sie sich selbst stets von ihren Mitmenschen im Stich gelassen fühlte. Nur bei Vincent wusste sie, dass er zu ihr halten würde, deshalb nahm sie den Preis dafür in Kauf.

Als sie herausfand, dass er noch viel üblere Dinge verübte als Einbrüche und Erpressungen, war sie bereits hoffnungslos in seine Machenschaften verstrickt. Sie war entsetzt, dass er auch vor Mord nicht zurückschreckte, und verweigerte ihm ihre Unterstützung, was Vincent mit Schlägen quittierte. Weil sie keinen Ausweg aus ihrem Dilemma sah, ließ sie zu, dass er sie mit falschen Papieren ausstattete, und tat alles, was er ihr auftrug. Mitmachen schien ihr weniger riskant zu sein, als sich zu verweigern oder die Polizei einzuschalten. Bis gestern Morgen, als er sich auf Robbie stürzte. Sie wollte unter allen Umständen verhindern, dass er sich an dem unschuldigen Kind vergriff, und handelte aus einem mütterlichen Reflex heraus.

Frankfurt, Mannheim, Karlsruhe ... Unter höchster Anspannung fährt Nathalie in Richtung Süden. Sollte sich tatsächlich irgendwo ein Peilsender am Auto befinden, ist Vincent mit Sicherheit schon wieder hinter ihr her. Vorausgesetzt, er ist früh aufgestanden ...

Es macht sie hypernervös, dass sie keine Ahnung hat, wie weit er von ihr entfernt ist. Sie hätte lieber ein Taxi zum Bahnhof nehmen und ihre Flucht per Zug fortsetzen sollen, aber an diese Möglichkeit hat sie in ihrem aufgelösten Zustand nicht gedacht. Sie kann es immer noch tun, das heißt, sobald sie sicher weiß, dass der Sender tatsächlich am Auto angebracht wurde. Genauso gut kann er im Futter ihrer Handtasche oder im Absatz ihres Schuhs verborgen sein.

Nein, denkt sie. Vincent konnte ja nicht wissen, welche Handtasche und welche Schuhe ich nehme.

Klar war lediglich, dass sie niemals ohne Robbie gehen wür-de. Sie nimmt sich vor, seine Sachen bei der nächsten Rast genau zu überprüfen.

Zwei Stunden nachdem sie aufgebrochen ist, hält sie an einer Raststätte auf der Höhe von Straßburg, um ein paar Sachen fürs Frühstück zu kaufen.

Ans Auto gelehnt, isst sie ein belegtes Brötchen und trinkt Milch aus einem Tetrapak. Dann wechselt sie in fliegender Hast Robbies Windel und füttert ihn mit etwas Obstbrei. Als er satt ist, nimmt sie sich die Wickeltasche vor und tastet das Futter ab. Nichts. Falls der Sender doch darin versteckt sein sollte, hat Vincent ganze Arbeit geleistet.

Sicherheitshalber leert Nathalie die Tasche komplett und räumt sie anschließend wieder ein.

Eigentlich müsste sie sofort weiterfahren, aber nach der unruhigen Nacht fühlt sie sich wie gerädert. Sollte Vincent plötzlich hier auftauchen, wird er sich hüten, sie zu belästigen. Sie weiß aus bitterer Erfahrung, dass man sich nicht auf die Hilfe anderer verlassen darf, aber es gibt Grenzen, und als Frau mit Baby hat sie gute Chancen, dass jemand sie in Schutz nimmt.

Mit Robbie auf dem Arm geht sie über die Wiese neben dem Parkplatz. Der Kleine lehnt das Köpfchen an ihre Brust und schließt die Augen.

Als Nathalie wieder am Auto ist und Robbie in seinen Maxi Cosi gesetzt hat, macht sie ein paar Dehn- und Streckübungen, dann setzt sie sich ans Steuer.

Kurz darauf ist sie in Richtung Schweiz unterwegs. Wenn sie keine Pause mehr macht, kann sie in zwei Stunden in Zürich sein und mit etwas Glück gegen Abend an ihrem Ziel in Italien.

Weil Robbie eingeschlafen ist, macht Nathalie den CD-Player aus. Allmählich wird es voller auf der Autobahn, trotzdem kommt wie weiterhin zügig voran. In der Ferne kann sie bereits die Alpen sehen. Als Kind war sie immer begeistert, wenn sie auf der Fahrt nach Italien an schneebedeckten Berggipfeln vorbeikamen.

Die Strecke ist ihr vertraut, obwohl sie sie noch nie selbst gefahren ist. Bevor Cécile von zu Hause auszog, fuhren sie immer zu dritt an den Lago Maggiore. Als die Geschäfte ihres Vaters schlecht liefen und er die Villa verkaufen musste, konnte sie nicht verstehen, warum er das Ferienhaus unbedingt behalten wollte. Jetzt ist sie ihm dankbar dafür. Es ist schon komisch, dass sie es nun ausgerechnet ihrem Vater zu verdanken hat, für eine Weile untertauchen zu können.

Am hellichten Tag

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