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Hic sunt dracones
ОглавлениеIn der New York Times vom 29. Februar 2012 begann der belesene Kolumnist Thomas L. Friedman seinen Artikel über die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings mit folgenden Sätzen: »Im Mittelalter wurden gefährliche oder nicht kartierte Gebiete auf Landkarten oft mit der Warnung: ›Hier sind Drachen‹ versehen. Heute würden Kartenzeichner sicher den gesamten Nahen Osten mit diesem Hinweis beschriften.« Eine hübsche historische Parallele, aber doch nicht ganz richtig. Der Hinweis »Hier sind Drachen« bzw. »Hic sunt dracones« taucht in Wirklichkeit nie auf einer historischen Landkarte auf. Vor allem in der englischen Literatur gibt es viele ironische, nostalgische und fürchterliche Verwendungen des Ausdrucks, doch versuchen Sie einmal, diese drei Worte auf einer Karte aus dem Mittelalter oder der Renaissance zu finden – etwa in den dicken holländischen Atlanten oder auf den so fantasievollen deutschen oder britischen Karten, die zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert entstanden – Sie werden scheitern. »Hier sind Drachen« ist ein Landkartenmythos, ebenso mythisch und wunderbar wie die Drachen selbst, und man muss sich fragen, wie es dazu gekommen ist.
Freie Stellen auf Landkarten erwecken den Eindruck, als fehlten hier wichtige Informationen. Also setzt man etwas ein, um diese Peinlichkeit zu überspielen: sehr große geschwungene Ländernamen (M-E-X-I-C-A-N-A), Textstücke über die ungewöhnliche Flora eines Landes, eine stolze Nachricht des Kartenzeichners, seine neue Projektion betreffend. Einst verwendete man einen anderen Ausdruck für das noch Unerforschte: Terra Incognita. Doch so romantisch das auch klingen mag, gegen Tiere, oder noch besser fiktive Ungeheuer, kommt es nicht an. Auf den frühesten mittelalterlichen Karten, die, wie wir gesehen haben, mit ihren moralischen Botschaften eher zu furchteinflößenden Darstellungen neigen, ging der Trend dahin, die bösartigsten, schuppigsten und scharfzähnigsten Fische zu zeigen, die Seeleute je zu Gesicht bekommen hatten, und die riesigsten, hässlichsten geflügelten Ungeheuer, vor denen listige Eingeborene furchtsame Siedler je gewarnt hatten. Manchmal war es auch eine Art Stille Post: Das Tier erblickte als Elefant das Licht der Welt, wuchs zum Mammut heran und verwandelte sich, als die Karten Afrikas oder Asien in London oder Amsterdam gezeichnet wurden, in einen Alptraum. In China, so könnte man vermuten, nahm ein solches Tier natürlich die Gestalt eines heiligen kulturellen Symbols an, die Gestalt des Drachens.
»Hier sind Drachen« taucht allerdings vielleicht doch auf einem Globus auf, aber dies ist eher eine Sache der Interpretation und der Übersetzung. Der Hunt-Lenox-Globus soll um 1505 entstanden sein, Herkunft und Schöpfer sind unbekannt. Es ist ein kleiner, hohler Kupferball von nicht einmal 12 Zentimetern Durchmesser mit Gravuren, und die New York Public Library präsentiert ihn stolz als das früheste bekannte Exemplar eines Globus, auf dem der »Mundus Novus« – die Neue Welt – dargestellt ist. Den lateinischen Satz HIC SUNT DRACONES, der uns interessiert, liest man knapp unter dem Äquator in »Ostindien« (China). Es könnte ein Hinweis auf chinesische Drachen sein, die man für echte Tiere hielt. Aber es gibt auch Spielverderber unter den Experten, die meinen, man sollte es als »Hier leben die Dagronier« übersetzen, also als einen Hinweis auf die Kannibalen des Königreiches Dagronia, die Marco Polo in seinem Reisebericht erwähnt.
Eine frühe Drachendarstellung aus dem 13. Jahrhundert auf der Ebstorfer Weltkarte.
Ganz anders sieht es mit Drachenbildern auf Landkarten aus. Da gibt es viele prächtige Exemplare. Die amerikanische Historikerin Erin C. Blake und ihre Freunde haben eine wissenschaftliche Liste früher Karten und Globen zusammengestellt, auf denen sich Abbildungen von Drachen (oder drachenähnlichen Wesen wie etwa Skorpionen mit Zungen) finden. Dazu gehört auch die schon erwähnte Londoner Psalterkarte aus der Zeit um 1262, bei der zwei Drachen die Welt von unten stützen. Blake führt auch an, dass auf der Ebstorfer Weltkarte das Wort »Draco« in Südostafrika zu lesen ist.
Sie hat zudem geprüft, wann der Satz in der Literatur auftaucht, und ist nur auf relativ späte Belege gestoßen: Der erste findet sich in einer Kurzgeschichte von Dorothy L. Sayers über eine Schatzsuche, »Das gelehrte Abenteuer mit dem Drachenhaupt« aus dem Jahr 1928, in der ein Protagonist berichtet, er habe »hic dracones« auf einer alten Karte gelesen.* Vielleicht stimmt das ja auch, und wir haben es nur noch nicht gefunden.
* Dorothy L. Sayers war ganz offensichtlich eine Anhängerin dieses Ausdrucks und der Möglichkeiten, die er bot. Schon 1918 findet man in ihrer Gedichtsammlung Catholic Tales and Christian Songs die folgende Formulierung, eine Weltsicht, die uns wohl alle anspricht: »Hier sind Drachen zu bezwingen, Ruhm und Ehre zu gewinnen; und sterben wir in unsrem Streben, nun, wie nichtig ist der Tod!«