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Die Welt nimmt Gestalt an
ОглавлениеDie Mappa Mundi in Hereford ist einzigartig, aber auch Teil eines Genres. Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert wurden überall in der westlichen und arabischen Welt mappae mundi gezeichnet, und die erhaltenen Exemplare liefern interessante Hinweise darauf, wie die mittelalterliche Welt sich selbst sah. Viele verschiedene Formen gibt es, manche klarer lesbar als andere, viele ausgesprochen grotesk. Die meisten allerdings eint ein gemeinsamer Zweck: Sie waren nicht für den Gebrauch bestimmt, zumindest nicht für den Gebrauch auf Reisen. Vielmehr waren sie Ausdruck philosophischer, politischer, religiöser, enzyklopädischer und konzeptioneller Überlegungen.
Dies gilt für die Werke europäischer Kartografen, wie etwa die Hereford-Karte, ebenso wie für die der arabischen Gelehrten im kulturellen Schmelztiegel Bagdad – dem Herzen des arabischen Kalifats –, die das alexandrinische Streben, das Weltwissen zu sammeln, geerbt hatten und dabei auf Ptolemäus wie auch auf Augenzeugenberichte arabischer Seeleute und chinesischer Entdecker zurückgriffen.
Der beste – und modernste – aller mittelalterlichen Kartografen war erstaunlicherweise ein arabischer Geograf in Europa – ein gewisser Muhammad al-Idrisi. Al-Idrisi führte seinen Stammbaum bis auf den Propheten zurück und kam aus einer adligen arabischen Familie im muslimischen Andalusien. Als junger Mann war er weit herumgekommen – in Spanien, Nordafrika und Anatolien –, bis er sich am Hof des normannischen Königs Roger II. von Sizilien niederließ. Hier vollendete er um 1150 sein Meisterwerk und schuf im Grunde einen frühen Atlas, in dem er aus verschiedenen regionalen Landkarten ein Bild der Erde zusammensetzte. Vielleicht, weil er als Muslim für einen christlichen König arbeitete, fehlen seinen Karten alle Sagengestalten und religiösen Symbole. Stattdessen zeigten sie im Rückgriff auf muslimische Landkarten und Reisende wie auch auf die Berichte normannischer Seeleute, was möglich war, wenn man der geografischen Genauigkeit den Vorrang ließ. Seine Sicht auf die Welt erscheint uns heute vertrauter als die meisten Landkarten der nächsten Jahrhunderte, und seine Kartierung des Nils und der Seen, aus denen er entspringt, war bis zu Stanleys Expeditionen im 19. Jahrhundert die beste, die man hatte.
Europa und Afrika inReise des Sehnsüchtigen, um die Horizonte zu durchqueren, al-Idrisis Atlas für Roger II. von Sizilien.
In den 1360er Jahren zeigte dann die Weltkarte eines buddhistischen Mönches in Japan eine ganz andere Sicht auf die Prioritäten des Lebens. Es war ebenfalls eine Landkarte für Pilger, die diesmal allerdings nicht nach Jerusalem führen sollte. Der schon ältere Kartograf gab ihre eine schlichte Erklärung mit auf den Weg: »Mit Gebeten im Herzen, dass der Buddhismus in der Nachwelt aufleben möge, habe ich mich an die Arbeit gemacht, diese Karte abzuzeichnen, mir dabei die vom Alter trüben Augen gerieben und mich gefühlt, als reiste ich selbst durch Indien.«
Seine Landkarte gleicht einer Laterne, die über einem Ozean schwebt. Der heilige Berg Sumeru (Kailash) beherrscht das Zentrum, und entlang der Seidenstraße findet sich eine Reihe von Pilgerstätten, deren Namen der Mönch größtenteils von dem aus China stammenden buddhistischen Gelehrten Xuanzang übernommen hatte. Dessen Topografie aus dem 7. Jahrhundert mit dem Titel Aufzeichnungen über die Westlichen Gebiete aus der Großen Tang-Dynastie beschreibt eine fünfzehnjährige Reise durch Indien. Es hatte siebenhundert Jahre gedauert, bis jene Reisen, die auf der Landkarte durch eine rote Linie gekennzeichnet sind, eine so kunstvolle kartografische Form annahmen, und es sollte fast noch einmal halb so lange dauern, bis sie auch im Westen ihre Wirkung entfalteten.
Nun ist es nicht so, dass der christliche Glaube in dieser ganzen Zeit gar nichts Bedeutsames oder zumindest Schönes auf dem Gebiet der Kartografie hervorgebracht hätte. Einige überaus abstrakte Beispiele einer frommen Geografie finden sich auf Doppelseiten in mittelalterlichen Büchern, und die bemerkenswertesten unter ihnen benennen spannende Orte, die noch für Jahrhunderte kein Entdecker zu Gesicht bekommen sollte. Die Beatuskarte, die auf den Schriften des spanischen Benediktinermönches Beatus von Liébana beruhte, zählt zweifellos zu den interessantesten. Sie entstand gegen Ende des 8. Jahrhunderts und wurde getreulich in zahllose mittelalterliche Handschriften übernommen (aus dem 12. und 13. Jahrhundert sind vierzehn europäische Exemplare erhalten).
Eine stark stilisierte Ausgabe aus dem Jahr 1109, die heute in der British Library liegt, misst 43 auf 32 Zentimeter und sieht aus wie eine riesige ovale Fischplatte. (Tatsächlich zeigt sie auch Fische, die in dem umrahmenden Ozean stromaufwärts schwimmen.) Diese wunderbar fantasievolle Darstellung der Welt ist vielleicht gerade deshalb besonders anziehend, weil sie alles außer Acht lässt, was wir als geografische Genauigkeit betrachten. Auch hier dominieren Allegorien und angsterfüllte biblische Gelehrsamkeit, gestützt vor allem auf die Apokalypse des Johannes und die Werke Isidors von Sevilla. Oben liegen Adam und Eva, anatomisch recht genau gezeichnet, neben einer Schlange im Garten Eden. Indien ist links von ihnen zu sehen. Statt Jerusalem besetzt hier Alexandria das Zentrum, mit dem Pharos ganz in der Nähe und Afrika direkt darunter. Dem im byzantinischen und später im lombardischen Reich enorm wichtigen kulturellen und politischen Zentrum Ravenna wird gleiche Bedeutung im Norden eingeräumt. Verschiedene Regionen, darunter Britannien und die Inseln der Seligen, sind in Kästen unten auf der Karte plaziert wie Scrabble-Steine, die darauf warten, an den richtigen Platz gelegt zu werden. Gebirgszüge erinnern an dampfende Misthaufen.
Den Kopf dieser Beatuskarte aus der British Library bilden Adam und Eva. Aber was ist das für ein mysteriöser vierter Kontinent ganz rechts?
Allerdings ist die Landkarte auch aus geografischen Gründen bemerkenswert. Das Rote Meer, das sich im Süden über die gesamte Länge der Karte erstreckt, trennt die drei bekannten Kontinente von der Möglichkeit eines mysteriösen vierten Erdteils. Es gibt nur eine kurze Beschreibung dieses Landes – wir erfahren, dass es sich um eine unbekannte, glühend heiße Wüste handelt –, und dennoch spielt es eine wichtige Rolle bei den meisten Interpretationen der Beatuskarte.
Viele westliche mappae mundi sollten als Wandschmuck dienen und sind seitdem abgeblättert oder übermalt worden. Bis in unsere Zeit hinübergerettet haben sich meist nur verkleinerte Kopien auf Papier. Zu den detailreichsten und aussagekräftigsten gehört die sogenannte Londoner Psalterkarte, die irgendwann nach 1262 gezeichnet wurde und sich in einem kleinen Gebetbuch wunderbar erhalten hat. Sie ist nur 15 × 10 cm groß, zeigt aber schon viele jener Elemente, die nicht einmal dreißig Jahre später auch auf der Hereford-Karte zu finden sein sollten. Jerusalem liegt im Zentrum, Osten ist oben, die Handelsstädte sind hervorgehoben, das Rote Meer ist riesig und trieft vor Farbe, und auch jüngst heiliggesprochene Berühmtheiten (in diesem Fall Richard von Chichester) bekommen noch einen Platz.
Für ihre Größe enthält sie viele Details: Die Themse und der Severn sind erkennbar, Adam und Eva tauchen mit traurigen Gesichtern in einem ummauerten Garten Eden auf. Auch die angsteinflößenden Völker Gog und Magog, angeblich Kräfte des Antichrist, haben im Osten ihren Platz, wo sie offenbar von einer Mauer eingeschlossen werden, die Alexander der Große gebaut haben soll – eine der vielen Legenden über die Eroberungszüge Alexanders, die sich in den mappae mundi widerspiegeln (die Befestigung ist entgegen der allgemeinen Meinung auch als die Chinesische Mauer gedeutet worden).
Der Kartenhistoriker Peter Whitfield hat die Psalterkarte und andere ähnliche Exemplare als »Karten der religiösen Fantasie« bezeichnet, und es gibt dafür kein besseres oder faszinierendes Beispiel als eine Weltkarte, die 1832 in einem ehemaligen Benediktinerinnenkloster im niedersächsischen Ebstorf entdeckt wurde. Mit ihrem Durchmesser von 3,5 Metern ist sie mehr als doppelt so groß wie die Hereford-Karte, dabei ebenso enzyklopädisch und ebenso bizarr. Ihre Herkunft ist ungewiss, man nimmt jedoch an, dass sie schon aus dem Jahr 1234 stammt und das Werk der Nonnen der Abtei war, die ihr eigenes Wissen durch die Handschriften in der Bibliothek und Berichte von Reisenden erweiterten. (Eine konkurrierende Theorie bringt sie mit Gervasius von Tilbury in Verbindung, einem englischen Rechtsgelehrten, der in Bologna unterrichtete.) Berühmt ist sie heute auch wegen ihrer allegorischen Christus-Darstellung, der seine Arme (wie am Kreuz) ausbreitet, so dass sie die ganze Welt umfangen – der Kopf ist oben beim Paradies, die Hände am äußersten nördlichen und südlichen Rand, die Beine unten im Westen, und Jerusalem bildet den Nabel. Das Konzept der Christenheit, die die ganze Menschheit umfasst, spiegelt sich in der Weltkarte selbst wieder, die zugleich auch eine Bibelstunde ist.
Auf der Karte von Ebstorf erwacht die Welt zum Leben. Man beachte die Füße Christi ganz unten.
Die Karte ist voller Geschichten und Texte, mit einer Inschrift, in der sich die Hoffnung ausdrückt, sie möge »ein Wegweiser für alle Reisenden sein und zu den Dingen führen, die das Auge am meisten erfreuen«. Aber auch hier steht die Zeit still, und Reisende suchen womöglich vergebens nach den dargestellten Sehenswürdigkeiten wie der Arche Noah und dem Goldenen Vlies oder den Sensationen Afrikas einschließlich einer Menschenrasse, die das Feuer noch nicht erfunden hat, einem Volk ohne Nase und Mund, das sich durch Gesten verständigt, einem Stamm, der beim Gehen ständig auf das Gesicht fällt, und Menschen, deren Oberlippen so elastisch sind, dass sie sie als Maske oder zum Schutz über den Kopf ziehen können. Leider können wir diese Wunder heute nur noch auf Fotos bestaunen, denn die Karte wurde 1943 bei einem alliierten Bombenangriff zerstört.
Es gibt vielleicht einen einfachen Grund dafür, dass diese mittelalterlichen Weltkarten so viele Merkmale und Landmarken gemeinsam haben: Womöglich diente ihnen ein und dasselbe Handbuch als Vorlage. Im Jahr 2002 berichtete der französische Historiker Patrick Gautier Dalché von der Entdeckung zweier Handschriften mit dem Titel Expositio Mappe Mundi, die als Anleitung zur Herstellung einer Weltkarte dienen konnten. Die Abschriften entstanden Mitte des 15. Jahrhunderts in Deutschland, die Vorlage jedoch stammt vermutlich ursprünglich aus England und aus weit früherer Zeit. Vielleicht geht sie auf die Zeit des Dritten Kreuzzugs zwischen 1188 und 1192 zurück (ihr Verfasser könnte zum Heer des Richard Löwenherz gehört haben). Die Anleitungen enthalten nicht nur eine Liste mit Ortsnamen, sondern auch Angaben zur räumlichen Beziehung dieser Orte zueinander: Orte lagen »über«, »unter« oder »gegenüber« von anderen, Regionen waren »voneinander abgegrenzt« und Flüsse »erstreckten sich«. Von den 484 in der Expositio aufgeführten Landmarken schafften es etwa 400 auf die Mappa Mundi von Hereford.
Die Bianco-Weltkarte: Hier tauchen zum ersten Mal die Pole auf.
Ein weiterer Hinweis auf ein vages, aber doch aufkeimendes globales Wissen findet sich auf einer weiteren mappa aus der Zeit um 1436. Benannt ist sie nach dem Seemann und Kartografen Andrea Bianco, der sie aufs Pergament brachte. Passend zu ihrer Herkunft und gegenwärtigen Heimstatt Venedig ähnelt die Erde einem riesigen Fisch in einer Glaskugel, einer Flunder vielleicht, wobei Europa, Asien und Afrika auf allen Seiten von einem Ozean umgeben sind. Ein dunkelblauer Rand umfasst das Ganze, er funkelt vor Sternzeichen. Auch hier ist die Erde eine symbolische Kugel, die sich in einer weitgehend philosophisch zu interpretierenden Sphäre dreht.
Die Britischen Inseln, Spanien und Frankreich sind relativ genau dargestellt, und dezent werden die neu entdeckten Azoren in einem stark vergrößerten Atlantischen Ozean eingeführt. Dazu aber gibt es eine echte geografische Neuheit, für uns ebenso erstaunlich wie für die Betrachter damals, als die Tinte noch feucht war: Das Südende Afrikas wird von etwas eingefasst, das der Südpol sein könnte, belebt durch einen Wassermann und einen Mann, der gefährlich an einem Seil hängt, während ein ähnlicher runder Ausschnitt in die nördliche Sphäre vorstößt, wo uns der Text von gefrorener Tundra erzählt. An anderer Stelle finden wir wieder die vertrauten Gestalten – Elefanten, Kamele, Monarchen auf dem Thron unter einem Baldachin, die Jungfrau Maria mit Kind – und in weniger bekannten Ländern geflügelte Tiere und Männer mit Hundeköpfen. Die beiden Polarregionen jedoch sind neu. Ist ihr Auftauchen auf reine Vermutung, eine geniale Eingebung oder ein besseres Verständnis von Regionen jenseits der bewohnbaren Welt zurückzuführen? Wir wissen es nicht, aber ganz sicher nähert sich die Landkarte damit deutlich einer modernen Weltsicht an.