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Kluge Köpfe und neues Wissen

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Schon die allerersten Karten waren eine Herausforderung für die menschliche Vorstellungskraft, und genaugenommen sind sie das bis heute geblieben. Stellen Sie sich Ihr Schlafzimmer vor. Wie gut könnten Sie es kartieren? Könnten Sie, mit Bleistift und Zeichenblock ausgerüstet, das Zimmer so zeichnen, dass jemand, der es noch nie zuvor betreten hat, eine angemessene Vorstellung davon bekommt? Wäre die Größe des Betts proportional richtig zur Tür und zum Nachttisch? Stünde der Maßstab im richtigen Verhältnis zur Deckenhöhe? Was wäre einfacher, die Küche zu zeichnen oder das Schlafzimmer?

Das alles dürfte noch nicht allzu schwierig sein, denn diese Orte kennen Sie sehr gut. Aber wie sieht es mit dem Wohnzimmer eines Freundes aus? Hier müssten Sie sich teilweise schon auf ihr Gedächtnis verlassen – würden Sie das hinbekommen, oder hätten Sie Probleme? Wie sieht es mit Ihrer ersten Schule aus: Erinnern Sie sich noch, wo genau Ihr Klassenzimmer im Vergleich zu den anderen lag? Und wie ist es mit der Welt? Könnten Sie die zeichnen? Könnten Sie die Mongolei und die Schweiz im richtigen Größenverhältnis und in ihrer geografischen Lage zueinander darstellen? Könnten Sie auch nur die Hälfte der Ozeane auf der Südhalbkugel korrekt wiedergeben? Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie hätten noch nie zuvor eine Landkarte oder einen Globus zu Gesicht bekommen und nie auch nur einen dieser Orte selbst gesehen? Könnten Sie eine Weltkarte zeichnen, die ausschließlich auf dem gründet, was andere Ihnen erzählt oder niedergeschrieben haben? Und wenn Sie das geschafft hätten, würden Sie sich dann darüber freuen, dass diese Karte auch noch 1350 Jahre später die am häufigsten benutzte Weltkarte überhaupt wäre?

Ich denke, nur wenn Sie Claudius Ptolemäus hießen. Einmal abgesehen davon, dass das P in seinem Namen stumm ist, also nicht gesprochen wird, wissen wir erstaunlich wenig über Ptolemäus, vor allem, wenn man bedenkt, welch großen Einfluss er auf die Welt genommen hat. Mit Sicherheit wissen wir jedoch, wo er gearbeitet hat: in einem der größten Bauwerke des alten Ägypten, ein Stückchen landeinwärts in einer bekannten Hafenstadt an der Mittelmeerküste.


Zu den besten Geschichten des Altertums gehört die Legende der verschwundenen großen Bibliothek von Alexandria. Sie ist vor allem deshalb so faszinierend, weil wir uns etwas Ähnliches in der modernen Welt kaum mehr vorstellen können. Die heutige British Library, die von jeder Neuerscheinung in englischer Sprache ein Exemplar erhält, ist eine Bibliothek mit riesigem Bestand. Dennoch hat sie weder das Bestreben, eine vollständige Sammlung aller weltweit veröffentlichten Texte zu besitzen, noch möchte sie das gesamte Wissen der Menschheit unter ihrem Dach zusammentragen. Dasselbe gilt etwa für die Bodleian Library in Oxford oder die Public Library von New York. Die große Bibliothek von Alexandria dagegen verfolgte diese ehrgeizigen Ziele, und sie existierte zu einer Zeit, als sie auch durchaus noch erreichbar waren.

Seit ihrer Gründung um 330 v. Chr. sollte die Bibliothek jeden Fetzen nützlicher Information in ihren Mauern aufnehmen. Andere, private Bibliotheken wurden beschlagnahmt und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Handschriften, die die Stadt auf dem Seeweg erreichten, wurden kopiert oder übersetzt, aber nur ein paar wenige von ihnen wurden tatsächlich zurückgegeben. Meist segelten die Schiffe nur mit den Abschriften der Originale an Bord wieder nach Hause. Gleichzeitig entwickelte sich Alexandria auch zum europaweit wichtigsten Hersteller von Papyrus, aus dem die meisten Schriftrollen der Bibliothek bestanden, und ganz plötzlich gingen die für den Export zur Verfügung stehenden Papyrusvorräte zur Neige. Manche behaupteten, sämtlicher Papyrus würde für die große Bibliothek gebraucht, andere wiederum vermuteten ein Komplott, das ein Anwachsen rivalisierender Sammlungen verhindern sollte: Dieses elitäre Denken und leidenschaftliche Bemühen dürften wohl jedem besessenen Buch- und Kartensammler bekannt sein.

Die Große Bibliothek war – wie die Stadt selbst – ein Erbe Alexanders des Großen. Auf einer Reise entlang der westlichen Ausläufer des Nildeltas war er auf einen Platz gestoßen, von dem er sagte, er sei »der allerbeste, um dort eine Stadt zu gründen«. So jedenfalls berichtet es der römische Historiker Arrian. Die bald schon florierende Neugründung markierte eine Verschiebung der politischen und kulturellen Macht weg von Athen.

Aristoteles hatte Alexander in Ethik, Dichtkunst, Biologie, griechischem Drama, Logik und Ästhetik unterrichtet und in ihm die Begeisterung für Homer geweckt. Sein Schüler trug die Ilias in allen Kämpfen bei sich und handelte nach ihren Lehren. Nachdem er das Perserreich erobert, Tyros zerstört und schließlich auch Ägypten zur Kapitulation gezwungen hatte, regte sich in ihm der Wunsch, sich selbst dort ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen. Sein Vermächtnis sollte jedoch kein Zeichen der Zerstörung, sondern ein Symbol der Wissenschaft sein, ein Ort, von dem aus sich die hellenistische Weltsicht in seinem ganzen Reich und darüber hinaus verbreiten würde. Also entwarf er Pläne für eine Stadt, die von einem besonderen Engagement für die Wissenschaft, von hohen Idealen und einer guten Regierung geprägt war. Und eine gewaltige Bibliothek sollte ihr Pantheon sein.

Die Bibliothek von Alexandria, die erst Jahrzehnte nach Alexanders Tod 323 v. Chr. fertig wurde, war im Grunde die weltweit erste Universität, ein Ort der Forschung und des Austauschs, zu dessen Gelehrten auch der Mathematiker Archimedes und der Dichter Apollonius zählten. Wissenschaftliche und medizinische Theorien wurden dort ebenso diskutiert wie Fragen der Philosophie, der Literatur oder der politischen Verwaltung. Und auch die ersten brauchbaren Weltkarten wurden dort gezeichnet. Für diese Aufgabe war eine Hafenstadt am Schnittpunkt westlicher und östlicher Handelsrouten, die den Gelehrten zu Zeugnissen aus erster Hand von Seeleuten und Reisenden verhalf, der ideale Standort.


Würden wir heute zufällig auf eine Karte des antiken Alexandria stoßen, hätten wir eine akkurat angelegte Stadt vor uns, ein Gitternetz aus Prachtstraßen und Hauptverkehrsadern: Im Osten das dicht bevölkerte jüdische Viertel, im Zentrum das königliche Viertel mit Bibliothek und Museion. Die Stadt ist von Wasser umgeben, mit dem Großen Hafen, an dem auch die Königspaläste liegen, auf kleinen Inseln im Norden. Am Nordhafen der Stadt erhebt sich der Pharos, eines der sieben Weltwunder – ein über hundert Meter hoher Leuchtturm mit einem Feuer auf der Spitze, das von einem Spiegel reflektiert wird und fast fünfzig Kilometer weit aufs Meer hinaus sichtbar ist. Die Metapher drängt sich geradezu auf: Alexandrias Leuchtfeuer war das Wahrzeichen einer befreiten und befreienden Stadt, in der das erleuchtete Denken pulsierte.

Aber wie sah zu Beginn des 3. Jahrhundert v. Chr. die Welt jenseits von Alexandria aus?

Trotz der großen wissenschaftlichen und mathematischen Leistungen der Bibliothek steckte die geografische Forschung damals noch in den Kinderschuhen. Die ersten Gelehrten, die sich mit Geografie befassten, schufen eine wichtige Proto-Weltkarte, die weitgehend auf den Schriften des griechischen Geschichtsschreibers Herodot beruhte. Dieser hatte seine Historien in neun Bänden zwar schon anderthalb Jahrhunderte zuvor vollendet, doch seine Schilderungen vom Aufstieg und Fall des Perserreichs und den persisch-griechischen Kriegen waren noch immer die detaillierteste Informationsquelle zur damals bekannten Welt. Aber auch Homer galt als wichtige Quelle geografischen Wissens, nicht zuletzt wegen der in der Odyssee beschriebenen Reisen.

Man geht davon aus, dass diese alexandrinische Karte die Welt rund oder zumindest rundlich darstellte, eine Vorstellung, die im 4. Jahrhundert v. Chr. allgemein anerkannt war. Möglicherweise teilte Herodot diese Weltsicht, er könnte die Erde jedoch auch als eine auf Wasser schwimmende flache Scheibe gesehen haben. Homer war im 8. Jahrhundert v. Chr. mit Sicherheit ein Vertreter der Scheibentheorie und glaubte, man würde irgendwann das Ende der Welt erreichen und herunterfallen, wenn man nur lange genug in eine Richtung segelte. Im 5. Jahrhundert v. Chr. jedoch vertrat Pythagoras überzeugend die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei. (Der Mythos, dass man sich die Erde noch bis Kolumbus als Scheibe vorstellte, hält sich seltsamerweise unglaublich zäh. Warum wohl? Ich denke, es ist die Mischung aus allgemeiner Unwissenheit und unserer Begeisterung für gute Geschichten: Das Bild von Kolumbus, der mit der Nachricht, seine Flotte sei entgegen allen Erwartungen nicht in einen großen Abgrund gefallen, nach Hause zurückkehrt, ist schließlich überaus reizvoll.)

Herodot vertrat zwar auch die allgemeine Überzeugung, die Welt sei in drei Teile – Europa, Asien und Libyen (Afrika) – geteilt, widersprach jedoch der ebenfalls weit verbreiteten Ansicht, alle drei Teile seien gleich groß und machten die gesamte Erde aus. Britannien oder Skandinavien kamen in seinen Werken nicht vor, und der Nil floss durch ganz Afrika bis ins marokkanische Atlasgebirge. Von Asien war lediglich ein kleiner, von Indien dominierter Teil erkundet. Herodot räumte gewisse Unsicherheiten bezüglich der Frage ein, ob Europa vollständig von Wasser umgeben sei, vertrat jedoch die Ansicht, dass dies bei Afrika der Fall sein könnte. Das Kaspische Meer beschrieb er (anders als die meisten seiner Nachfolger) völlig korrekt als einen riesigen See.

Mit der stetig wachsenden Sammlung in der Bibliothek von Alexandria nahmen Vielfalt und Zuverlässigkeit der Einzelinformationen über die Welt zu und somit auch die Möglichkeiten, Karten zu schaffen, die dieses Wissen widerspiegelten. Eratosthenes von Kyrene (im heutigen Libyen) zählte zu den ersten Gelehrten, denen es gelang, das neuerworbene geografische Wissen der Stadt in der Kunst der Kartografie umzusetzen. Der im Jahr 276 v. Chr. geborene Eratosthenes studierte Mathematik und Astronomie in Athen und entwickelte in einer Kombination dieser beiden Wissensgebiete die erste primitive Armillarsphäre, eine Reihe von kugelförmig angeordneten Metallringen, die die Positionen der Himmelskörper mit der Erde in der Mitte anzeigten.

Im Alter von 40 Jahren wurde Eratosthenes zum dritten Bibliothekar von Alexandria ernannt und begann kurz darauf sein großes Werk Geografie (Geographiká). Bisher hatte es noch keine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geografie gegeben so wie etwa mit der Medizin oder der Philosophie (man geht sogar davon aus, dass erst Eratosthenes das Wort »Geographie« prägte, zusammengesetzt aus den griechischen Worten Gaia »Erde« und graphein »schreiben«), doch in der Großen Bibliothek hatte er sicher eine Landkarte vorgefunden, die Anaximander von Milet im 6. Jahrhundert v. Chr. für seine Schrift Über die Natur gezeichnet hatte. Diese inzwischen längst verschollene Zeichnung zeigte die Welt als flache Scheibe und benannte das Mittelmeer, Italien und Sizilien. Auch eine Bestandsliste der Länder und Völker »rund um die Erde« (tatsächlich eher »rund um das Mittelmeer«), die Hekataios von Milet etwa zur selben Zeit erstellt hatte, könnte ihm von Nutzen gewesen sein. (Milet, in der heutigen Türkei gelegen, kann als eine Art Werkstatt der antiken Geografie bezeichnet werden. Im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte dort auch Hippodamos, ein Pionier der Stadtplanung, dem wir die ersten Stadtpläne verdanken.)

Eratosthenes’ eigene Beschäftigung mit der Geografie war dagegen großräumiger angelegt, und er schöpfte intensiv aus den Schriften der Bibliothek, den Berichten all jener, die im Jahrhundert zuvor durch Europa und Persien gezogen waren, und den Ansichten der führenden Historiker und Astronomen seiner Zeit zum Thema. Seine Weltkarte zeichnete er um 194 v. Chr. Eine zeitgenössische Fassung hat sich nicht erhalten, doch die Beschreibungen des Kartografen wurden für ein viktorianisches Publikum noch einmal neu umgesetzt, und diese Reproduktion ist heute allgemein akzeptiert und wird intensiv genutzt. Die Karte ähnelt auf merkwürdige Weise einem Dinosaurierschädel. Drei Kontinente sind auf ihr erkennbar: Europa im Nordosten, Afrika (unter der Bezeichnung Libyen und Arabien) direkt darunter und Asien im östlichen Teil der Karte. Der riesige Nordteil Asiens, heute würden wir von Osteuropa, der Ukraine und dem Süden Russlands sprechen, ist mit Scythia beschriftet.


Drei Kontinente in einem Brunnen: Anaximander stellte sich die Welt als eine von Wasser umgebene Scheibe vor.

Die Karte ist einfach, aber sehr raffiniert gezeichnet. Bemerkenswert ist hier die frühe Verwendung von Längen- und Breitengraden in einem Gittersystem. Von Ost nach West zeichnete Eratosthenes einen zentralen Breitengrad, der mitten durch Rhodos verlief, von Nord nach Süd einen zentralen Längengrad, ebenfalls durch Rhodos. Danach unterteilte er die Karte in unregelmäßige Rechtecke und Quadrate, die einem modernen Betrachter wie ein Orientierungsgitter erscheinen, dem griechischen Kartografen jedoch eher als Hilfsmittel für die richtigen Proportionen gedient haben dürften. Seine Linien bestätigen die damals weitverbreitete Überzeugung, dass die Erde in west- östlicher Ausdehnung mehr als doppelt so breit sei wie in Nord-Süd-Richtung.


Eratosthenes sah die Welt wie seine Zeitgenossen als eine Kugel in der Mitte des Universums, um die sich die Himmelskörper in 24 Stunden einmal drehten. Seiner Ansicht nach gab es im Wesentlichen zwei Arten, die Welt zu beschreiben und im Universum zu verorten: Entweder man sprach von der Erde, einem im Weltall hängenden Planeten, im Ganzen oder von der bis dahin bekannten Welt, wie sie sich aus den Berichten der Gelehrten, Seefahrer und Handeltreibenden erschloss. Die bewohnte Welt (die Römer sollten später von der »zivilisierten Welt« sprechen) beschränkte sich, wie man glaubte, auf ungefähr ein Drittel der Nordhalbkugel. Der nördlichste Punkt, die Insel Thule (möglicherweise die Shetlandinseln oder Island), war der letzte Außenposten, bevor die Welt unerträglich kalt wurde. Und jenseits des südlichsten Zipfels mit der verführerischen Bezeichnung Zimtland (Äthiopien/Somalia) verbrannte die Hitze das Fleisch des Menschen.

Auf Eratosthenes’ Karte sind die Meere miteinander verbunden: Das Nordmeer liegt oberhalb von Europa und Scythia, der Atlantik schlägt gegen die Küsten Libyens, Arabiens, des Perserreichs und eines quadratischen Indiens. Riesige Binnengewässer, das Kaspische Meer und der Persische Golf, fließen fälschlicherweise ins Meer. Brettania – der Form nach annähernd korrekt, jedoch viel zu groß dargestellt – liegt im äußersten Nordwesten, proportional richtig zu Irland und Europa. Alle drei scheinen lose miteinander verbunden und lediglich durch schiffbare Binnengewässer oder Bergketten voneinander getrennt zu sein. Es entsteht der Eindruck, als schmiegten sie sich aneinander, zum Schutz gegen die übermächtigen Ozeane und riesigen Gebiete der unbekannten Welt, die sich gegen sie verbündet haben. Die Neue Welt und auch China existieren natürlich noch nicht, und von Russland ist nur ein kleiner Teil erkennbar.

Trotz alledem war diese Karte, die auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhte, ihren Vorgängern methodisch weit überlegen. Und obwohl Eratosthenes die Kontinente bewusst in die Länge zog, damit die Darstellung zu seinen sonstigen Arbeiten passte, gab er mit dieser Karte ein neues Ziel vor – das Erstellen einer präzisen und dauerhaft gültigen Weltkarte.


Allein dieser beschreibenden Weltkarte wegen könnte man Eratosthenes heutzutage für einen Kleindarsteller in der antiken Geschichte der Kartografie halten (seine Kollegen bezeichneten ihn sogar als ein »Beta-Talent« im Vergleich zu den »Alpha-Talenten« Aristoteles und Archimedes). Dieses Urteil sollte jedoch revidiert werden, denn er leistete etwas Besonderes, das über das Zeichnen einer Landkarte weit hinausging: Er stellte bahnbrechende Berechnungen zum Erdumfang an, und seine Vorgehensweise mithilfe des großen babylonischen Stabes, des gnomon (eines Vorläufers der klassischen Sonnenuhr) gilt zu Recht als eine zeitlose und narrensichere, wenn auch etwas plumpe Technik.

Sein großes Aha-Erlebnis, von dem später der griechische Gelehrte Kleomedes berichtet, hat inzwischen die mythischen Dimensionen des Newtonschen Apfels angenommen. Dennoch könnte an der Geschichte etwas Wahres dran sein: Eratosthenes beobachtete am Tag der Sommersonnenwende, dass die Sonne in der Nilsiedlung Syene genau im Zenit stand, was dadurch bewiesen war, dass sie sich genau zur Mittagszeit in einem tiefen Brunnen spiegelte. Aufgrund der Dauer eines Kamelritts von Syene (heute Assuan) nach Alexandria wusste er, dass die Stadt ungefähr 5000 Stadien (ca. 805 km) südlich von Alexandria lag (auf demselben Längengrad, den er durch Rhodos gezogen hatte). Indem er nun genau zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende in der Bibliothek in Alexandria den Winkel der Sonne zum Zenit bestimmte (7°), konnte er den ungefähren Erdumfang berechnen. Er ging davon aus, dass die Erde eine Kugel war, also 360° umfasste. Folglich entsprach seine gemessene Abweichung von 7° einem Fünfzigstel des Gesamtumfangs, woraus sich ein Erdumfang von 250.000 Stadien (ungefähr 40.230 km) ergab. Dieses Ergebnis rundete Eratosthenes dann noch auf 252.000 Stadien auf, damit es sich ebenso bequem wie harmonisch durch 60 teilen ließ.


Eratosthenes’ schädelförmige Welt als viktorianische Reproduktion: Der Äquator verläuft durch Rhodos; das »Zimtland« würzt nun die Südspitze Afrikas.

Mit dieser Zahl kam er der tatsächlichen Strecke erstaunlich nahe. Heute wird der Erdumfang mit 40.075,16 km angegeben. Nach verschiedenen Schätzungen lag er mit seinen Berechnungen also um nur zwei Prozent daneben. Hier hängt aber auch viel davon ab, ob er nun in attischen oder in ägyptischen Stadien rechnete, die sich in ihrer Länge unterschieden. Bedenkt man jedoch, dass Eratosthenes von sehr primitiven Schätzungen ausging (Syene lag nicht genau südlich von Alexandria, und die Erde ist auch keine exakte Kugel, sondern um den Äquator herum etwas vorgewölbt), so ist nicht nur die Genauigkeit seiner Berechnungen erstaunlich, sondern auch das Ausmaß der unbekannten Welt um ihn her, das durch diese Distanzen erst richtig deutlich wurde. Hat es für Entdecker und Kartografen jemals eine größere Herausforderung gegeben als eine Kartierung all dieser unbekannten Gebiete?


Ein Brand im Jahr 48 v. Chr. (angeblich ein Unfall, als Julius Cäsars Truppen ihre eigenen Schiffe in Brand setzten, um eine Invasion des Heers von Kleopatras Bruder Ptolemäus XIV. zu vereiteln) war erst der Anfang einer ganzen Reihe von Zerstörungen, die die Bibliothek im Laufe der Zeit erlebte. Mindestens noch drei weitere Male wurde sie zerstört und geplündert, jedoch jedes Mal entweder an ihrem ursprünglichen Platz oder im Südwesten der Stadt wieder errichtet. Marcus Antonius füllte die Bestände der Bibliothek im Jahr 37 v. Chr. wieder auf, indem er die Bibliothek von Pergamon plünderte und Kleopatra etwa 200.000 Rollen als Hochzeitspräsent überließ.

Ein paar Jahre nach dem ersten Bibliotheksbrand erschien ein Werk, das auch für unsere heutige Weltsicht noch von großer Bedeutung ist – die Geographika in siebzehn Bänden, die bis dahin umfassendste Bestandsaufnahme der Welt. Ihr Verfasser, der Historiker und Philosoph Strabon, kam 63 v. Chr. in Amasia am Schwarzen Meer zur Welt und lebte bis über die Zeitenwende hinaus.

Strabon war fast sechzig Jahre alt, als der erste Band um 7 v. Chr. herauskam; der letzte erschien ein Jahr vor seinem Tod mit fünfundachtzig Jahren. Er war einer der ersten großen Reisenden, und der Wert seiner Geographika liegt vor allem in der Schilderung der Gegenden, die er selbst besucht hatte. Bescheidenheit war dabei seine Sache nicht: In seinem zweiten Buch rühmte er sich einer Fahrt westwärts von Armenien nach Sardinien und in den Süden vom Schwarzen Meer bis an die Grenze Äthiopiens: »Möglicherweise gibt es unter all denjenigen, die jemals eine Geografie schrieben, niemanden, der mehr Orte innerhalb dieser Grenzen besuchte als ich.«

Bis auf einen haben alle Bände von Strabons Geographika überlebt. Ihr erklärtes Ziel war es, zu zeigen, wie sich das Wissen um die bewohnte Welt parallel zur Ausdehnung des römischen und persischen Reichs entwickelt hatte. Die nach geografischen Regionen unterteilten Bücher sind heute nicht nur für unser kartografisches Wissen von unschätzbarem Wert, sondern auch für unsere Kenntnisse darüber, wie sich die zivilisierte Welt zu Zeiten Julius Cäsars und der Geburt Christi selbst gesehen hat. Aus dieser Zeit sind uns keine physikalischen Karten überliefert. Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass Strabon beim Schreiben eine große, von Hand gezeichnete Karte vorlag, vielleicht auch eine Kartensammlung, die er im Geiste zusammenfügte.

Seltsamerweise ist Strabons Welt kleiner als die, die sein Vorgänger Eratosthenes zwei Jahrhunderte zuvor beschrieben hatte. Ihre Breite ist auf 30.000 Stadien geschrumpft (verglichen mit Eratosthenes’ 38.000), und ihre Länge beträgt nur noch 70.000 Stadien (statt 78.000). Zumindest sind das die Maße seiner bewohnten Welt, die er als eine auf der nördlichen Halbkugel in einem Meer treibende »Insel« beschreibt. Er glaubte, die von ihm beschriebene Welt bedecke ungefähr ein Viertel der Erde.

Strabon war kein Mathematiker und misstraute Eratosthenes’ wissenschaftlichen Neuerungen in der Messtechnik und Kartenprojektion. Entsprechend beschrieb er seine Welt auch sehr nüchtern, den seltsamen Vorstellungen der Astrologie nicht unähnlich. Als Ganzes glich seine bewohnte Welt einem Chlamys, einem kurzen, konisch geschnittenen Umhang, wie ihn die griechischen Soldaten und Jäger trugen. Britannien und Sizilien waren dreieckig, Indien eine Raute. Den nördlichen Teil Asiens verglich er mit einem Küchenmesser, die iberische Halbinsel mit einer Ochsenhaut, der Peloponnes glich einem Platanenblatt und Mesopotamien hatte den Umriss eines Bootes mit dem Euphrat als Kiel und dem Tigris als Deck.

Heute lesen wir Strabons Geographika mit einer Mischung aus Respekt und Belustigung: Respekt vor der Größe des Unternehmens, Belustigung über so manche seiner Vermutungen. Britannien gilt als nicht wert, erobert zu werden, die Insel wird als armselig und wegen ihres Klimas unbewohnbar beschrieben (Strabon sagt, dass in Britannien kaum einmal die Sonne scheint, insbesondere nicht in der Gegend, die wir heute Schottland nennen). Irland ist voller Kannibalen. Ceylon, eine Insel, die sieben Tagesreisen mit dem Segelschiff von Indien entfernt liegt, trägt ungewöhnliche Früchte: »Sie bringt Elefanten hervor.«

Strabon war zwar eher Geograf als Kartograf, aber er war sich der Grenzen seiner Beschreibungen bewusst und erklärte seinen Lesern, wie sie sich seine Texte auf einer glatten Oberfläche veranschaulichen konnten. Dazu sollten sie auf einem sieben Fuß breiten und drei Fuß langen (ca. 2 × 0,9 m) Pergament ein einfaches Gitter aus Längen- und Breitengraden anfertigen. Aber er dachte sich auch noch eine andere, bessere Methode zur Darstellung seiner Entdeckungen aus: einen Globus.

Strabon erwähnt eine Kugel von zehn Fuß (ca. 3 m) Durchmesser, die der Philosoph Krates von Mallos im Jahrhundert zuvor geschaffen hatte. Sie bildete die Welt in vier deutlich voneinander abgegrenzten Regionen ab: vier Inseln von etwa gleicher Größe, zwei oberhalb und zwei unterhalb der »heißen Zone«, die die Grenze zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre markierte.* Nur eine dieser Inseln – seine eigene – war mit absoluter Sicherheit bewohnt. Krates, der seine Informationen größtenteils aus Eratosthenes und Homer bezog, ging jedoch davon aus, dass auch die anderen drei Regionen gemäßigte Klimazonen besaßen und daher womöglich bewohnt waren. Zumindest eine Region unterhalb des Äquatormeeres werde von »Äthiopiern« bewirtschaftet, die aber nichts mit den Äthiopiern im Zimtland zu tun hätten.

Strabon schlug für seinen eigenen Globus ebenfalls einen Durchmesser von wenigstens zehn Fuß vor, damit er genügend Details aufnehmen konnte, sah jedoch auch ein, dass für die meisten seiner Leser die Konstruktion eines solchen Gegenstands nicht praktikabel war.


Die Bibliothek von Alexandria leistete jedoch noch einen anderen entscheidenden Beitrag zur Geschichte der Kartografie, der zwar auf den Errungenschaften von Eratosthenes und Strabon aufbaute, an sich aber ein so monumentales Werk individueller Gelehrsamkeit war, dass er in der Kartografie der europäischen und arabischen Welt Jahrhunderte lang den Standard vorgab. Es ist keine Karte im eigentlichen Sinne, sondern ein beschreibender Atlas, dessen Schöpfer man als den ersten modernen Kartografen der Welt bezeichnen könnte. Dieses griechische Lehrbuch veränderte die Weltsicht so grundlegend, dass es auch fast 1350 Jahre später – in leicht abgewandelter Form – noch zu den wichtigsten Navigationshilfen von Christoph Kolumbus gehörte, als dieser 1492 Richtung Japan in See stach.

Der Atlas war das Werk von Claudius Ptolemäus (90 bis 170 n. Chr.). Praktisch sein ganzes Leben lang studierte und arbeitete Ptolemäus in Alexandria, wo er schon eine einflussreiche Abhandlung zur griechischen Astronomie, den Almagest, verfasst hatte. Diese Schrift enthielt detaillierte Sternkarten und ein komplexes Modell der Erdposition innerhalb des Kosmos. Stabil im Zentrum verortet, zeigte es die Erde, täglich umrundet von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn (hier aufgelistet nach ihrer Nähe zur Erde) und umgeben von einem äußeren Mantel aus glitzernden Fixsternen. Außerdem hatte Ptolemäus auch noch eine wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Optik geschrieben, in der er die Funktionsweise des Sehens und die Bedeutung von Licht und Farben untersuchte.

An dieser Stelle interessiert uns aber seine Geographia oder griechisch Geographike Hyphegesis, »Geografische Anleitung«, eine Beschreibung der Welt in zwei Teilen, wobei der erste Teil seine Methodik beinhaltet, der zweite eine lange Liste von Städten und anderen Orten, alle mit Koordinaten versehen. Würde man die Karten eines modernen Atlas beschreiben, anstatt sie zu zeichnen, entspräche das Ergebnis in etwa Ptolemäus’ Werk. Die Geographia war ein sehr arbeitsintensives und langwieriges Unterfangen, basierte jedoch auf einem für heutige Verhältnisse genial einfachen Rastersystem. Im siebten (der insgesamt acht) Abschnitte der Geographia gab Ptolemäus nicht nur detaillierte Anweisungen zur Erstellung einer Weltkarte, sondern auch zur Kartierung von 26 kleineren Gebieten. Leider hat keine Handschrift der Geographia überdauert, und heute kommen wir dem Original wohl mit einer aus dem 10. Jahrhundert stammenden arabischen Beschreibung einer farbigen Karte am nächsten – ob es sich bei der beschriebenen Karte jedoch um ein Original oder nur um eine vom Text inspirierte Fassung handelte, ist nicht bekannt. Wie dem auch sei, auch sie existiert nicht mehr.


Frischer Wind: Ptolemäus’ klassische Weltkarte, 1482 vom deutschen Holzschneider Johannes Schnitzer aus Armsheim kunstvoll umgesetzt.

Wie nicht anders zu erwarten war auch Ptolemäus’ Weltsicht verzerrt. Afrika und Indien waren stark deformiert, das Mittelmeer viel zu groß abgebildet, die Verortung der Städte und Länder innerhalb des griechisch-römischen Reichs demgegenüber jedoch ziemlich genau. Ptolemäus bot seinen Lesern zwei Zylinderprojektionen an – Versuche, Informationen von einer dreidimensionalen Kugel auf eine zweidimensionale Ebene zu projizieren. Eine bezeichnete er als »schlechter, aber einfach«, die andere als »besser, aber aufwändig«. Seine Hauptinformationsquelle hierzu – der er auch die gebührende Anerkennung zollte – war Marinos von Tyros, der das Auflistungssystem in Ortslexika schon Jahrzehnte zuvor entscheidend verbessert hatte, indem er den Orten nicht nur einen Längen- und einen Breitengrad zuschrieb, sondern auch die geschätzte Entfernung zwischen ihnen angab. (Und noch eine weitere Leistung ist Marinos zuzuschreiben: In seinen Kartendaten fanden sich zum ersten Mal China und die Antarktis.)

Ptolemäus rühmte sich, die von Marinos zur Verfügung gestellte Städteliste (rund 8000 Orte) deutlich verlängert zu haben, und kritisierte außerdem die fehlende Präzision von dessen Messungen. Aber auch er selbst hatte seine Fehler. Der Kartenhistoriker R. V. Tooley ist der Ansicht, Ptolemäus habe sich von seinen Vorgängern nicht nur durch seine Genialität, sondern auch durch seine Ignoranz gegenüber der Wissenschaft unterschieden. Wo frühere Kartografen durchaus bereit waren, weiße Flecken auf ihren Karten zu lassen, wenn ihr Wissen nicht ausreichte, konnte Ptolemäus der Versuchung, solche Leerstellen mit Spekulationen zu füllen, nicht widerstehen. »Bei einem weniger bedeutenden Mann wäre das nicht so entscheidend gewesen«, argumentiert Tooley, aber sein Ansehen sei so groß gewesen, »dass man seinen Theorien den gleichen Wert beimaß wie den zweifelsfreien Fakten«. Wie wir noch sehen werden, führte dies erstaunlicherweise dazu, dass ehrgeizige Seefahrer – unter ihnen auch Kolumbus – an Orte gelangten, die nie ihr Ziel waren.


Auch vor den alexandrinischen Fortschritten in der Kartografie gab es schon Karten – eine Tontafel hier, einen Fetzen Papyrus dort –, doch diese Objekte waren eher zufällige Einzelstücke.** Die Karten von Eratosthenes, Strabon und Ptolemäus sind dagegen sehr durchdacht und systematisch und haben sicherlich mit dazu beigetragen, dass die Bibliothek von Alexandria den Ruf der weltweit bedeutendsten Bibliothek aller Zeiten erlangte. (Aber bestimmt waren auch die zahlreichen Zerstörungen, die sie über die Jahrhunderte erleben musste, der Romantik dieser Legende nicht abträglich.)

Als Alexandria fast ein halbes Jahrtausend nach Ptolemäus’ Tod (641 n. Chr.) den Arabern in die Hände fiel, war dies das endgültige Ende der Bibliothek. Sie war zwar schon lange nicht mehr das wissenschaftliche Zentrum von einst, beherbergte aber immer noch mehrere hunderttausend Bände. Ihr neuer Eroberer hatte für Bücher jedoch ganz offensichtlich nicht viel übrig. Als man ihn fragte, was mit der Bibliothek geschehen solle, antwortete Kalif Umar ibn al-Chattab angeblich: »Wenn der Inhalt der Bücher mit dem Buch Allahs übereinstimmt, brauchen wir sie nicht, denn dann ist das Buch Allahs mehr als genug. Wenn sie allerdings Dinge enthalten, die nicht mit dem Buch Allahs übereinstimmen, gibt es auch keinen Grund, sie aufzubewahren. Also geht und zerstört sie.«


Eine Sache aber gibt uns noch Rätsel auf. Ptolemäus’ Geographia erschien ungefähr 150 n. Chr., und logischerweise wäre davon auszugehen, dass die Kartografie danach beständig Fortschritte machte. Die Projektionstechnik und die Koordinaten, die Ptolemäus verwendet hatte, lieferten ein allgemeingültiges System, das man auf das im Laufe der Jahrhunderte anwachsende Wissen über unsere Welt hätte anwenden und entsprechend erweitern können. Es war wie ein riesiges Netz, um immer neue Informationen aufzugreifen und zu verbreiten. Aber das ist nicht geschehen. Der kontinuierliche Fortschritt der Kartografie, den man hätte erwarten können, setzte nicht ein. Wo war der Ptolemäus des 4. oder 5. Jahrhunderts? Weshalb wissen wir nicht, wie der englische König Harald die Welt sah, als er 1066 nach Hastings zog? Oder welches Bild Saladin vom Nahen Osten hatte? Wir wissen es nicht, weil es keine Karten gibt, die es uns zeigen könnten.

Weder die Römer noch die Byzantiner setzten Ptolemäus’ Werk fort. Einige wenige, lokal begrenzte Prachtstücke gab es noch: die Tabula Peutingeriana (Peutingersche Tafel) aus dem 5. Jahrhundert (eine lange, schematisierte Straßenkarte, die die Hauptsiedlungen des Römischen Reichs zeigt) oder die Mosaikkarte von Madaba aus dem 6. Jahrhundert (ein in einer Kirche in Jordanien erhaltenes Mosaik des Heiligen Landes, das auch Straßenkarten von Jerusalem und anderen Städten enthält). Diese Karten lassen jedoch wenig Neugier auf ferne Regionen erkennen, und keine von ihnen stellt einen Fortschritt in der Kunst der Kartografie dar.


Ein langes, sich windendes Imperium: Ausschnitt aus der Peutingerschen Tafel, einer römischen Straßenkarte aus dem 5. Jahrhundert, die sich von der Küste Dalmatiens bis ans afrikanische Mittelmeer erstreckt.

Anstatt sich weiterzuentwickeln, fiel die kartografische Welt offenbar für fast 1000 Jahre in ein finsteres Zeitalter zurück. Hatte sich unser Ehrgeiz, Neues zu entdecken, Welten zu erobern und uns zu bereichern, plötzlich in Luft aufgelöst? Und was war mit den Globen passiert? Auch sie drehten sich plötzlich rückwärts. Das Konzept der Längen- und Breitengrade, die neu aufgetauchten Raster und der Nullmeridian – sie alle verschwanden in der Schublade und wurde erst um 1450 in Nürnberg oder im pulsierenden Venedig wieder herausgekramt.

Und was genau tauchte da in der Blütezeit der Renaissance plötzlich auf? Ein tolles neues Weltbild? Die Entdeckung neuer Kontinente? Irgendetwas, das mit Amerika zu tun hatte? Nein, es war die lateinische Übersetzung eines griechischen Werkes, das man seit den ruhmreichen Zeiten Alexandrias verschollen geglaubt hatte. Es war die Wiederentdeckung des ptolemäischen »Atlas«, die – zeitgleich mit einer florierenden europäischen Druckkunst – die Geburt der modernen Welt einläutete.

Aber verweilen wir zunächst noch ein bisschen in finsteren Zeiten. Oder, um genau zu sein, im Winter 1988 in Hereford.

* Dies ist der erste Erdglobus, von dem wir wissen, auch wenn er leider nicht erhalten geblieben ist. Krates von Mallos, ein angesehener Grammatiker, war wahrscheinlich Bibliothekar in Pergamon, in der größten Konkurrenzbibliothek zu Alexandria. Zu den spärlichen Notizen, die sich in den Geschichtsbüchern zu seinem Leben finden, zählt auch die Episode, dass er sich bei der Untersuchung eines Abwasserkanals in Rom einmal ein Bein brach.

** Man geht davon aus, dass die babylonische Tontafel, die ihren stolzen Platz im British Museum (und am Anfang vieler Bildbände über die Geschichte der Kartografie) hat, aus der Perserzeit zwischen 600 und 550 v. Chr. stammt. Es handelt sich dabei um einen dieser mystischen und unglaublich fantasieanregenden Gegenstände, die Verschwörungstheorien und Bestsellerromane inspirieren. Vom ursprünglichen Gesamtobjekt, das nach seiner Herstellung schätzungsweise gerade einmal 12,5 × 8 cm groß war, existiert nur noch ein beschädigter Teil. Sein genauer Zweck ist unklar, dennoch fügt es sich insofern in das gängige Muster antiker Weltkarten ein, dass auch hier der Schöpfer seine eigene Welt ins Zentrum setzte. Babylon liegt inmitten eines Meeres, das von sieben nicht beschrifteten Kreisen umgeben ist, bei denen es sich um Städte oder Länder handeln könnte. Diese Orte werden wiederum von einem kreisförmigen, als »Bitterer Fluss« bezeichneten Ozean umschlossen, in den der Euphrat mündet. Am Rand dieses Ozeans befinden sich sieben dreieckige Inseln. Aus dem beschädigten Text, der sich über der Zeichnung und auf der Rückseite der Tafel befindet, lässt sich schließen, dass die Inseln nur etwa elf Kilometer von der babylonischen Welt entfernt liegen und im Wesentlichen nach ihren Lichtverhältnissen beschrieben werden. Eine der Inseln liegt genau im Norden und in völliger Dunkelheit, was auf Kenntnisse der polaren Gebiete hinweisen könnte. Andere wiederum befinden sich dort, »wo der Morgen anbricht« oder in einem Licht, das heller scheint als die Sterne, und auf einer weiteren lebt ein gehörnter Stier, der »Neuankömmlinge angreift«. Der Text spricht auch von einem »himmlischen Ozean« in einem Kreis von Tiersternbildern: Aus heutiger Sicht lassen sich Löwe, Andromeda und Kassiopeia erkennen.

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