Читать книгу Karten! - Simon Garfield - Страница 10
Sie sind im Jahr 1250, aber wissen Sie auch, wo?
ОглавлениеDen englischen Begriff road map (wörtlich Straßenkarte) kennen wir heute vor allem aus der Politik, wo er eine Entwicklung bezeichnet, die zu einem gewünschten Ziel führen soll. Die Situation mag noch so ausweglos erscheinen, aber wir haben zumindest einen Plan: Wenn wir Zwischenstation A erreichen, haben wir eine Chance, von da aus auch zu Zwischenstation B zu kommen. Natürlich wird der Ausdruck gelegentlich von Menschen verwendet, die nirgendwohin gelangen, beispielsweise im Jahr 2002 von George Bush, Tony Blair und anderen, die sich in den Friedensprozess im Nahen Osten einschalteten.
Im 13. Jahrhundert, ein paar Jahrzehnte, bevor die Mappa Mundi entstand, arbeitete ein Mönch namens Matthäus Paris (um 1200–1259) an einer echten Straßenkarte des Nahen Ostens – einer Karte, die in Jerusalem endete, das damals unter einer relativ großzügigen muslimischen Herrschaft stand und eine große Zahl christlicher Pilger anzog.
Zu Paris’ klösterlichen Pflichten gehörte auch seine Beschäftigung als Handschriftenmaler und Historiograf in der Abtei St. Albans nördlich von London. Die Abtei besaß alle Eigenschaften einer frühen Universität, und Paris war bestrebt, sein Wissen in Wort und Bild zu vermitteln. Das Ergebnis waren seine Chronica Maiora, eine ambitionierte Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart. Paris, der auf Altfranzösisch und Latein schrieb, kombinierte das Werk von Roger von Wendover, einem seiner direkten Vorgänger in St. Albans, mit eigenen Erfahrungen. Dazu zählten lange Reisen durch Europa und Besuche am Hofe Henrys III. wie auch die Geschichten, die Besucher seiner Abtei ihm zutrugen.
Hier entlang geht es nach Jerusalem (oder vielleicht doch eher dort entlang …). Matthäus Paris’ interaktive Straßenkarte zeigt verschiedene Weg zum Seelenheil auf.
Seine Streckenkarte von London nach Jerusalem füllt sieben Seiten Pergament zu Beginn der Chronica Maiora und ist ein faszinierendes Werk voller kurzer Abstecher und Zusatzinformationen, die seine Leser bei der Stange halten sollten. Auf kleinen aufklappbaren Blättern, die entweder oben oder am Rand angeklebt waren, wurden einzelne Reiserouten oder Erklärungen zum Teil noch verlängert. Eine dieser oben angebrachten Klappen zeigt beispielsweise Sizilien und den Ätna, der als Höllenschlund bezeichnet wird. Die Interaktivität geht sogar soweit, dass dem Betrachter oft die Wahl zwischen verschiedenen Wegen gelassen wird. So kann er selbst entscheiden, in welcher Richtung er Italien oder Frankreich durchqueren will. War dies die erste Landkarte mit beweglichen Elementen? Sicher war es die erste uns bekannte Straßenkarte mit einer solchen lockeren Haltung hinsichtlich der empfohlenen Strecke.
Paris’ Leser fanden die Aussicht, sich tatsächlich auf den Weg zu machen, der hier vor ihnen ausgebreitet wurde, vielleicht nicht besonders reizvoll (sie wurden wahrscheinlich sogar eher davon abgeschreckt), aber an der imaginären, im Geiste durchlebten Reise hatten sie sicherlich ihre Freude – im Kopf gingen sie selbst auf Kreuzzug, und genau wie wir heute ließen sie sich sicher von der bildlichen Darstellung des Weges faszinieren.
Die Landkarte ist jedoch noch aus einem anderen Grund interessant. Paris bezeichnet sie als »Itinerar«, und man findet hier den Ursprung des englischen Wortes journey, das altfranzösische jornee oder jurnee, das die geschätzte Länge einer sinnvollen »Tagesreise« auf einem Maultier bezeichnet. Es taucht immer wieder zwischen den einzelnen Reisezielen auf Paris’ Karte auf, und bei einer Gelegenheit wird es, da sich unterwegs nicht Wichtiges findet, das man hätte eintragen können, zu ju-r-rr-n-ee gedehnt, um die dynamische Wirkung zu erhöhen.
Jede Kartenseite, die aus zwei Spalten besteht und von unten nach oben und von links nach rechts zu lesen ist, umfasst etwa eine Wochenreise. Wir beginnen in London, dargestellt als ummauerte Stadt mit zinnenbewehrten Bauten und Türmen, die St. Paul’s Cathedral noch einmal überragt. Hervorgehoben sind der »River de Tamise«, »Audgate« und »Billingesgate«. Von dort ist es eine Tagesreise nach Rochester, eine weitere nach Canterbury, noch eine nach Dover und Nordfrankreich, bevor man weiter durch Reims, Chambery und Rom reist. Die Genauigkeit der Karte nimmt hinter Paris ab, doch man würde die Zielsetzung der Karte falsch verstehen, wenn man kritisierte, dass Fleury direkt nach Chanceaux auftaucht statt hinter Paris; die Geschichte, die die Karte erzählt, gewinnt an Kohärenz, wenn man erst hinter Chanceaux auf die Knochen des Heiligen Benedikt trifft und nicht schon früher.
Sind wir bald da? Gegen Ende der Reise kommt Jerusalem endlich in Sicht.
Ein anderer Eintrag, eine weitere Klappe, zeugt von einer gewissen Ermüdung, die das Handwerk des Kartenzeichnens so mit sich bringt: »In Richtung auf das Meer von Venedig und Konstantinopel an dieser Küste«, schreibt Paris, »liegen diese Städte, die so weit weg sind.« Aber schließlich erreicht die Streckenkarte Jerusalem, ihr letztes Ziel, das Paris mit Felsendom und Grabeskirche darstellt. Man sieht eine ganz passable Küstenlinie der Hafenstadt Akkon, in der viele Pilger landeten, und jenseits davon Betlehem.
Paris scheint Probleme mit dem Maßstab gehabt zu haben. Auf einer anderen Karte, einer von vieren, die er von Großbritannien zeichnete, schreibt er bedauernd (quer über ein Bild von London): »Wenn die Seite es erlaubt hätte, wäre diese ganze Insel länger ausgefallen«, was nicht unbedingt die ideale kartografische Lektion ist, die sich leicht zu beeindruckenden Gemütern einprägen sollte. Trotz der Enge bekommt Schottland eine großzügige Zwiebelform, eine Seltenheit in dieser Zeit. Doch Paris schuf eine weitere Landkarte, auf der Großbritannien unheimlich genaue Proportionen aufweist, nicht zuletzt auch in Wales und dem West Country, und man kann nur schwer etwas gegen den Anspruch der British Library einwenden, wonach dies die früheste erhaltene Karte des Landes mit einer solchen Detailtreue sei.
Und noch eine weitere bedeutende Streckenkarte aus Paris’ Feder hat sich bis heute erhalten. Sie führt von London nach Apulien, ist aber weniger ausführlich als die Jerusalem-Fassung und auf eine Seite seines Liber Additamentorum gequetscht, eines Addenda-Bandes zu seinem größeren Geschichtswerk, der auch solche Kuriositäten wie eine Karte der wichtigsten römischen Straßen mit Dunstable als Mittelpunkt und eine Weltkarte der Winde (mit der Erde im Zentrum) enthält.
Mit all diesen Karten gelang Matthäus Paris zudem etwas, das bei einer detailverliebten kartografischen Analyse leicht übersehen wird: Etwa fünfzig Jahre vor der Mappa Mundi von Hereford schuf er einzigartige Objekte, die ihre Betrachter fesselten, und zeigte schon ungewöhnlich früh, wie Landkarten durch ihre Schönheit und Faszination Freude bereiten können. Seine Karten nähren die Fantasie, sie animieren zu Interaktion und einer intensiven Beschäftigung. Und sie haben eine unheimliche Ähnlichkeit mit den Karten, die wir als Kinder zeichnen.