Читать книгу Karten! - Simon Garfield - Страница 7
Einleitung
Die Karte, die sich selbst erschuf
ОглавлениеIm Dezember 2010 veröffentlichte Facebook eine neue Weltkarte, die ebenso erstaunlich wie schön war. Einerseits konnte man sie sofort als Weltkarte erkennen – eine Varianten der Standardprojektion von Gerardus Mercator aus dem 16. Jahrhundert – andererseits mutete sie aber merkwürdig fremd an. Sie bestand aus einer leuchtend blauen Fläche, die mit hauchdünnen, einem Seidengeflecht ähnlichen Linien überzogen war. Weshalb die Karte seltsam wirkte? China und Asien waren kaum zu erkennen, und Ostafrika schien abgetaucht zu sein. Andere Länder wiederum befanden sich offensichtlich nicht an ihrem richtigen Platz. Dieser Eindruck entstand, weil es sich hier nicht um eine Weltkarte handelte, auf der alle Facebook-Mitglieder weltweit verzeichnet waren, sondern um eine Karte, die aus Facebook-Kontakten generiert worden war. 500 Millionen Kartografen auf der ganzen Welt hatten die Karte zeitgleich gezeichnet.
Ein Praktikant namens Paul Butler hatte mithilfe der Datenbank der Firma die Standortkoordinaten aller Mitglieder festgestellt und diese mit den Koordinaten der Orte verbunden, zu denen die Nutzer Kontakte pflegten. In seinem Blog erklärte Butler dazu: »Jede Linie könnte für eine Reisebekanntschaft stehen, für ein Familienmitglied im Ausland oder für einen alten Schulfreund, den das Leben woandershin verschlagen hat.« Damals hatte Facebook ungefähr 500 Millionen Mitglieder, weshalb Butler ein ziemliches Chaos erwartet hatte, ein enges Gewirr aus Linien, das sich zu einem Klumpen zusammenballen würde (ähnlich den Kabeln auf der Rückseite eines dieser frühen Computer). »Stattdessen«, erinnert er sich, »zeichnete sich nach ein paar Minuten der Datenübertragung ein erkennbarer Umriss ab, und ich war ziemlich überrascht. Der Klumpen hatte sich in eine detaillierte Weltkarte verwandelt. Nicht nur die Kontinente waren zu erkennen, sogar einzelne Landesgrenzen wurden sichtbar. Was mich aber am meisten verblüffte, war die Erkenntnis, dass die einzelnen Linien nicht für Küsten, Flüsse oder politische Grenzen standen, sondern für reale menschliche Beziehungen.«
Die Karte war das ideale Sinnbild für etwas, das mir der Facebockgründer Mark Zuckerberg ein Jahr, bevor Butler diese Karte kreierte, in einem Interview erzählt hatte. »Bei Facebook handelt es sich nicht um eine neu erschaffene Gemeinschaft«, sagte er, »sondern lediglich um eine Zusammenführung der vielen unterschiedlichen Gemeinschaften, die weltweit schon längst existieren.«
Die digitale Revolution – so wie sie sich auf der Facebook-Karte fein säuberlich eingesponnen darstellt – hat das Kartieren stärker verändert, als alle Neuerungen der Kartografie der letzten Jahrhunderte zusammen. Wir haben Karten-Apps auf unseren Handys, Google Earth auf den Computern und können uns kaum noch daran erinnern, wie wir uns früher ohne das alles zurechtfanden. Ich erinnere mich vage daran, dass wir Karten kauften, die man zusammenfalten konnte, oder besser gesagt, die man zusammenfalten konnte, solange sie neu waren, und danach nie wieder. Oder dass wir uns immer beinahe die Schulter ausgekugelt haben, wenn wir schwere Atlanten aus den Regalen zogen und uns dann beim Durchblättern des Index wunderten, wie viele Springfields es in den USA gibt.
Dass all diese kleinen Freuden zu verschwommenen Erinnerungen werden, ist keine unwesentliche Veränderung. Seit wir als Jäger und Sammler Nahrung und Schutz in den afrikanischen Ebenen suchten, sind physikalische Karten ein lebensnotwendiger Teil unserer Welt. Richard Dawkins geht davon aus, dass die allererste Karte entstand, als ein Spurensucher, der es gewohnt war, Pfaden zu folgen, eine Karte in den Staub zeichnete. Und tatsächlich konnten spanische Archäologen erst vor Kurzem eine Art Karte ausmachen, die vor ungefähr 14.000 Jahren von Höhlenbewohnern in den Stein gekratzt wurde. Dawkins geht mit seinen Spekulationen sogar noch weiter, indem er behauptet, das Erstellen von Karten könnte mit seinem zugrunde liegenden Konzept von Maßstab und Raum ein Auslöser für die Ausdehnung und Entwicklung des menschlichen Gehirns gewesen sein.
Karten sind mit anderen Worten Zeugen unserer Menschlichkeit. Sie stehen in engem Zusammenhang mit unserer Geschichte und ordnen diese immer wieder neu, wobei sie unsere besten wie auch schlechtesten Eigenschaften widerspiegeln (Entdeckergeist und Neugier, Streit und Zerstörung). Darüber hinaus dienen sie als Belege für die sich fortwährend verändernden Machtstrukturen. Selbst als Individuen scheinen wir das Bedürfnis zu haben, unsere Wegstrecken festzulegen, unser Fortkommen aufzuzeichnen und uns potentielle Entdeckungen oder Wege aus dem Gewohnten heraus vorzustellen. Die Sprache der Karten ist ein fester Bestandteil unseres Lebens. Wenn wir große Erwartungen haben, setzen wir hohe Maßstäbe. Die gut organisierten unter uns haben für alles einen Plan. Um etwas ausarbeiten zu können, brauchen wir Eckpunkte. Dinge, die uns nicht bekannt sind, haben wir nicht auf dem Schirm, und wenn wir nicht mehr weiter wissen, müssen wir uns orientieren (in alten Karten war Osten oben).
Karten faszinieren uns, weil sie Geschichten erzählen. In diesem Buch wird anhand ausgewählter Exemplare erzählt, wie besondere Karten entstanden sind, wer sie zeichnete, was er sich dabei dachte und wie wir sie heute benutzen. Wie jede einzelne Karte für sich ist natürlich auch diese Sammlung äußerst selektiv. Denn ein Buch über Landkarten ist notwendigerweise immer auch ein Buch über den Fortgang der Welt. So geht es um robustere Schiffe im 15. Jahrhundert, um die Triangulation im späten 16. Jahrhundert, um die Festlegung der Längengrade im 18., um Luft- und Satellitenaufnahmen im 20. und in diesem Jahrhundert schließlich um das Internet, GPS und Navigationssysteme – und damit möglicherweise auch um eine zweite Umgestaltung unserer individuellen räumlichen Wahrnehmung.
Denn auch das Internet hat eine außergewöhnliche und bedeutende Veränderung mit sich gebracht. Bevor Astronomen ihren Kopf riskierten und etwas anderes behaupteten, stand die Erde unverrückbar im Zentrum des Kosmos. Auch ist es noch gar nicht lange her, da war Jerusalem der Mittelpunkt unserer Karten (oder hätten wir in China gelebt, wäre es Yushu gewesen). Noch etwas später haben dann Großbritannien oder Frankreich das Herz ihrer Imperien markiert. Und heute steht jeder von uns im Zentrum seiner eigenen Kartenwelt. In unseren Computern, Handys und Autos planen wir unsere Strecken nicht mehr von A nach B, sondern von uns selbst (»Aktueller Standort«) zum ausgewählten Zielort. Jede Entfernung wird von unserem persönlichen Aufenthaltsort aus gemessen, und wenn wir reisen, werden wir, ob wir wollen oder nicht, sogar selbst kartografiert.
Anfang dieses Jahres hat ein Freund von mir etwas Seltsames mit seinem Blackberry erlebt. Er war beim Wandern in den italienischen Alpen und wollte Höhenlinien und Steigungen überprüfen. Als er dazu sein Blackberry anschaltete, war seine Transport for London bicycle App geöffnet (ein Handy-Tool, bei dem man einen beliebigen Standort in London eingeben kann und dann erfährt, wie viele Räder an den einzelnen Fahrradstationen verfügbar sind). Eigentlich kein besonders hilfreiches Tool, wenn man sich gerade in Italien befindet, zumindest dachte das mein Freund. Tatsächlich funktionierte die App aber auch dort, denn die Karte, die Transport for London mit seiner Fahrrad-Info belegt hatte, umspannte die gesamte Welt. Die Fahrräder waren aber nur der Anfang. Die App konnte eine Strecke nach Ravello, Kapstadt oder Auckland berechnen. Wo immer er auch hingehen mochte, mein Freund war die Karte, der Dreh- und Angelpunkt, um den die gesamte Welt pflichtbewusst rotierte. In gewisser Weise wurde er von dieser App aber auch verfolgt. Irgendjemand wusste, auf welchem italienischen Berg er gerade stand, genauso wie dieser jemand auch wusste, wer gerade mit dem Rad fuhr, das er tags zuvor abgestellt hatte.
Wie um alles in der Welt sind wir soweit gekommen? Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort, kann aber auch wie ein Rundgang durch eine Ausstellung gelesen werden. Eine zwangsläufig imaginäre Ausstellung, denn sie zeigt Stücke, die man unmöglich an einem einzigen Platz zusammentragen könnte: längst zerstörte Weltsichten aus dem alten Griechenland, berühmte Schätze aus Universitäten auf der ganzen Welt, Wahnsinnsstücke aus der British Library und der Library of Congress, Raritäten aus Deutschland, Venedig und Kalifornien. Es gibt Seekarten, Atlanten, Screenshots und Smartphone-Apps. Einige Exponate sind bedeutender als andere, ein paar werden nur zum Vergnügen der Betrachter ausgestellt. Die Bandbreite ist ziemlich groß: einfache und aufwändige Karten, Filmkarten und Schatzkarten, Karten mit einer Vorliebe für Kraken, Afrikakarten, Karten der Antarktis und Karten von Orten, die es nie gegeben hat. Manche Karten geben der ganzen Welt Gestalt, während andere sich auf eine einzelne Straße oder die Flugroute nach Casablanca beschränken.
Aber auch die Menschen, die uns durch diese Ausstellung führen, werden Beachtung finden: großspurige Händler, pingelige Vermesser, spekulierende Philosophen, ruchlose Sammler, unzuverlässige Seefahrer, pfeifende Wanderer, unerfahrene Globusbauer, nervöse Museumsdirektoren, großartige Neurowissenschaftler und gierige Eroberer. Einige von ihnen tragen berühmte Namen: Claudius Ptolemäus, Marco Polo, Winston Churchill, Indiana Jones. Andere sind weniger bekannt: ein venezianischer Mönch, ein New Yorker Händler, ein Londoner brain mapper (»Gehirnkartograf«), ein niederländischer Unternehmer, ein afrikanischer Stammesführer.
Den Katalog zu dieser Ausstellung halten Sie bereits in Händen, lassen Sie uns nun in einer Bibliothek an der Küste Ägyptens beginnen.