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Die Männer, die die Welt verkauften
ОглавлениеAm Mittwoch, dem 16. November 1988, standen Hochwürden Peter Haynes, Dekan der Kathedrale von Hereford, und Lord Gowrie, Kulturminister a. D., der inzwischen den Vorstandsvorsitz von Sotheby’s übernommen hatte, vor der Kathedrale und posierten mit dem gerahmten Faksimile einer großen braunen Landkarte zwischen sich für die Fotografen. Die Karte, fast genauso groß wie die beiden Männer, die sie hielten, sollte im nächsten Juni versteigert werden, und Sotheby’s hatte ein Mindestgebot von 3,5 Millionen Pfund angesetzt, das sie zur wertvollsten Landkarte der Welt machen sollte. Ein paar Stunden später beschrieb Dr. Christopher de Hamel, Experte für mittelalterliche Handschriften bei Sotheby’s, sie als »die in jeder Hinsicht bedeutendste und berühmteste mittelalterliche Karte«.
Lord Gowrie bedauerte, dass ein so wichtiges Objekt das Land womöglich bald mit dem Meistbietenden verlassen werde, sagte aber, dass alle Versuche, es für die Nation zu bewahren, fehlgeschlagen seien. Fast ein Jahr lang hatte er versucht, die Landkarte in Großbritannien zu halten, jetzt waren alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Der Dekan erklärte, seine Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert, einer der beeindruckendsten normannischen Bauten in England, brauche dringend 7 Millionen Pfund, damit sie nicht auf den gefliesten Fußboden herunterbreche, und der Verkauf der Landkarte sei der einzige Ausweg. Nach ihrem Auftritt drückten die beiden Männer den zuständigen Mitarbeitern den Rahmen in die Hand und gingen ihrer Wege, Gowrie zurück nach London, der Dekan wieder in das Gotteshaus, das ihm so viel Sorgen bereitete. England war geschockt über das, was da passierte.
Die Landkarte, um die es ging, war die um 1290 entstandene Mappa Mundi von Hereford – und nicht unbedingt eine Augenweide. Ein riesiger Lappen aus zähem Leder, 163 mal 137 Zentimeter groß, zeigte eine düstere Welt, die auf den ersten Blick mit ihren ausgeblichenen Farben und der undeutlichen Beschriftung kaum als solche zu erkennen war. Wer aus der Großen Bibliothek zur Zeit des Ptolemäus nach Hereford versetzt worden wäre, hätte diese Karte mit ziemlichem Erstaunen betrachtet: Keine Spur von sorgfältig gezogenen Koordinaten und Rastern, von Längen- und Breitengraden; an ihre Stelle war eine Art Sittengemälde getreten, eine Weltkarte, die die Ängste und Obsessionen des Zeitalters offenbart. Jerusalem steht in ihrem Zentrum, Paradies und Fegefeuer warten an den Rändern, und sagenhafte Geschöpfe und Ungeheuer bevölkern die entlegeneren Gefilde.
Genau dieses Konzept steht auch dahinter. Die Mappa (das lateinische Wort stand im Mittelalter für Tuch oder Serviette) hatte die anspruchsvolle Absicht, metaphysische Inhalte zu transportieren: Für ein des Lesens weitgehend unkundiges Publikum wollte sie eine Art Führerin zu einem wahrhaft christlichem Leben im Kartenformat sein, und daher vermischten sich in ihr die Geografie der irdischen Welt mit den Ideologien des Jenseits. Und so sieht man ganz oben eine grafische Darstellung des Weltenendes mit einem Jüngsten Gericht, bei dem auf einer Seite Christus und seine Engel zum Paradies hin ziehen, während auf der anderen Teufel und Drachen an einen anderen Ort zitiert werden.
Ein Skandal zieht herauf: Der Dekan der Kathedrale von Hereford, Peter Haynes (links), und der Vorstandsvorsitzende von Sotheby’s, Lord Gowrie, verkünden den Verkauf der Mappa Mundi.
Dennoch haben jene Betrachter, die damals am Ende des 13. Jahrhunderts zum ersten Mal einen Blick darauf warfen, wohl auch wie wir heute zunächst einmal nach dem roten Punkt mit dem Pfeil »Sie befinden sich hier« gesucht. Ihre Heimatstadt fanden sie denn auch im Südwesten des riesigen Kreises, mit Hereford als einem der wenigen in England eingetragenen Orte, wobei England an sich eine ziemlich unbedeutende Rolle bei den globalen Ereignissen spielt. Um sie herum ist die Welt voller Städte, Flüsse und Länder, die vor menschlicher Aktivität und seltsamen Tieren nur so wimmeln. Die brillanten kartografischen Theorien der Antike sind durch etwas anderes ersetzt worden: durch die Landkarte als Erzählung, die Landkarte als Leben.
Noch nie zuvor hatte man für ein solches Objekt ein Mindestgebot in einem Auktionskatalog gebraucht. Jetzt aber musste nach Aussage der gegenwärtigen Repräsentanten Gottes auf Erden eine Entscheidung her. Und den Beginn dieses Entscheidungsprozesses kann man ganz genau auf den Februar 1986 datieren, als ein Fachmann für mittelalterliche Kunstgegenstände von Sotheby’s in die Kathedrale kam, um deren kostbarste Besitztümer zu schätzen. Damals stand die Mappa Mundi nicht auf Herefords Verkaufsliste. Man glaubte, der größte Schatz der Kathedrale seien die Bücher und Handschriften ihrer Kettenbibliothek, eine Sammlung theologischer Werke, die mit Ketten an den Regalen befestigt waren, um so die Arbeit zu erlauben, dem Diebstahl jedoch vorzubeugen. Auf seinem Weg die steinerne Wendeltreppe hinauf in die Bibliothek sah der Sachverständige die schwach beleuchtete Mappa Mundi und fragte, wie hoch sie versichert sei. Die Antwort überraschte ihn: 5000 Pfund. Er deutete an, dass sie vielleicht doch ein bisschen mehr wert sei.
Der Aufruhr, der nach der Verkaufsankündigung losbrach, traf die Verantwortlichen ganz unerwartet. Der englische National Heritage Memorial Fund brachte seine Empörung darüber zum Ausdruck, »dass ein solches Dokument von Weltrang in einem Auktionshaus landet«, und die British Library klagte, sie sei wegen eines eventuellen Ankaufs gar nicht gefragt worden (woraufhin Lord Gowrie wiederum behauptete, das sei Unsinn). The Times brachte einen Leitartikel, der mit den Worten schloss: »Die Mappa muss in England bleiben, öffentlich zugänglich und am besten in Hereford. Ihre Verbindung zu jener Stadt ist Teil der Identität der Mappa. Als Kunstwerk profitiert sie von Hereford. Es ist sozusagen der einzige angemessene Rahmen für sie.«
Am nächsten Tag gingen zusammen mit Rücktrittserklärungen von Mitgliedern des Fundraising-Komitees der Kathedrale auch mehrere Angebote von Privatkäufern ein, die das Mindestgebot von 3,5 Millionen Pfund zusicherten. Doch John Tiller, Stiftsherr und Kanzler der Kathedrale, erklärte, die Auktion werde ungeachtet dessen stattfinden, um den bestmöglichen Preis zu erzielen: »Unsere erste Priorität ist die Zukunft der Kathedrale.« Andere Finanzierungspläne wurden erwogen, scheiterten aber letztlich.
Ein paar Monate später jedoch wurde ein Plan vorgelegt, der funktionierte: Mit einer Spende von 1 Million Pfund von Paul Getty und 2 Millionen Pfund aus dem National Heritage Memorial Fund wurde der Mappa Mundi Trust eingerichtet, der zudem ein neues Gebäude plante, in dem die Karte – gegen Eintrittsgeld – der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte. Und so wurde die Landkarte für die Nation bewahrt. Während die Pläne gediehen ging sie als Leihgabe an die British Library in London, wo Zehntausende, die erst vor Kurzem überhaupt von ihrer Existenz erfahren hatten, sie sahen.
Was genau bekamen die Besucher der British Library nun zu sehen? Eben das, was schon die Pilger, die um 1290 nach Hereford kamen, gesehen hatten, aber mit weniger Farbe, besseren Erklärungen und strengeren Sicherheitsmaßnahmen. Die Mappa Mundi bietet einen meisterhaften kartografischen Einblick in das Denken und die Erwartungen des mittelalterlichen Menschen. Was auf den ersten Blick wunderbar naiv wirkt, verwandelt sich bei genauerem Hinsehen in eine außergewöhnliche Zusammenballung von Geschichte, Mythos und Philosophie auf dem Wissensstand der Endzeit des Römischen Reiches mit einigen wenigen mittelalterlichen Versatzstücken.
Heute wäre ein Drogentest fällig, wenn man so etwas malen würde: Das Nildelta durchschneidet eine magische Welt mit Einhörnern, Burgen und einem merkwürdigen Alraunenmann.
Die Karte ist der Wahnsinn – voller Leben und Aktivität. Sobald man sich erst einmal darauf eingelassen hat, kann man sich kaum noch losreißen. Zu sehen sind fast 1100 Ortsnamen, bildliche Darstellungen und Texte aus biblischen, klassischen und christlichen Texten, von Plinius dem Älteren, Strabon und Solinus bis zu Hieronymus und Isidor von Sevilla. In ihrer Destillation geografischen, historischen und religiösen Wissens dient die Mappa als Itinerar, Ortsverzeichnis, Gleichnis, Bestiarium und Lehrmittel. Die gesamte Geschichte ist hier zu sehen und ereignet sich gleichzeitig: der Turmbau zu Babel; Noahs Arche, die gerade wieder trockenes Land erreicht; das Goldene Vlies; das Labyrinth des Minotaurus auf Kreta. Und sicher war diese Karte für Zeitgenossen – Einheimische wie Pilger – die faszinierendste Freakshow der Stadt. Mit ihrer Parade mistschleudernder Tiere, hundsköpfiger oder fledermausohriger Menschen, der geflügelten Sphinx mit dem Gesicht einer jungen Frau und anderen Sensationen steht sie Hieronymus Bosch näher als den wissenschaftlich denkenden griechischen Kartografen.
Bis zum Erscheinen von Chaucers Canterbury Tales sollten noch 90 Jahre vergehen, und obwohl man vieles auf der Karte in klarer gotischer Schrift auf Latein und Französisch lesen kann, bezogen die meisten Besucher in Hereford ihr Wissen wohl aus den Bildern. Anderthalb Jahrhunderte vor der Erfindung des Buchdrucks waren diese Zeichnungen – primitiv und unperspektivisch, mit Stadtvignetten und Bauwerken voller kleiner Türmchen, die sich kaum voneinander unterschieden – womöglich das erste große Szenenbuch, das sie zu Gesicht bekamen. Die Bilder verfolgten sie sicher bis in ihre Träume.
Den modernen Beobachter stellt die Karte zudem vor ein Rätsel: Die Dinge sind nicht da, wo wir sie erwarten würden. Was wir als Norden betrachten, liegt links, während Osten oben ist, eine Anordnung, die uns das Wort »Orientierung« [von lat. oriens Osten; d. Red.] hinterlassen hat. Es gibt keine Ozeane, aber dafür ist die Landkarte von einem großen Gewässer umrahmt, auf dem zahllose Inseln voller missgestalteter Geschöpfe treiben.
Man stößt auf haarsträubende Schreibfehler, durch die Europa zu Affrica wird und Afrika als Europa erscheint. Die Städte und emblematischen Bauten wurden offenbar nach einer seltsamen Mischung aus Bedeutsamkeit, Hörensagen, Aktualität und Willkür ausgewählt: Der Koloss auf der falsch lokalisierten Insel Rhodos nimmt mehr Raum ein als weitaus wichtigere Handels- und Wissenschaftsstädte, Venedig zum Beispiel. Sowohl Norwegen wie auch Schweden tauchen auf der Karte auf, allerdings wird nur Norwegen auch benannt. Die Britischen Inseln erscheinen am südwestlichen Rand der Karte, aus Platzgründen etwas zur Seite gekippt. Nordostengland ist mit Namen übersät, während der Südwesten praktisch ignoriert wird. Die neue Burg Edwards I. in Caernarfon ist – nur ein paar Jahre nach Baubeginn – verzeichnet, was nicht nur bei der Datierung der Karte hilft, sondern auch bestätigt, dass neue lokale Landmarken ebenso wichtig waren wie jene aus alter Zeit.
Es gibt viele weitere Anomalien. Moses ist mit Hörnern zu sehen, eine gängige mittelalterliche Verwechslung von cornutus (gehörnt) und dem eigentlich gemeinten coronatus (strahlend). Das Ungeheuer Skylla (als Svilla bezeichnet) findet sich zweimal, einmal in der vertrauten Paarung mit dem Strudel Charybdis, und einmal dort, wo die Scilly-Inseln liegen – womöglich hat sich da ein Schreiber verhört. Und unterschwellig läuft hier wie bei vielen mappae mundi noch eine weitere Geschichte ab. Die Wildnis – das Beängstigende und Unbekannte – vermittelt dem Betrachter eine Botschaft in Bezug auf die ruhmreichen Errungenschaften von Zivilisation, Ordnung und (Selbst-)Kontrolle. Für Zeitgenossen ist auch das eine christliche Lehre: Folge dem ausgewiesenen Weg. Den modernen Betrachter allerdings begeistern vor allem die dargestellten Seltsamkeiten: die absurden, dämonischen und komischen Gestalten wie etwa der Skiapode – ein Mann, der seinen einen, riesig aufgeschwollenen Fuß dazu nutzt, sich vor der Sonne zu schützen.
Kartografiehistoriker kategorisieren die Mappa Mundi von Hereford als eine »T-O«- oder Radkarte. Diese Form entwickelte sich zur Zeit des römischen Kaisers Augustus (nach 12 v. Chr.) und beschreibt eine einfache Möglichkeit, die kugelförmige Erde in drei Teile zu teilen. Die bekannten Kontinente der antiken Welt – Asien, Europa und Afrika – sind in der Mitte durch die horizontal verlaufenden Flüsse Don und Donau und die Ägäis (links) sowie den Nil (rechts) geteilt, die alle in das weite, vertikal liegende Mittelmeer fließen.
Grundform einer T-O-Karte. Asien, Europa und Afrika werden grob voneinander getrennt. Diese Karte stammt aus einem spanischen Manuskript des 12. Jahrhunderts.
Doch die Hereford-Karte ist mehr als ein Erdenkreis. Um jeden Fitzel verfügbaren Platz auf der Haut auszunutzen, umfasst sie monumentale Szenen oberhalb und unterhalb der eigentlichen Karte. So wird die Welt vom Jüngsten Gericht gekrönt, während unten eine Szene links den Kaiser Augustus darstellt, der Landvermesser anweist: »Geht hinaus in die ganze Welt und berichtet dem Senat über jeden Kontinent.« Eine Szene rechts davon ist weniger eindeutig – sie könnte sich eventuell auf die neuesten Nachrichten der Zeit beziehen. Dargestellt sind ein Reiter und ein Jäger im Gespräch, und die Botschaft (auf Französisch statt auf Latein, wie es sonst auf der Karte gebräuchlich ist) lässt sich mit »Nur zu!« übersetzen. Wer diese beiden Gestalten sind, ist unklar; ein Erklärungsversuch sieht in der Szene einen Gerichtsfall um Jagdrechte, der zur Entstehungszeit der Karte in Hereford stattfand.
In der Ausgabe der englischen Zeitschrift Notes and Queries vom Januar 1955 nahm sich ein Gelehrter namens Malcolm Letts die anschaulicheren Zeichnungen der Karte vor und versuchte ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben. Letts war leicht schockiert und vermittelte mit seiner atemlosen Prosa das blanke Staunen wie kein zweiter. Ausführlich beschreibt er die Heldentaten von nach Gold grabenden Ameisen und widmet einem Salamander einen ganzen Absatz. Er bewundert ein Bild der mundlosen Ganginen, die »fleißig Obst von einem Baum ernten. Diese Wesen lebten angeblich vom Geruch der Äpfel, die sie immer mit sich herumtrugen; wenn nicht … starben sie auf der Stelle.« Ganz in der Nähe »kommt der Luchs, dessen Urin sich zu hartem Stein verfestigte (überaus anschaulich vom Künstler dargestellt.)« Dann sieht er in der Mitte der Karte, nahe Phrygien, das Bonacon, »dessen Verteidigung darauf beruhte, dass es seinen Kot über drei Morgen Land verteilte und alles in Reichweite in Brand setzte. Das Geschöpf ist in seiner üblichen Verteidigungshaltung dargestellt …« Unter den Zeichnungen ganz rechts auf der Karte bemerkt Letts »zwei sich umarmende Männer«. Das sind die Garamanten des Solinus, von denen kaum etwas bekannt ist, »außer, dass sie sich des Krieges enthielten und Fremde verabscheuten«.
Wie konnte man auch nur auf die Idee kommen, etwas so Wunderbares zu verkaufen, um ein undichtes Dach zu reparieren?
Um den Mann kennen zu lernen, der die Mappa Mundi beinahe verkauft hätte, muss man vom Stadtzentrum von Hereford aus einen Hügel hinauffahren, an Weingärten, Hopfenfeldern und vielen Scheunen vorbei, bis man endlich das Fachwerkhaus von Hochwürden Peter Haynes erreicht. Seit 1992 lebt er im Ruhestand und frönt jetzt seiner Leidenschaft für Modelleisenbahnen. Bei meiner Pilgerreise im Sommer 2011 empfängt er mich mit Tee, Zitronenkuchen und einem schmalen Ordner, der Zeitungsartikel, eine Presseerklärung und einen Aktienprospekt der nicht besonders erfolgreichen Mappa Mundi AG enthält.
Haynes ist mit seinen siebenundachtzig Jahren emeritierter Dekan der Kathedrale, und viele Leute sprechen ihn, wenn sonntags dorthin kommt, noch als Herrn Dekan an. Er hat im Krieg bei der Luftwaffe gedient, wurde nach dem Theologiestudium in Oxford ordiniert und trat 1970, als gerade das erste Festival dort stattfand, seine Stelle als Vikar von Glastonbury an. Vier Jahre später zog er als Erzdiakon nach Wells und nahm auf eine persönliche Bitte Margaret Thatchers hin 1982 schließlich das Amt als Dekan von Hereford an.
Er sagt, zuallererst habe er Kopien der Buchhaltungsunterlagen vertraulich an einen alten Freund geschickt, einen gelernten Steuerberater, der Finanzdirektor der Schuhfirma Clarks war. »Ihn hätte fast der Schlag getroffen. Er schickte mir die Unterlagen zurück mit den Worten: ›Du steckst in bösen Schwierigkeiten.‹« Seit Jahren machte die Kathedrale Verluste, und die Schulden bei der Bank beliefen sich auf über 150.000 Pfund. »Mir wurde klar, dass die etwa 17.000 Pfund, die die Kirchengemeinde jedes Jahr aufbrachte, um, wie die Leute dachten, die Geistlichen zu bezahlen, tatsächlich an die Lloyds Bank gingen, um den Überziehungskredit zu bedienen.«
Und die Aussichten waren nicht gerade rosig: Der Pensionsplan für die Mitarbeiter erwies sich als unzureichend, eine Gebäudeüberprüfung hatte gefährliche Risse zutage gefördert, der Chor brauchte mehr Geld und die historischen Schätze der Kathedrale wurden vernachlässigt und schlecht präsentiert. Im April 1985 starteten der Prince und die Princess of Wales einen Spendenaufruf, doch das angepeilte Ziel von einer Million Pfund, um die Bausubstanz zu restaurieren, erwies sich bald als unzureichend. Man schätzte, dass die Kathedrale eine Kapitalspritze von sieben Millionen Pfund brauchte, um die bauliche wie finanzielle Sicherheit langfristig zu gewährleisten, und deshalb musste die Mappa Mundi verkauft werden (was auch bedeutete, dass man die Kettenbibliothek als Ganzes bewahren konnte). Damals glaubte der Dekan, dass man sie wohl auch nicht vermissen würde. »Um ein bisschen näher am Geschehen zu sein, begrüßte ich oft selbst Besucher, die in die Kathedrale kamen. Dann erzählte ich ihnen auch immer mal wieder: ›Ach, es gibt noch eine sehr alte Landkarte im nördlichen Seitenschiff, falls Sie die sehen wollen‹, aber niemand legte gesteigerten Wert darauf.« Als Haynes selbst die Landkarte untersuchte, entdeckte er feuchte Stellen am Rand. Deshalb nahm er Kontakt zu Arthur David Baynes-Cope am British Museum auf. »Er war eine Weltautorität bei Schimmelbefall«, erklärte Haynes. Aber der Chemiker Dr. Baynes-Cope war mehr als das, er war auch ein Fachmann für die Konservierung von Papier und Büchern. »Ich holte ihn hierher«, fuhr Haynes fort. »Er warf einen Blick auf die Karte und sagte: ›Oh, ich glaube, ich weiß, was wir da machen können.‹« Etwa zwei Wochen später tauchte er wieder auf und legte dieses Band um den Rand. Ich fragte: ›Und was ist das?‹, und er antwortete: ›Ach, das ist eine Pyjama-Kordel von Dickins & Jones.‹«
Haynes erzählte mir, unter seiner Ägide seien in der Kathedrale sehr viele andere Arbeiten durchgeführt worden, doch er weiß, dass seine Zeit dort vor allem wegen der Geschichte um die Mappa Mundi in Erinnerung bleiben wird. Das scheint ihn nicht unbedingt zu ärgern. Seine Augen funkeln, als er mir von der Idee erzählt, die man damals hatte, um an Geld zu kommen: Man wollte Aktien ausgeben. »Anfangs war wichtig, dass wir das alles geheim hielten. Es gab also einen Codenamen für die Karte, ein Anagramm: Madam Pin-Up.«
Heute hat jeder die Möglichkeit, sich eine ziemlich gute eigene Mappa Mundi zuzulegen. Die Kopie, mit der Peter Haynes und Lord Gowrie 1988 vor der Kathedrale auftraten, war eine Lithographie aus dem Jahr 1869, damals das beste verfügbare Faksimile. Im Jahr 2010 jedoch brachte die Folio Society eine spektakuläre, mit neun Zehnteln der Originalgröße sehr beeindruckende Fassung heraus, die nicht nur von den Möglichkeiten der digitalen Reproduktion profitierte (die nur allzuoft den Tod der Kunst bedeutet), sondern auch von der Fantasie und dem Wissen einiger Experten des 21. Jahrhunderts, zu denen auch Peter Barber zählte, der Leiter der Kartenabteilung an der British Library und einer der Kuratoren der Weltkarte von Hereford. Die Karte wurde nicht nur aufgefrischt, sondern auch in lebhaften Farben wiedergegeben, die nach Meinung der Fachleute dem Original nahe kommen – man sieht viele üppige Rot-, Blau-Grün- und Goldtöne. Gedruckt wurde sie auf ein pergamentartiges Material namens Neobond, dann auf Leinwand gezogen, oben und unten mit hölzernen Streben aus Hereford-Eiche verstärkt und von fachkundigen Aufsätzen begleitet; eines der auf 1000 Exemplare limitierten Auflage würde Sie 745 Pfund kosten.
Hier möchte wohl niemand gern leben: Ein Bonacon verbreitet seinen »Duft«.
In letzter Zeit lebt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Mappa Mundi wieder auf – ein weiterer positiver Nebeneffekt des misslungenen Verkaufs – und tendiert jetzt eher zu Fragen nach Herkunft und Material als zu Deutungsversuchen. Doch viele grundlegende Fragen bleiben nach wie vor unbeantwortet, etwa die nach dem Schöpfer der Karte. Hierzu liefert die linke obere Ecke den wichtigsten Hinweis. Dort findet sich eine Bitte an alle, die die Karte »hören, lesen oder sehen«, für »Richard de Haldingham e Lafford« zu beten, der »sie machte und gestaltete«. Die Ortsnamen können auf Holdingham und Sleaford in Lincolnshire bezogen werden, doch wer war dieser Mann, und was genau »machte« er? Ein Symposium in Hereford brachte 1999 die führenden Fachleute zur Mappa Mundi zusammen, und die sprachen sich für einen Mann namens Richard of Battle oder lateinisch Richard de Bello als Schöpfer der Karte aus, einen Stiftsherren von Lincoln und Salisbury, Inhaber der Pfründe von Sleaford, der in Holdingham gelebt haben könnte; aber sie waren sich unsicher, ob es sich dabei um nur einen Mann handelte oder um Richard of Battle den Älteren und den Jüngeren und ob diese beiden Richards dann verwandt waren oder nicht.
Vier Jahre später hielt der Kartografiehistoriker Dan Terkla auf der 20. International Conference on the History of Cartography in Harvard einen Vortrag zur Mappa Mundi. Er spekulierte, dass vier verschiedene Männer direkt an der Gestaltung der Karte beteiligt gewesen sein könnten, von denen drei Richard hießen – Richard of Haldingham and Lafford, Richard de Bello, Richard Swinfield – und der letzte Thomas de Cantilupe. Der zweite Richard war seiner Meinung nach ein jüngerer Verwandter des ersten, der in Hereford an der Landkarte arbeitete, nachdem er von Lincoln dorthin gezogen war; der dritte war ein Freund, der als Finanzverwalter und Bischof an der Kathedrale wirkte; Thomas de Cantilupe schließlich war Swinfields Vorgänger und könnte auch der berittene Jäger am Rand der Karte gewesen sein.
Terkla behauptete, die Landkarte sei Teil des, wie er ihn nannte, Cantilupe Pilgrimage Complex gewesen, einer Sammlung von Besitztümern und Reliquien, die mit dem Bischof, der 1320 heilig gesprochen wurde, in Verbindung standen. De Cantilupes Grablege im nördlichen Querschiff hatte sich schon vor seiner Heiligsprechung als starker Anziehungspunkt für Pilger erwiesen, nachdem sie mit verblüffenden Wundern in Verbindung gebracht worden war. Fast fünfhundert wundersame Begebenheiten verzeichneten die Hüter des Schreins zwischen 1287 und 1312, einundsiebzig davon allein im April 1287 – dem Jahr, in dem die königliche Familie die Kathedrale besuchte.
Im Jahr 2000 reiste Scott D. Westrem, ein Mappa-Mundi-Experte ganz anderer Art, aus den Vereinigten Staaten an, um die Karte zu untersuchen, und sein forensischer Bericht erinnert an die detektivischen Fähigkeiten eines Sherlock Holmes. »Das Pergament, auf dem sie gezeichnet wurde, stammte von der Haut eines einzigen Kalbes, das wahrscheinlich noch kein Jahr alt war, als es geschlachtet wurde«, erklärte er. Anhand der silbernen, fleischigen Membran konnte er feststellen, dass die Karte auf der Innenseite der Haut gezeichnet wurde. Außerdem beschreibt er, wie Haar- und Fettreste sorgfältig von der getrockneten Tierhaut abgekratzt wurden, und erwähnt, dass dem Kürschner bei diesem Vorgang das Messer nur einmal abgerutscht sei und dabei die Haut in der Nähe des Schwanzes verletzt habe (möglicherweise, als es auf vernarbtes Gewebe stieß). »Die Haut ist qualitativ sehr hochwertig und gleichmäßig dick; es gibt praktisch keine Anzeichen von Wellungen, die durch Abdrücke von Rippenbögen und anderen Knochen entstehen, was darauf hindeutet, dass das Tier durchgehend gut gefüttert wurde.«
Im Mai 2011 führt Dominic Harbour, der kaufmännische Leiter der Kathedrale, wieder einmal zwei Besucher zur Mappa Mundi. Einer von ihnen bin ich. Zwei Wochen zuvor hat die Landkarte einen neuen Rahmen bekommen, in dem sie etwa dreißig Zentimeter tiefer an der Wand hängt als zuvor, so dass Jerusalem jetzt auf Augenhöhe der meisten Betrachter liegt. »Vorher wurde die Karte nach architektonischen Gesichtspunkten mit einigem Abstand präsentiert, die Leute suchen aber einen ergonomischen Bezug. Die Karte muss der Körpergröße angepasst sein, damit man alles sehen und berühren kann.«
Das Berühren ist wichtig. Die Besucher werden zwar nicht direkt dazu aufgefordert, aber auch nicht gerüffelt, wenn sie ganz unwillkürlich mit den Fingern auf dem Glas hin und her fahren. Jeden Abend wird das Glas von den Fingerabdrücken gereinigt. Meist finden sich welche über Jerusalem, andere über Europa, je nachdem, woher die Besucher kamen. Amerikaner zeigen nicht mit dem Finger. Besonders fettig aber ist das Glas rund um Hereford. »Die Fingerabdrücke erzählen genau dieselbe Geschichte wie damals, als die Karte neu war«, sagt Harbour. »Lange dachte man, dass ›Hereford‹ auf der Landkarte erst später hinzugefügt worden sei, und schloss daraus, dass sie womöglich anderswo entstanden sei. Jetzt geht man davon aus, dass dieses ›Hereford‹ tatsächlich später hinzugefügt wurde, aber erst, nachdem die ursprüngliche Beschriftung abgenutzt war, weil so viele Menschen sie berührt hatten.« Harbour ist Ende dreißig und arbeitet seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mit der Landkarte. Er kam 1991 frisch von der Kunsthochschule, half beim Entwurf einer Informationsbroschüre und einer Faksimile-Karte mit einer englischen Übersetzung und merkte bald, dass sein Sechs-Monats-Vertrag einfach nicht ausreichte. Er begann darüber nachzudenken, wie die Landkarte schlüssiger und eindrucksvoller präsentiert werden könnte, und half bei der Planung des beeindruckenden neuen Ausstellungsraums in einem Kreuzgang der Kathedrale, der sowohl die Mappa Mundi wie auch die Kettenbibliothek beherbergt. Der im Jahr 1996 vollendete Raum ist im Wesentlichen ein besserer angebauter Schuppen, allerdings ein Schuppen, bei dem eine Mauer aus dem 15. Jahrhundert auf eine aus dem 11. Jahrhundert trifft.
Harbour führt seine Besucher zu den Orten, an denen die Landkarte über die Jahrhunderte hinweg ausgestellt oder versteckt wurde – die Marienkapelle, verschiedene Querschiffe, die Sakristei, wo sie unter den Bodenbrettern lag. Einmal, sagt er, habe er einen Plan von den Bewegungen der Karte gezeichnet, und dabei »kam schließlich ein Gekritzel heraus, das den ganzen Kathedralengrundriss ausfüllte«. Er weiß auch noch, wie es war, als er die Mappa Mundi als Achtjähriger zum ersten Mal sah, »dieses wirklich seltsame braune Ding in seinem Kasten, wie aus einer anderen Welt, wundersam, wie die naturwissenschaftlichen Exponate in ihren Einweckgläsern. Ich glaube nicht, dass mir jemand etwas erklärte, wenigstens nichts, was ich verstehen konnte. Nur ›Das ist die Mappa Mundi, und sie ist sehr bedeutend‹.« Während wir gemeinsam die Landkarte erforschen, merke ich, dass ich nicke, als Harbour meint, dass »man immer wieder Neues entdeckt«. Kein moderner Reisender kann sie ohne eine gewisse Sehnsucht betrachten. Zu den faszinierendsten Eigenschaften großer Karten, insbesondere Weltkarten, gehört, dass sie das Gefühl vermitteln: Jede Reise ist machbar. Auf der Karte in Hereford scheint alles außer dem Paradies mit einem robusten Schiff erreichbar, und selbst die grimmigsten Ungeheuer wirken bezwingbar. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Damals, 1290, glaubte man anders als heute, dass es nicht mehr viel zu entdecken gäbe, keine große Wildnis, kein gewaltiges Meer, das einen lange aufhalten würde. Unberechenbare Seeungeheuer und riesige eisige Einöden kamen erst später. Die schlichte Botschaft lautete: Wir haben unsere Arbeit hier getan, die bewohnbare Welt ist auf dem Rücken eines Kalbs niedergelegt. Was bleibt uns Sterblichen also noch? Nur Wunder, eine höhere Berufung und Dinge, die auf ewig jenseits unseres Verstandes bleiben werden. Verbreitet diese Erkenntnis, ihr Pilger!