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Das Geheimnis von Vinland

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Wenn sie etwas von ihrem Geschäft verstehen, können Antiquare, die mit seltenen Büchern und Karten handeln, ziemlich viel Geld verdienen, Geschichte aber schreiben sie nur äußerst selten. Laurence Claiborne Witten II. war eine Ausnahme – er stieß auf eine Landkarte, die das Zeug hatte, unser ganzes Weltbild durcheinanderzubringen.

Witten hatte sein Geschäft in New Haven, Connecticut, aber er reiste oft nach Europa, um seine Bestände aufzustocken. Im Herbst 1957 stöberte er im Laden eines Kollegen in Genf und stieß auf etwas, das sein Herz höher schlagen ließ – eine einfache Landkarte auf Pergament, die vermuten ließ, dass Nordamerika etwa fünfhundert Jahre vor Kolumbus von Nordmännern entdeckt und besiedelt worden war.

Wikingerreisen in jenen Teil der Welt gehörten schon lange zum geografischen Mythenschatz, kartografische Beweise dafür hatte es aber nie gegeben. Und jetzt hatte er hier womöglich einen solchen Beweis in den Händen. Die Karte zeigte offenbar einen Teil Neufundlands oder Labradors und war damit das früheste europäische Dokument, das irgendeinen Teil der Neuen Welt abbildete. Aber es sprach auch viel gegen die Echtheit seines Fundes. Konnte denn alles, was wir in der Schule gelernt hatten, falsch sein? Oder war die Landkarte vielleicht doch eher eine raffinierte Fälschung, die noch einige der besten Kartenhistoriker der Welt zum Narren halten sollte? Und wenn es sich um eine Fälschung handelte, wer war der Fälscher?

Die Geschichte der Vinland-Karte – so benannt, weil die Wikinger Nordamerika um 1000 n. Chr. Vinland (oder Weinland) nannten – gehört zu den wichtigsten und spannendsten in der Geschichte der Kartografie. Sie zeigt in idealtypisch die romantische und geheimnisvolle Verlockung alter Karten und verstärkt noch einmal den Eindruck, dass sie selten das sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.


Larry Witten wurde in eine Familie reicher Tabakfarmer in Virginia hineingeboren, die sich später auf die Möbelschreinerei verlegten. Er selbst eröffnete 1951 sein Antiquariat in New Haven und erwarb sich schnell einen Ruf als Händler kostbarer Handschriften aus Mittelalter und Renaissance. Der Zeitpunkt war gerade sehr günstig: Viele europäische Bibliotheken und Sammler verkauften ihre wertvollen Schätze, um über die Runden zu kommen, und Sammlungen, die im Krieg geplündert worden waren, fanden zu Tiefstpreisen ihren Weg auf den Markt. Zu Wittens vertrauenswürdigsten Lieferanten gehörte der Schweizer Bonvivant Nicolas Rauch, der nicht nur mit Fremdwährungen handelte, als das in Europa noch streng reglementiert war, sondern auch einen Salon in Genf organisierte, bei dem die Händler kostbarer Bücher zusammenkamen und Informationen austauschten; seine Galadinners vor den großen Verkaufsmessen durfte man nicht versäumen.

Ein regelmäßiger Lieferant von Rauch, der auch immer mal wieder aus zweifelhaften Quellen schöpfte, war ein gewisser Enzo Ferrajoli de Ry, ein früherer italienischer Offizier, der sich darauf verlegt hatte, seltene Bücher und Handschriften in Italien, Spanien, Portugal und der Schweiz »herumzureichen«, immer auf der Suche nach dem schnellen Gewinn. Im September 1957 war Witten gerade bei Rauch, als Ferrajoli in seinem Fiat Topolino vorfuhr und seine neue Ware auspackte.


Die Vinland-Karte (mit Vinland ganz am linken Rand). Eine echte Stimme aus der Vergangenheit oder eine der raffiniertesten Fälschungen aller Zeiten?

Eine der Raritäten war die Karte, die wir heute Vinland-Karte nennen. Sie ist 27,8 mal 41 Zentimeter groß und war früher einmal vertikal in der Mitte gefaltet. Versteckt war sie in einem schmalen Band mit einer Handschrift der Historia Tartaorum, einer Beschreibung der Reisen des Franziskanermönchs John de Plano Carpini in die Mongolei in den Jahren 1247/1248 auf Pergament und Papier. Beide Werke stammten, so glaubte man, aus der Zeit um 1430 bis 1450, auch wenn sie, als Witten sie zuerst zu Gesicht bekam, modern gebunden waren.

Falls sie echt war, zeigte die Landkarte zwei verblüffende Dinge: Zum einen, dass man in Europa etwa fünfzig Jahre vor Kolumbus von nordischen Segelexpeditionen nach Nordamerika wusste, und zum zweiten, dass die Entdeckung selbst laut einer Erklärung auf der Karte, in steiler gotischer Schrift über dem Bild von Vinland, schon zwischen 985 und 1001 stattfand und dabei eine große verheißungsvolle Insel gefunden wurde.*

Was hielt Larry Witten im Schweizer Laden seines Freundes Mitte des 20. Jahrhunderts von der Sache? Er war aufgeregt, aber skeptisch. Die Karte wirkte echt (Kartenhändler rühmen sich eines ausgezeichneten Auges für diese Dinge), aber es gab natürlich viele ausgewiesene Experten für mittelalterliche Landkarten, die mehr davon verstanden als er. Was er damals noch nicht wusste, war, dass mehrere von ihnen die Karte schon gesehen und kalte Füße bekommen hatten.

Witten spielte stundenlang mit dem Gedanken, die Karte und die Handschrift, der sie beigefügt war, zu kaufen. »Meine Gründe dafür, dass ich eine Fälschung ausschloss, haben sich bis heute nicht geändert«, schrieb er dreißig Jahre später. Er erklärte, dass gewisse Fälschungen normalerweise sofort zu erkennen seien und dass die Hürden hoch lägen: Man braucht das richtige Pergament, die richtigen Schreibgeräte, Tinte aus den richtigen Zutaten, eine perfekte Beherrschung des damaligen Schreibstils und der Sprache und solide kartografische Grundkenntnisse in Theorie und Praxis. Jemand, der all diese Fähigkeiten besitzt, ist sicher nicht leicht zu finden, und selbst eine Fälschergruppe hätte Schwierigkeiten, die erforderlichen Materialien zusammenzubekommen.

Und dann war da die Frage des Motivs: Warum sollte jemand eine solche Mühe auf sich nehmen? Welche finanzielle Gegenleistung erwartete er sich? Und was war mit der Herkunft der Karte? Sie war nie auf einer öffentlichen Auktion aufgetaucht, und kein Händler konnte Belege dafür vorweisen, dass sie überhaupt je zuvor den Besitzer gewechselt hatte. Es war so, als finde man einen Rembrandt auf dem Dachboden. Es war unwahrscheinlich, weil es eben unwahrscheinlich war. Aber es war nicht unmöglich.

Die Vinland-Karte wirkt auf den ersten Blick eigentlich ganz schlicht, doch sie spiegelt fast das gesamte kartografische Wissen ihrer Zeit wider, das zu einem großen Teil zweifellos aus einer heute verschollenen älteren Karte übernommen war. Sie zeigt die drei Kontinente der mittelalterlichen Welt (Europa, Asien und Afrika), den Norden oben in einem Oval und von Ozeanen umgeben. Aber sie ist grob gezeichnet und relativ knapp beschriftet; es gibt nur fünf Städte – Alexandria, Rom, Jerusalem, Mekka und Kairo. Asien ist der am dichtesten mit Angaben versehene Kontinent, mit benannten Flüssen, Bergen und anderen Landmarken, von denen viele auch in der Historia Tartaorum erwähnt werden. Die Zeichnung Englands mit seinem westlichen Ausleger Somerset, Devon und Cornwall ist deutlich erkennbar, ebenso wie der Umriss Irlands (Ibernia) und die Isle of Wight. Schottland ist noch nicht richtig im Bild, man sieht aber kleine Inseln weiter im Norden, die vielleicht die Shetlands und Färöer darstellen sollen. Weder gibt es Grenzen noch Bilder oder Illustrationen, keine Hinweise auf Allegorien oder Sagen. Dafür bietet die Landkarte einige verblüffend genaue neue Details, die fast sicher das Ergebnis echter Erkundungen sein müssen.

Bei den Umrissen und der Größe Grönlands zum Beispiel stellt man eine verblüffende Übereinstimmung fest, wenn man sie mit einer modernen Landkarte vergleicht; gerade diese sollte später zu einem wichtigen Argument gegen die Echtheit der Karte werden: Vinland ist viel kleiner als das Nordamerika, das wir kennen, doch für den Verlauf der Ostküste finden sich moderne Parallelen. Die Position des neuen Landes westlich und etwas südlich von Grönland ist symbolisch gemeint, es ist der westlichste Punkt auf dem Pergament; auch war der Kartograf durch die Größe seiner Arbeitsfläche beschränkt, und wahrscheinlich verabscheute er wie die meisten seiner mittelalterlichen Kollegen leere Räume. Zu sehen sind zwei tiefe Buchten, die vielleicht andeuten sollen, dass Vinland eigentlich aus drei Inseln – Vinland, Helluland und Markland – besteht.

Eine Sache aber gab es, die Witten mehr als alles andere verunsicherte: Wurmlöcher. Landkarte und Text hatten Wurmlöcher, aber an verschiedenen Stellen, was zu der Vermutung führte, dass sie nicht zusammen entstanden waren (während doch die kursive Schrift so wirkte, als sei beides von derselben Hand geschrieben worden), sondern womöglich auf zwei getrennten Pergamentstücken gefälscht worden, die schon von Wurmlöchern durchzogen waren, bevor man mit moderner Tinte darauf schrieb.

Trotz dieser Zweifel kaufte Witten Ferrajoli die beiden Objekte für den stolzen Preis von 3500 Dollar ab. Er erzählte niemandem von seinem Kauf, bis es ihn zwei Wochen später auf dem Heimflug drängte, seinem Sitznachbarn, einem amerikanischen Ingenieur, von seinem Fund zu berichten. Er bemerkte, dass die umständliche Reise zurück in die USA – der Tankstop auf Island, die Flugroute über die Südspitze Grönlands und Labradors, der zweite Stop in Neufundland – der Überfahrt der nordischen Entdecker womöglich sehr nahe kam.


Der Umriss von Grönland auf der Vinland-Karte – verdammt nah dran für einen Kartografen des 15. Jahrhunderts


Wieder zuhause, zeigte Witten seinen Kauf ein paar Freunden in Yale, aber auch sie beunruhigte die Unstimmigkeit mit den Wurmlöchern und die unklare Herkunft. Und dann gab es da noch ein weiteres Rätsel – ein Text auf der Rückseite der Karte: »Übersicht über den ersten Teil, den zweiten Teil [und] den dritten Teil des Speculum«. Was konnte das denn wohl heißen? Es sollte sich herausstellen, dass diese Zeilen helfen konnten, das Rätsel zu entschlüsseln.

Witten wusste von Anfang an, dass seine Landkarte umstritten sein würde, und konnte ihre Echtheit im Moment weder beweisen noch widerlegen. Enzo Ferrajoli weigerte sich, weitere Einzelheiten zu ihrer Geschichte zu liefern, und Witten hatte Angst, als besessen ausgelacht zu werden, sollte er die Angelegenheit weiter verfolgen. Also beschloss er nach all der Aufregung, das Thema für eine Weile ruhen zu lassen und mit anderen Dingen weiterzumachen. In seinen Verkaufskatalogen bot er die Karte nicht an, sondern schenkte sie seiner Frau Cora. Und so blieb das Werk für die nächsten paar Jahre in ihrem Haus in New Haven und wurde nur gelegentlich ein paar Gästen auf Dinnerparties gezeigt, eher als spannende Kuriosität denn als historisches Dokument mit einer gewissen Sprengkraft.

Im Laufe der Jahre fand Witten heraus, dass er die Karte ganz und gar nicht zufällig im Laden seines Freundes »entdeckt« hatte, sondern dass sie zuvor schon von wenigstens zwei führenden Fachleuten der historischen Kartografie eingehend untersucht worden war. Wenn das damals schon herausgekommen wäre, hätte er wohl geglaubt, dass man ihn hinters Licht führen wollte.

Ein paar Monate vor Wittens Besuch in Genf im September 1957 hatten R.A. Skelton, Leiter des Kartenabteilung des British Museum, und George D. Painter, stellvertretender Leiter der Abteilung Wiegendrucke dortselbst und versierter Biograf von Proust und Caxton, die Vinland-Karte und die Historia Tartaorum untersucht. Wenn irgendjemand ihre Herkunft bestimmen konnte, dann diese beiden. Skelton galt als ein methodisch arbeitender Spezialist, die größte Autorität zur mittelalterlichen Kartografie, und sein Echtheitszertifikat hätte den Ausschlag geben können. Allerdings behielt er seine Meinung – ja sogar die Tatsache, dass er die Landkarte überhaupt zu Gesicht bekommen hatte – acht Jahre lang für sich.

Wie hatten Skelton und Painter überhaupt von ihr erfahren? Wenigstens drei Monate, bevor Enzo Ferrajoli Witten die Landkarte zeigte, war er bei dem führenden Londoner Händler Irving Davis vorstellig geworden. Davis lieh sie sich »zur Ansicht« aus, brachte sie dann aber, weil die Herkunft ihm Sorgen machte, ins British Museum. Skelton und Painter prüften sie tagelang und pausten sie sogar durch, eine sonst eigentlich verpönte Praxis.

Beide hielten die Landkarte für echt. Jahre später bezeichnete Painter sie als »wichtige und authentische Botschaft aus dem Mittelalter zu einem bisher unbekannten Moment in der Weltgeschichte und der Geschichte der Entdeckung Amerikas. Sie ist eine echte Stimme aus der Vergangenheit, die noch immer lebt und nie mehr zum Schweigen gebracht werden darf.« Doch Painter und Skelton wussten auch, dass diese Meinung auf enormen Widerspruch stoßen würde, und Skelton war nicht bereit, seinen Ruf deswegen aufs Spiel zu setzen und eine eindeutige Echtheitsgarantie abzugeben. Vielleicht fürchtete er auch, die Karte sei gestohlen. Also ging sie zurück an Davis, und der gab sie Ferrajoli zurück.

Witten, der nichts von der Sache mit dem British Museum wusste, musste annehmen, dass er mit seiner Meinung, die Landkarte sei »sauber«, allein dastand. Im Winter 1958 überzeugte ihn ein Glückstreffer davon, dass er tatsächlich die Karte des Jahrhunderts gekauft hatte. Er bekam einen Anruf von Tom Marston, dem Kurator für mittelalterliche und Renaissanceliteratur an der Yale University Library.

Marston sagte, er habe einige neue interessante und echte Handschriften, die er ihm zeigen wolle. Zuerst zögerte Witten, sie sich anzusehen, weil er dachte, dass Marston (der ein Freund und regelmäßiger Kunde war) nur angeben wollte. Interessant fand er das Angebot dann aber doch, und eine Neuerwerbung stach ihm sofort ins Auge, eine Handschrift mit einem Teil des Speculum Historiale, einer enzyklopädischen Weltgeschichte aus der Feder des Dominikaners Vincent de Beauvais. Sie befand sich in einer abgegriffenen Bindung mit neuerem Rücken, die wahrscheinlich auf das 15. Jahrhundert zurückging, und Witten dachte, die kursive gotische Schrift könne vielleicht ein paar nützliche Parallelen zur Beschriftung der Vinland-Karte und der Historia Tartaorum aufweisen. Auch das Wort »Speculum« ließ alle Glocken schrillen.

Er lieh sich die Handschrift für eine Nacht aus und verglich die verschiedenen Bände. Fasziniert stellte er fest, dass das Wasserzeichen bei beiden Handschriften das gleiche war – der Kopf eines Stiers oder Ochsen. »Ein Maßband versetzte mir dann den nächsten Schock«, erinnerte er sich im Oktober 1989. »Die Blätter beider Bände waren genau gleich groß.« Und die Kolumnen der Dokumente wiesen eine sehr ähnliche Handschrift mit identischen Zwischenräumen auf. Und dann war da noch etwas, das letzte Puzzleteil: Die Wurmlöcher stimmten überein. Die Löcher vorn auf dem Speculum Historiale befanden sich an genau denselben Stellen wie auf der Vinland-Karte, und die Löcher im hinteren Teil passten genau zur Historia Tartaorum. Witten folgerte daraus, dass alle Dokumente offenbar einmal zusammengebunden waren. »Mein Adrenalin begann zu fließen«, erinnerte er sich. »Die wiedervereinigten Teile bestätigten einander nicht nur ihre Echtheit, sondern machten es auf den ersten Blick fast unmöglich, dass ein Teil davon eine moderne Fälschung war.«

Später am Abend rief er Marston an. Der Universitätsbibliothekar war einer der ersten gewesen, denen Witten die Vinland-Karte nach seiner Rückkehr aus Europa 1957 gezeigt hatte, und trotz seiner Begeisterung über den Fund hatten auch ihm die seltsamen Wurmlöcher zu denken gegeben. Jetzt aber, mit dem »Sandwich« des Speculum Historiale, konnten sie eine plausible Abfolge der Ereignisse rekonstruieren. Enzo Ferrajoli hatte ursprünglich die Vinland-Karte/Historia Tartaorum wie auch das Speculum Historiale (wahrscheinlich schon getrennt) erhalten, sie nicht als einen früher zusammengehörigen Band erkannt und das Speculum an den Londoner Händler Irving Davis verkauft. Davis hatte die Handschrift in einem seiner Kataloge angeboten, aus dem Marston sie für nicht einmal 100 Pfund angekauft hatte.

Witten und Marston gingen dann alle Möglichkeiten durch, dass die Landkarte – eindeutig der wertvollste und wichtigste der drei Bestandteile – doch eine Fälschung sein könnte. Sie spekulierten, dass ein Fälscher das Speculum (dessen Authentizität nie in Frage stand) »aufgehübscht« haben könnte, indem er die Karte auf leeren Pergamentstücken in einer zufällig ausgewählten mittelalterlichen Handschrift (der Historia Tartaorum) entwarf und beide zusammenband. Aber sie fanden, dass dafür jedes plausible Motiv fehlte. Auch konnten sie sich nicht vorstellen, warum der Fälscher dann den ganzen Band aufgeteilt hätte, wo doch gerade die gemeinsame Bindung ihm Authentizität verlieh. Um sicherzustellen, dass die Dokumente nicht wieder getrennt würden, schenkte Marston Cora Witten das Speculum Historiale. »Das war aus meiner Sicht keine edelmütige Geste«, schrieb er später, »denn ich hoffte, dass diese Großzügigkeit der Yale Library eine gewisse Kontrolle über den Verbleib der Karte geben würde, falls Mrs. Witten sich je entschließen sollte, sie zu verkaufen.«


Larry Witten (links) und der Experte des British Museum, R. A. Skelton. Skelton hielt die Karte für echt, zögerte aber, seine Reputation dafür aufs Spiel zu setzen.

Witten und Marston machten sich dann daran, andere von ihrem Fund zu überzeugen. Nicht alle waren dazu zu bewegen, einer jedoch zeigte sich sehr fasziniert – der reiche Yale-Absolvent und Philanthrop Paul Mellon. Mellon hielt die Vinland-Karte für echt und erklärte, er sei bereit, die Karte zu kaufen und sie zum Zwecke weiterer Forschungen und später dann, falls sie sich als echt erwiesen hätte, als anonyme Schenkung an Yale weiterzugeben. Aber zunächst einmal musste er sie besitzen: Er bot Cora Witten 300.000 Dollar, das Fünfundachtzigfache der Summe, die ihr Ehemann gezahlt hatte, was sie akzeptierte.

Dann jedoch sah es eine Zeitlang so aus, als müsste das Geld zurückbezahlt werden. Im Jahr 1961 wurde Enzo Ferrajoli von der spanischen Polizei festgenommen und ins Gefängnis gesteckt, weil er Bücher aus der Kathedrale von Saragossa gestohlen hatte. Achtzehn Monate verbrachte er in Haft, bevor er auf Bewährung freikam. Witten war für Ferrajolis Unschuld eingetreten und hatte erklärt, dass dessen Transaktionen mit der Kathedrale immer den Segen der Kirchenoberen gehabt hätten. Nach Monaten Unsicherheit konnte er erleichtert feststellen, dass die Vinland-Karte und die mit ihr verbundenen Handschriften nicht auf der langen Liste angeblich gestohlener Gegenstände auftauchten.


Im Laufe der nächsten fünf Jahre untersuchte eine Gruppe weltweit führender Kartografen unter dem Mantel der Verschwiegenheit jeden Aspekt der Karte. In ganz Europa wurden Fachleute für Pergament, Tinte und Bindung konsultiert. R. A. Skelton und George Painter vom British Museum flogen nach Yale, wo sie den Dokumenten mehr Zeit widmeten als allen anderen Werken, die sie je begutachtet hatten, andere Spezialisten aus Universitäten, darunter Tom Marston, taten dasselbe. Letztendlich kamen alle – mal mehr, mal weniger überzeugt – zu demselben Schluss: Sie standen mit ihrem guten Ruf dafür ein, dass die Karte echt war. Also bereiteten sie ausführliche Gutachten vor, die ihre Behauptung stützen sollten.

Alexander Orr Vietor, der Landkarten-Kurator der Yale University Library, erklärte: »Bei gewissen historischen Fragen … kann die Entdeckung eines einzigen neuen Dokuments das bis dato herrschende Wissen entscheidend ändern; deshalb wird die Veröffentlichung dieses Dokuments zu einer Verantwortung, der man sich nicht entziehen kann.« In diesem Fall, so sagte Vietor, sei er bereit, die Last zu schultern, weil es um Objekte von »sensationellem Neuigkeitswert«gehe. Er behauptete, die Vinland-Karte enthalte nachweislich »die früheste bekannte kartografische Repräsentation irgendeines Teils der Amerikas«, und kam zu dem Schluss, dass alle Belege und alle Fachleute »ohne Vorbehalte die Echtheit der Handschrift« bestätigten. Die Landkarte und die Handschriften wurden der Öffentlichkeit am 9. Oktober 1965 vorgestellt. Yale University Press veröffentlichte ein 300-Seiten-Buch, das die Dokumente deutete und die Vermutungen zu ihrer Herkunft analysierte, während die Objekte selbst in der gerade eröffneten Beinecke Library ausgestellt wurden, einer beeindruckenden neuen Erweiterung des Campus von Yale, die speziell für die Unterbringung der kostbaren Sammlung antiquarischer Bücher und Landkarten geplant worden war. So fand die Vinland-Karte einen Platz neben einer Gutenberg-Bibel.

Die intensive Berichterstattung in den Medien brachte die Bombe schließlich zum Platzen. Laurence Witten erinnerte sich, dass »offenbar alle Italiener und Italo-Amerikaner sich darüber aufregten, dass es irgendjemand wagte, Kolumbus die Entdeckung der Neuen Welt abzusprechen, und diese Beleidigung war umso schlimmer, weil die Ankündigung aus Yale kurz vor den Columbus Day fiel.« Witten wurde von Presseanfragen überrollt, und einige Reporter taten etwas im Jahr 1965 noch Unübliches – sie klopften an seine Haustür. Witten umriss ihnen knapp die Details, achtete aber sorgfältig darauf, dass er nicht enthüllte, wo oder wie genau er an die Dokumente herangekommen war.

Jetzt lag die Beweislast ganz offensichtlich bei den Zweiflern. Jahrelang gingen die schon bekannten Argumente in Bezug auf das Material und die Herkunft hin und her. Im Jahr 1966 fand eine internationale Konferenz im Smithsonian in Washington statt, ein Jahr später traf man sich zu weiteren Untersuchungen im British Museum. Doch bis 1974, als die erste naturwissenschaftliche Analyse der Karte alles auf den Kopf stellte, tat sich wenig.

Fortschritte in der Mikroskopie ermöglichten es dem auf diesem Gebiet führenden Unternehmen McCrone Associates aus Chicago, die Tinte der Karte zu analysieren, und die Ergebnisse waren verheerend. Walter McCrone und seine Ehefrau Lucy entnahmen der Tinte auf der Landkarte 29 Mikropartikel und kamen zu dem Schluss, dass sie zwischen drei und fünfzig Prozent Titan in Form von Anatas enthielten, einem reinen Titandioxid-Pigment, das erst seit etwa 1920 im Handel ist. Und sie fanden einen Hinweis auf einen Fälschertrick: Eine Schicht schwarze Tinte war offenbar über gelb-brauner Tinte in einem getrennten Schritt aufgetragen und dann weitgehend abgekratzt worden, um »das Aussehen ausgeblichener Tinte nachzuahmen«. Walter McCrone behauptete, die Wahrscheinlichkeit, jenen Anatas, den er entdeckt hatte, in mittelalterlicher Tinte zu finden, sei etwa so groß wie »die Wahrscheinlichkeit, dass Nelsons Flaggschiff bei Trafalgar ein Luftkissenboot war«. Yale sah sich zu dem Eingeständnis gezwungen, dass die Landkarte »eine moderne Fälschung sein könnte«.

Witten, George Painter und andere weigerten sich jedoch, diese Analyse als letztes Wort in der Sache anzusehen; lieber vertrauten sie ihrem Instinkt und der historischen Beweisführung. Und tatsächlich schien die Vinland-Karte in den folgenden Jahren wieder Boden gutzumachen. Im Jahr 1985 wurde die Landkarte noch einmal untersucht. Die Wissenschaft hatte Fortschritte gemacht und schlug mithilfe eines neuen, hochgelobten Röntgenapparates am Crocker Nuclear Laboratory an der University of California in Davis ein neues Kapitel in dieser Geschichte auf.: Untersuchungen mit dem Protonenstrahl eines Zyklotrons weckten Zweifel am Bericht von McCrone und ließen vermuten, dass die winzigen Tintenpartikel in der älteren Analyse nicht repräsentativ für die Tinte der ganzen Karte waren. Die Naturwissenschaftler in Davis fanden nur winzige Spurenelemente Titan, und auch die fehlten auf etwa der Hälfte der untersuchten Oberfläche. Zudem entdeckte das Zyklotron zwanzig weitere Spurenelemente, von denen McCrone viele übersehen hatte, darunter Kupfer, Nickel, Kobalt und Blei, alles natürliche Substanzen, die in mittelalterlichen Tinten häufig, in modernen aber praktisch nie zu finden sind. Das problematische Titan fand sich auch in der Gutenberg-Bibel – und zwar in größeren Mengen als auf der Vinland-Karte.

Und so war die Landkarte wieder im Spiel. Wieder wurde eine internationale Konferenz organisiert, und Yale University Press kündigte eine überarbeitete Auflage des Katalogs von 1965 an, der die Präsentation der Karte begleitet hatte. Als diese 1995 erschien, hofften die Herausgeber, dass sie zur »Rehabilitation eines der wichtigsten kartografischen Funde in der Geschichte« führen würde, während George Painter, der die Karte zum ersten Mal fast vierzig Jahre zuvor im British Museum untersucht hatte, sie »eine authentische Stimme aus der Vergangenheit« nannte, »die noch immer lebt und nie mehr zum Schweigen gebracht werden darf.« Andere Fachleute dagegen blieben skeptisch. William Reese, einer der weltweit führenden Experten, wenn es um Americana geht, hat die Vinland-Karte mehr als einmal in der Hand gehabt und glaubt, dass »sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent falsch und von 20 Prozent echt ist«.** Und 2004 versuchte die Kartenhistorikerin Kirsten Seaver nicht nur zu beweisen, dass sie eine Fälschung ist, sondern machte sogar einen Vorschlag, wer sie gefälscht haben könnte. Diese Überlegung war bei den früheren Untersuchungen oft außen vor geblieben. Jetzt machte sie den österreichischen Jesuiten Josef Fischer dafür verantwortlich. Fischer war Fachmann für mittelalterliche Kartografie und die Geschichte der nordischen Entdeckungsreisen, und Seaver vermutet, dass für ihn nicht finanzielle Vorteile (die es ja auch praktisch nicht gab) im Vordergrund standen, sondern eine Art Rache: Fischer und seine Ordensbrüder waren Mitte der 1930er Jahre mit den Nazis aneinandergeraten, und als der Krieg ausbrach, wurde er mehrfach gezwungen, Arbeit und Heimat zu verlassen, bis er schließlich auf Schloss Wolfegg in Baden-Württemberg unterkam. Dort könnte er die Landkarte gezeichnet haben, um die nationalsozialistischen Wissenschaftler an der Nase herumzuführen. Sie hätten zwar einerseits durch die Karte die Überlegenheit der »nordischen Rasse« belegt gesehen, andererseits aber hätte sie die Vorstellung, dass die Entdeckung von Vinland dem Wunsch, den römisch-katholischen Glauben zu verbreiten, zu verdanken sei, entsetzt. Eine Rezension zu diesen Theorien in Imago Mundi, der führenden Zeitschrift des Faches, bezeichnete den Ansatz als »genial und stringent«, aber als reine Hypothese.***

Noch heute sind die Vinland-Karte und die zugehörigen Handschriften die wohl wertvollsten Objekte im Bestand der Beinecke Library (die Karte wurde einmal für Versicherungszwecke auf 20 Millionen Dollar geschätzt). Beide werden mit feiner Zurückhaltung als »Gegenstand größerer Debatten« bezeichnet. Doch selbst wenn die Karte eine Fälschung ist (und das werden wir vielleicht nie ganz genau wissen), geht ihr wahrer Wert über die Frage nach Echtheit oder Fälschung hinaus. Ihr Wert liegt in der Geschichte, die sie erzählt. Das Geheimnis um Vinland zeigt uns die Macht der Landkarten, zu faszinieren, Neugier zu erregen und zu provozieren, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen und die Verbindung zu den faszinierenden Geschichten über das Woher und Wohin der Menschheit zu knüpfen.

* Der vollständige Text lautet: »Mit dem Willen Gottes und nach einer langen Reise, die sie von der Insel Grönland aus nach Süden zu den übrigen äußersten Bezirken des westlichen Ozeans durch das Eis machten, entdeckten die Gefährten Bjarni und Leif Eriksson ein neues, sehr fruchtbares, nämlich weintragendes Land, das sie die Insel Vinland nannten. Erik, apostolischer Gesandter und Bischof von Grönland und der angrenzenden Länder, entsandt in dieses weiträumige und überaus reiche Land, traf im letzten Jahr unseres heiligsten Vaters Paschalis ein, blieb dort im Namen des allmächtigen Gottes für lange Zeit sowohl im Sommer wie auch im Winter und kehrte danach gen Grönland nach Nordosten zurück und setzte darauf in unterwürfigster Befolgung höheren Willens seine Reise fort.« Die Datierung der Entdeckung zwischen auf die Zeit zwischen 985 und 1001 geht auf einen umstrittenen Bericht in den Isländersagas, einer Sammlung von Reisegeschichten aus dem 14. Jahrhundert zurück, wobei man allerdings annimmt, dass Bjarni und Leif Eriksson diese Fahrten eher getrennt als gemeinsam unternahmen.

** William Reese kuratierte unter dem Titel »Creating America« eine Ausstellung in der Beinecke Library in Yale, in der er die Vinland-Karte neben einem anderen umstrittenen Objekt präsentierte, einer Karte, die die angeblichen Reisen von Nicolò und Antonio Zeno illustrierte. Die Zeno-Brüder könnten Nordamerika demnach um 1380 herum zu Gesicht bekommen haben, allerdings dokumentierte erst über zweihundert Jahre später ein Nachkomme in Venedig ihre Expeditionen in Form einer Landkarte. Diese zeigte Grönland als Teil des europäischen Festlands, aber es tauchten auch »Estoliland« und »Drogho« auf, Landstriche, bei denen es sich um Labrador und Neufundland handeln könnte.

*** P. D. A. Harvey, The Vinland Map, R. A. Skelton and Josef Fischer Imago Mundi, 2006, Bd. 58(1), S. 95–99.

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