Читать книгу Am hellichten Tag - Simone van der Vlugt - Страница 11
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ОглавлениеJulia wohnt in der Koninginnelaan, in einer hellen, geräumigen Eigentumswohnung am Ende einer Reihe moderner Häuser mit breiten Glasfronten. Von hier aus hat sie es nicht weit in die Stadt, und zur Arbeit kann sie ohne Weiteres zu Fuß gehen, aber meist fährt sie mit dem Rad. Das Auto nimmt sie nur selten; eigentlich steht es die ganze Woche über ungenutzt vor dem Haus. Im Grunde braucht sie kein Auto, aber verkaufen will sie es dennoch nicht.
Das Auto ist so ziemlich der einzige Luxus, den Julia sich gönnt. Kneipenbesuche locken sie nicht, ins Kino geht sie allenfalls ein, zweimal im Jahr, sie raucht nicht, trinkt wenig Alkohol und hat keine kostspieligen Hobbys.
Dank ihrer Sparsamkeit konnte sie sich die relativ teure Wohnung unweit der Innenstadt kaufen. Sie hält sich gern zu Hause auf und genießt im Sommer den kleinen Garten hinter dem Haus, in dem ihr schwarzer Kater Morf den lieben langen Tag herumstromert und sein Revier bewacht.
Kaum hat sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, kommt er auch schon an und streicht ihr um die Beine.
»Na, mein Guter, hast du Hunger? Warte, gleich kriegst du was.«
Julia geht in die Küche, öffnet eine Dose Katzenfutter und gibt den Inhalt mit einem Löffel in Morfs Napf.
Sofort verliert der Kater jegliches Interesse an seinem Frauchen und macht sich über sein Futter her.
Julia ignoriert den Stapel Geschirr in der Spüle und geht nach oben ins Bad.
Während sie unter der lauwarmen Dusche steht und sich den Schweiß des Tages von der Haut spült, denkt sie an Taco.
Sie haben sich auf der Geburtstagsfeier von Sjoerds Frau, Melanie, kennengelernt. Normalerweise gibt sie sich bei neuen Bekanntschaften eher zurückhaltend, doch Taco zog ihren Blick wie magisch an. Taco wiederum blieb ihr Interesse nicht verborgen, denn als ein Stuhl neben ihr frei wurde, setzte er sich zu ihr und begann ein Gespräch.
Eine gute Stunde redeten sie so vertraut miteinander, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sie tauschten Telefonnummern aus, und als sie das Fest gleichzeitig verließen, gingen sie noch auf einen Absacker in eine Kneipe.
So hatte ihre Beziehung vor zwei Monaten begonnen. Dass sie sich eher locker gestaltet, stört Julia nicht, zumal sie daran zweifelt, ob Taco der richtige Partner für sie ist. Aber weil momentan alles gut läuft, macht sie sich keine weiteren Gedanken.
Sjoerd hingegen scheint von ihrer Beziehung mit Taco nicht allzu begeistert zu sein.
»Mit dem wirst du nicht glücklich«, hatte er schon wenige Tage nach der Geburtstagsfeier gesagt, als sie ihm erzählte, dass sie noch mit Taco in einer Kneipe gewesen war.
»Ach«, meinte Julia, leicht pikiert, weil er ihr offenbar so wenig Urteilsvermögen zutraute. »Und wie kommst du darauf?«
»Ich kenne ihn«, sagte Sjoerd lediglich und hüllte sich ansonsten in Schweigen.
Bis heute weiß Julia nicht genau, was er damit gemeint hat, aber eine Vermutung hat sie schon: Sjoerd ist ein ruhiger Mensch, unerschütterlich und ohne Launen. Logisch, dass er für jemanden, der immer und überall im Mittelpunkt steht, nicht viel übrig hat. Taco hat etwas, das die Leute veranlasst, ihn zu umkreisen wie Planeten die Sonne. Die Männer spielen gern eine Partie Billard mit ihm, die Frauen fühlen sich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt. Er versteht es, jedem das Gefühl zu geben, wichtig zu sein.
Julia stellt die Dusche aus und trocknet sich ab. Sie muss an den aktuellen Fall denken. Nicht zum ersten Mal wünscht sie sich, sie könnte ihn mit ihrem Vater besprechen. Er war ebenfalls Polizist, aber bei der Sitte. Was er von seiner Arbeit erzählte und vor allem sein unermüdlicher Einsatz weckten bei Julia schon in jungen Jahren das Interesse für die Polizeiarbeit. Trotz der Einwände ihrer Mutter, die die Tochter nur ungern in einem so anstrengenden und gefährlichen Beruf sehen wollte, stand für Julia fest, dass sie auf die Polizeischule gehen würde.
Sie zählte zu den besten Absolventen ihres Jahrgangs.
Voller Tatendrang trat sie ihre Arbeit als Streifenpolizistin an. Und auch an ihren ersten Fall als frisch gebackene Kripobeamtin erinnert sie sich noch gut: Ein junges Ehepaar war bei einem Raubüberfall umgekommen, der vierjährige Sohn lag schwer verletzt auf der Intensivstation. Die Sache nahm sie damals sehr mit, und sie setzte alles daran, dass der kleine Junge zumindest in dem Wissen aufwachsen konnte, dass der Mann, der ihm die Eltern genommen hatte, zur Rechenschaft gezogen wurde. Selbst als dieser längst hinter Gittern saß, ließ das Schicksal des Jungen sie nicht los, und sie erkundigte sich regelmäßig nach ihm.
Den Tag, an dem sie zum ersten Mal eine Uniform trug, hatten Julias Eltern allerdings nicht mehr erlebt. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Julia fünfzehn war. Ein Lkw, der auf der falschen Straßenseite fuhr, prallte frontal auf ihren Wagen.
Oma Emma, ihre Großmutter väterlicherseits, nahm sie bei sich auf. Sie war bei der Abiturfeier dabei, nahm regen Anteil an Julias Ausbildung und hörte gern zu, wenn sie von ihren ersten Erfahrungen auf Streife berichtete. Sie hat bis heute immer ein offenes Ohr für ihre Enkelin. Die beiden haben eine enge Bindung, und Julia besucht ihre Großmutter, so oft sie kann.
Sie haben sich in einem Restaurant am Munsterplein verabredet. Taco sitzt bereits an einem Tisch im Freien, trinkt sein erstes Bier und schäkert mit zwei jungen Deutschen am Nebentisch, vermutlich Touristinnen. Als er Julia kommen sieht, steht er sofort auf.
»Hi, meine Süße.« Er legt den Arm um sie und küsst sie auf dem Mund. »Wie war dein Tag? Hast du ein paar Verbrecher gefangen?«
Lachend nimmt Julia Platz. »Schön wär’s! Jeden Tag ein paar Verbrecher ... dann wäre ich im Nu Kommissarin.«
»Lieber nicht. Meine Freunde meiden mich jetzt schon, weil sie Angst vor dir haben.«
Taco bestellt ein Weißbier für Julia. »Ist doch in Ordnung, oder?«, sagt er, als die Bedienung bereits wieder weg ist.
»Schon gut.« Die letzten paar Male, die sie aus waren, hat sie tatsächlich Weißbier getrunken, aber eigentlich macht sie sich nicht viel aus Alkohol. Eine Cola wäre ihr auch recht gewesen.
»Ganz schön warm, was?«, sagt Taco. »Was meinst du, wollen wir im Freien essen?«
»Gern. Ich finde es gemütlich hier.« Entspannt lehnt Julia sich zurück und lässt den Blick über den belebten Munsterplein schweifen. Sämtliche Straßencafés sind voll, und von überall her hört man Leute reden und lachen. Mitten auf dem Platz steht ein Musikpavillon, in dem ein kleines Orchester aufspielt und nach jedem Stück großen Applaus erhält.
Die Kellnerin bringt Julias Getränk und nimmt die Essensbestellung auf.
Während sie warten, tauschen sie Neuigkeiten aus. Julia erzählt nicht viel von ihrer Arbeit, denn das meiste ist streng vertraulich. Außerdem hat sie sich vorgenommen, Beruf und Privatleben strikt zu trennen, was jedoch nicht immer gelingt. Oft verfolgen sie Dinge, die sie tagsüber erlebt hat, bis in den Schlaf.
Dafür redet Taco umso mehr. Er arbeitet als Fahrlehrer und erzählt gern von seinen haarsträubenden Erlebnissen mit Fahrschülern.
»... und dann hat sie den rechten Blinker gesetzt, also dachte ich, sie will am Straßenrand halten. Aber nein, sie schert nach links aus! Das Auto hinter uns hatte schon zum Überholen angesetzt und konnte gerade noch ausweichen. Der Fahrer war puterrot im Gesicht und hat wie wild gehupt. Und ich selber hab vor Schreck fast einen Herzkasper bekommen.«
»Und deine Fahrschülerin?«
»Die ist seelenruhig weitergefahren. Hat nur ›hoppla‹ gesagt. ›Hoppla‹!«
Julia grinst. »Ich werde oft gefragt, warum ich ausgerechnet bei der Polizei arbeite, aber wenn ich das höre, finde ich deinen Beruf viel gefährlicher. «
»Tja, man muss auf alles gefasst sein. Besonders darauf, dass manche Leute rechts und links nicht unterscheiden können. Und zwar ganz schön viele.«
Die Kellnerin bringt die Gerichte, und sie greifen hungrig zum Besteck.
»Mir ist mal was ziemlich Peinliches passiert, als ich gerade erst den Führerschein hatte«, sagt Julia nach dem ersten Bissen. »Damals war ich zwanzig und mit Don zusammen.«
»Dein Freund vom Gymnasium?«
»Genau. Er lag nach einer Knieoperation im Krankenhaus, und ich konnte so lange sein Auto haben. Als ich ihn besuchen wollte, war der Krankenhausparkplatz brechend voll, aber schließlich fand ich doch noch eine Lücke und manövrierte das Auto irgendwie hinein. Ich stand neben einem großen Kombi, und zwar so dicht, dass die Fahrertür nicht mehr aufging. Ich wollte korrigieren und stieß vorsichtig zurück, aber die Hinterräder blieben in einer Abflussrinne stecken. Ich traute mich nicht, mehr Gas zu geben, weil ich Angst hatte, ich könnte den Kombi beschädigen. Also ließ ich das Auto einfach stehen und hoffte, dass der andere vor mir ausparken würde.«
»Tat er aber nicht, oder?« Taco grinst breit.
»Nein. Ich bin durch die Beifahrertür ausgestiegen und zu Don gegangen. Die ganze Zeit über war ich nervös und habe immer wieder aus dem Fenster geschaut, ob der Kombi schon weg war. Irgendwann fragte Don, was los sei, und ich habe ihm alles gebeichtet. Er erklärte mir, wie ich die Sache am besten anstellen soll. Doch als ich dann wieder im Wagen saß, gab ich viel zu viel Gas, sodass der Motor laut aufheulte. Genützt hat es nichts. Schließlich habe ich einen älteren Herrn, der vorbeikam, um Hilfe gebeten. Der rangierte das Auto souverän aus der Lücke. Als ich vor dem Wegfahren noch mal zu Dons Fenster hochsah, stand er auf seine Krücken gestützt und mit leichenblassem Gesicht da.«
Taco kann sich das Lachen nicht verkneifen.
»Kein Wunder, wo doch ein fremder Mann in seinem Auto saß. Der hätte ohne Weiteres damit abhauen können«, sagt Julia.
»Wenn du mal Nachhilfe in Sachen Ausparken brauchst, dann sag Bescheid«, neckt Taco.
»Nicht nötig, vielen Dank.«
Sie lachen beide und merken im nächsten Moment, dass sie ein paar Tische weiter nachgeäfft werden.
Verdutzt dreht Julia sich um und sieht mehrere etwa achtzehnjährige Jungen, die sich einen Spaß daraus machen, andere Leute zu veralbern.
Zwei junge Frauen halten Ausschau nach einem freien Tisch. Eine von beiden hat einen ziemlich dicken Hintern, was prompt abfällig kommentiert wird.
Julia runzelt die Stirn. »Idioten!«, murmelt sie.
Taco beugt sich vor und mustert die Jungen mit zusammengezogenen Brauen. Einer bemerkt es, beugt sich ebenfalls vor, ahmt Tacos Miene nach und flüstert seinen Freunden etwas zu, die laut losprusten. Dann nehmen sie wieder die beiden Frauen aufs Korn.
Taco richtet sich auf und strafft seine Schultern. »Hört auf mit dem Scheiß, aber sofort!«
Schlagartig wird es still, die Jungen sehen Taco verblüfft an.
»Meinst du uns, Alter, oder was?«, ruft einer.
»Klar meine ich euch. Ihr wollt hier nichts als Stunk machen.«
Julia ist die Situation höchst unangenehm. Sie rutscht nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
»Lass doch!«, flüstert sie Taco zu. »Am besten, wir ignorieren sie.«
Doch die Jungen scheinen nicht vorzuhaben, Taco zu ignorieren. Einen von ihnen, offenbar der Wortführer, steht auf.
»Du brauchst wohl ‘ne Abreibung, was?«, fragt er drohend.
»Nur zu!« Taco schiebt seinen Stuhl zurück und steht ebenfalls auf.
Julia legt ihm die Hand auf den Arm, doch er schüttelt sie ab und geht auf den Tisch der Jungen zu. Sein Widersacher setzt sich ebenfalls in Bewegung.
Auf halbem Weg treffen sie sich. Der Junge stemmt die Hände in die Hüften und hat bereits eine freche Bemerkung auf den Lippen, als Taco ohne Vorwarnung ausholt und ihm mit der Faust ins Gesicht schlägt.
Der Junge stolpert und taumelt gegen einen Tisch. Teller und Gläser zerschellen am Boden, und die Gäste springen erschrocken auf.
Sekundenlang herrscht Verwirrung, dann stehen auch die anderen Jungen auf und kommen auf Taco zu, der ungerührt stehen bleibt.
Gegen so viele kommt er nicht an, denkt Julia und geht auf die Gruppe zu. »Hört jetzt auf, Jungs«, sagt sie beschwichtigend. »Sonst rufe ich die Polizei.«
Der Anführer der Gruppe hat sich inzwischen aufgerappelt. Mit wenigen Schritten ist er bei Julia und versetzt ihr einen heftigen Stoß. »Halt dich raus, du blöde Kuh, sonst kriegst du auch was ab!«
Bevor er sie ein zweites Mal anfassen kann, hat Julia ihm auch schon den Arm auf den Rücken gedreht. Er schreit vor Schmerz auf.
»Aufhören, hab ich gesagt! Das war jetzt die sanfte Tour, aber wenn du mir noch einmal blöd kommst, brech ich dir den Arm.« Sie lässt ihn los und versetzt ihm einen Schubs.
Die anderen Gäste klatschen spontan Beifall.
Für die Jungen ist dies das Signal abzuziehen. Sie hinterlassen jede Menge Scherben und einen verärgerten Restaurantbesitzer.
»Mann, das war echt ‘ne Lachnummer«, meint Taco später, als sie bezahlt haben und über den Platz gehen.
»Lachnummer? Was war denn daran lustig?«, entrüstet sich Julia. »Oder findest du es vielleicht witzig, anderen einen Fausthieb zu versetzen?«
»Die Typen haben’s voll drauf angelegt«, verteidigt sich Taco. »Wenn denen keiner Grenzen setzt, machen die doch, was sie wollen. Aber nicht mit mir!«
»Ich versteh dich ja, aber ...«
»Was aber? Was hätte ich denn tun sollen? Zulassen, dass sie die Frauen weiter beleidigen und uns den Abend verderben? Das ist doch nicht dein Ernst!«
Julia seufzt tief. Als Polizeibeamtin ist sie wahrhaftig nicht darauf aus, eine Schlägerei zu provozieren. Andererseits sollen die Leute auch nicht einfach wegsehen, sondern füreinander eintreten. Dass es dabei auch mal etwas härter zugeht, ist wohl nicht zu vermeiden.
»Du hast recht. Im Grunde genommen bin ich ganz schön stolz auf dich.« Sie lächelt Taco an.
»Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätte mir das keine Ruhe gelassen.«
»Wirklich?«
Taco nickt. »Klar. Und eins noch: Misch dich beim nächsten Mal nicht mehr ein, verstanden?«
»Wie bitte?«
»Ich brauche keine Hilfe«, sagt Taco barsch. »Schon gar nicht von meiner Freundin.«