Читать книгу Am hellichten Tag - Simone van der Vlugt - Страница 5

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Wenn sie gewusst hätte, was auf sie zukommt, hätte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Nathalie ärgert sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hat. Schließlich war abzusehen, dass sie irgendwann Hals über Kopf fliehen müsste.

Während sie auf der Autobahn dahinrast, überlegt sie, ob sie alles richtig gemacht hat. Das Nötigste dürfte sie mitgenommen haben – Kleidung zum Wechseln, ein paar Toilettenartikel, die Autopapiere, das gesamte Schwarzgeld aus dem Tresor und ihren Laptop.

Viel mehr hätte sie auch nicht mitnehmen können, der Rest besteht aus Robbies Sachen, aus Fläschchen, Milchpulver, Schnuller, Windeln, Babykleidung und was man sonst noch so für ein sieben Monate altes Kind braucht.

Im Nachhinein staunt sie selbst darüber, wie entschlossen sie die Tasche geschultert und Robbie von der Couch genommen hat, um das Haus zu verlassen. Ein letzter Blick auf den reglos am Boden liegenden Vincent hatte genügt, um ihr klarzumachen, dass sie schleunigst verschwinden sollte.

Sein Alfa stand vollgetankt vor dem Haus. Hastig legte sie Robbie auf eine Decke im Fußraum vor dem Beifahrersitz und platzierte rechts und links von ihm je eine Tasche, damit er sich während der Fahrt nicht irgendwo stieß. Robbie nuckelte zufrieden an seinem Schnuller.

Einen Kindersitz hat sie nicht, weil sie mit dem Kleinen nur selten das Haus verließ. Wenn sie überhaupt einmal ausging, dann ohne Robbie.

Sie verstaute ihr Gepäck auf dem Rücksitz, setzte sich ans Steuer und atmete mehrmals tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie den Motor anließ. Langsam wich sie den Schlaglöchern auf dem Hof aus, und als sie auf die Landstraße fuhr, war ihr bewusst, dass dies ein entscheidender Moment in ihrem Leben war.

Jetzt ist Nathalie unterwegs nach Deutschland. Sie braucht einen sicheren Ort, an dem sie für eine Weile untertauchen und ihre Gedanken ordnen kann. Erst hatte sie es bei Kristien versucht, der einzigen Freundin, die ihr noch geblieben ist. Aber Kristien war nicht bereit gewesen, sie auch nur für eine Nacht aufzunehmen, wollte sie anfangs sogar an der Haustür abfertigen.

»Du hier?«, sagte sie verwundert.

Nathalie hatte Robbie im Auto gelassen und ihm den Schlüsselbund zum Spielen gegeben. Sie wollte nicht gleich mit dem Kind aufkreuzen.

»Hallo, Kristien.« Leicht verlegen lächelte sie ihre Freundin an. »Es ist eine ganze Weile her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

»Das kannst du laut sagen.« Statt sie ins Haus zu bitten, stellte Kristien sich breitbeinig in die Türöffnung, als fürchtete sie, Nathalie könnte versuchen, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen.

»Ich ... äh ... Darf ich kurz reinkommen?«

Mit sichtbarem Widerwillen gab Kristien ihrer Bitte nach.

Kristiens Freund Ruud stand von der Couch auf, reichte Nathalie die Hand, verließ dann aber gleich das Wohnzimmer, damit sie ungestört miteinander reden konnten.

Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ich habe nie verstanden, was du an dem Typen findest«, sagte Kristien, als sie sich angespannt gegenübersaßen. »Du sagst, du hast ihn verlassen, aber das ist jetzt schon das vierte Mal! Immer wenn er dich holenkam, bist du klaglos wieder mitgegangen.«

»Ich weiß«, sagte Nathalie. »Aber diesmal ist es anders.«

»Ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Ich habe immer wieder versucht, dir zu helfen, aber vergeblich. Weil du es letztlich selbst nicht wolltest. Warum sollte es diesmal anders sein?«

Nathalie schwieg, weil Kristien im Grunde recht hatte. Mehrmals hatte die Freundin ihr Zuflucht geboten, und jedes Mal war sie wieder zu Vincent zurückgekehrt, ohne danach noch etwas von sich hören zu lassen. Sie konnte Kristien unmöglich erzählen, was nun vorgefallen war; dadurch würde sie sie zur Mitwisserin eines Verbrechens machen.

Im Grunde verstand Nathalie selbst nicht mehr, warum sie auf die Idee gekommen war, Kristien um Unterschlupf zu bitten.

Also stand sie auf und ging.

Vor einer Viertelstunde hat sie das Autoradio angeschaltet. Je schneller die Musik wird, desto stärker tritt sie das Gaspedal durch. Als sie es merkt, stellt sie das Radio ab. Sie darf auf keinen Fall riskieren, wegen einer Geschwindigkeitsübertretung angehalten oder geblitzt zu werden.

Die Autobahn ist voll, aber es bildet sich kein Stau, nur hin und wieder gerät der Verkehr ins Stocken.

Dass Robbie eingeschlafen ist, passt gut – so kommt sie zügig voran.

In den Nachrichten war keine Rede von einem Leichenfund in einem abgelegenen Brabanter Landhaus. Mit ein bisschen Glück kann sie etwas Vorsprung herausholen.

Immer wenn sie daran denkt, was am Vormittag passiert ist, geht ihr Atem schneller, und das Herz setzt einen Schlag aus. Sie kann nach wie vor kaum fassen, dass sie einen Mord begangen hat.

Ihre Hände umklammern das Lenkrad. Nein, im Grunde war es kein Mord, sondern Notwehr. Auch wenn nicht sie angegriffen wurde, sondern Robbie. Und weil sich ein Baby nicht verteidigen kann, musste sie den Kleinen schützen. Es war eine Reflexhandlung ...

Früher hatte sie für Kinder nicht viel übrig und Vincent erst recht nicht, weil Babygeschrei ihn stets in Rage brachte.

Sie hatte sich so gut wie möglich um das Kind gekümmert, wenn auch zunächst eher aus Pflichtgefühl. Die erste Zeit war ihr das Baby ziemlich gleichgültig gewesen, doch das änderte sich bald. Allmählich gewann sie den Kleinen richtig lieb, und als Vincent heute auf ihn losging, regte sich ihr Mutterinstinkt. Dass er sie immer wieder schlug, war etwas anderes, daran war sie gewöhnt, aber dass er sich auf ein vollkommen hilfloses Wesen stürzte, konnte sie einfach nicht zulassen.

Als sie Vincent mit grimmiger Miene auf die Couch zugehen sah, versuchte sie, ihn zurückzuhalten. Er stieß sie so grob weg, dass sie stürzte. Ihr Blick fiel auf die Lampe mit dem schweren gusseisernen Fuß. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang sie auf, packte die Lampe und ließ sie auf Vincents Kopf niedersausen.

Er brach sofort zusammen. Aus seinem Hinterkopf quoll Blut und tropfte in den hochflorigen Teppich.

Sie hätte die Wundränder zusammendrücken können, um die Blutung zu stoppen und dann einen Krankenwagen zu rufen. Stattdessen stand sie mit dem weinenden Kind auf dem Arm da und starrte wie gelähmt auf ihren am Boden liegenden Lebensgefährten.

Plötzlich hörte Robbie auf zu weinen, so als hätte er begriffen, dass sie ihn beschützt hatte.

Dann dämmerte ihr, was sie da angerichtet hatte. Sie sah Probleme auf sich zukommen, aber auch eine riesengroße Chance: Sie war frei! Wie lange, hing davon ab, wie geschickt sie vorging.

Der Schlag mit dem Lampenfuß war so heftig gewesen, dass Robbie und sie Blutspritzer abbekommen hatten. Sie rannte mit dem Kleinen nach oben, wusch ihn, zog ihn um und duschte anschließend selbst.

Ihre schmutzige weiße Leinenhose und das Sommertop stopfte sie in einen grauen Müllsack und warf, wieder im Wohnzimmer, auch die Tischlampe hinein.

Sie deponierte den Sack im Kofferraum des Autos und ging wieder ins Haus.

Innerhalb kürzester Zeit packte sie ihre Sachen, räumte den Tresor im Arbeitszimmer leer und suchte zusammen, was sie für Robbie brauchte.

Wie ein Wirbelwind fegte sie durchs Haus, und als sie die Tür hinter sich zuzog, war weniger als eine halbe Stunde vergangen, seit sie Vincent den Schädel eingeschlagen hatte.

Am hellichten Tag

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