Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 10
ОглавлениеRichterin
Hirka hatte sich lange nach Klarheit gesehnt. Nach Information. Aber jetzt begann ihr zu dämmern, dass zu viele Informationen schlimmer waren als gar keine.
Ǫni bedeutete »Zunge« auf Umǫni, wie die Sprache hieß. Das war der Rufname der Frau, die ihre Lehrerin sein sollte, und Hirka begriff, wieso. Ǫni redete ununterbrochen, ohne Pause. Im Gegensatz zu Skerri bereitete es ihr offenbar keine Qualen, Ymsländisch zu sprechen, aber sie war ja auch zu jung, um den Krieg erlebt zu haben. Das machte sie neugieriger als Skerri und vermutlich weniger voreingenommen.
Die Sprache hatte sie vor zwei Jahren zu lernen begonnen, auf Wunsch von Skerri. »Wunsch« war das Wort, das Ǫni benutzte. Hirka hatte den Verdacht, dass »Befehl« der Sache wohl näher kam. Erst jetzt hatte die Gelehrte erfahren, wofür das nötig war. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, dass nicht mehr alle Steintore tot waren.
Ǫni interessierte sich lebhaft für alles, was Hirka von anderen Welten zu erzählen wagte, und sie musste sich immer wieder selbst zurücknehmen, um das zu tun, was sie tun sollte: Hirka beibringen, wie sie sich zu benehmen hatte. Und natürlich auch, wo ihr Platz in der Hierarchie war. Das schien das Allerwichtigste zu sein.
Von allen Blinden, denen Hirka begegnet war, erschreckte Ǫni sie am wenigsten. Vielleicht, weil sie Grübchen hatte, wenn sie lächelte. Oder weil ihr braunes Haar den Eindruck von Wärme vermittelte. Ihre Tunika war weit geschnitten und überhaupt nicht dafür gemacht, ihren Körper zur Schau zu stellen. Und dann redete sie, natürlich. Das half schon, weil es sonst niemand tat.
Hirka war sich sicher, dass sie über eine Stunde mit der Frau im Zelt gefangen gewesen war. Bisher war sie noch keinem der anderen offiziell vorgestellt worden. Auf Skerris Anweisung, vermutete sie.
Ǫni hielt das Fell am Zelteingang zur Seite, sodass Hirka hinausblicken konnte, während sie sich unterhielten. Die vier anderen waren draußen. Nur Skerri fehlte. Ǫni zeigte auf Grid, der ein Stück entfernt stand und Schnee aus dem hohlen Stab stocherte. Er trug eine enge Weste, die mit Fell gesäumt war. Seine nackten Arme waren sehnig und stark.
»Grid ist noch keine dreihundert Jahre alt, aber er hat viele … wie heißt das? Viele Wettkämpfe gewonnen. Er übt mit Skerri, sie sind gute Freunde. Skerri und Grid sind die einzigen Dreyri hier. Das bedeutet, sie sind …«
»Vom Blut der Ersten …« Hirka erinnerte sich nur allzu gut.
»Ja, genau. Dreyri, von den alten Blutlinien. Nur die Dreyri haben Häuser, die Namen tragen. Wir anderen sind gewöhnliche Leute. Umpiri. Wir arbeiten für die Häuser. Hungl und Tyla dort drüben dienen beide in Modrasmes Haus.«
Hirka betrachtete sie. Hungl mit dem Ziegenbart. Tyla mit dem blonden Haar. Sie war am Steinkreis nicht dabei gewesen, sondern hatte hier im Lager mit Ǫni gewartet.
»Sie sehen nicht aus wie Diener. Eher wie Krieger«, sagte Hirka.
Ǫni verbarg ein Lächeln hinter der Hand. »Wir sagen Diener. Die Häuser haben keine Krieger. Oder Wachen. Das gehört sich nicht. Stattdessen haben sie Diener. Weil …«
»Weil sie es nicht nötig haben, sich beschützen zu lassen …«
Ǫni nickte eifrig. »Hungl spricht ein wenig Ymsländisch, aber nicht sehr gut, und …« Sie sah Hirka an. Biss sich nervös auf die Lippe. »Du musst gut Umǫni sprechen, bevor das höchste Haus dich zu Gesicht bekommt.«
Hirka tat, als hätte sie es nicht gehört. Die Vorstellung, präsentiert zu werden, brachte sie trotz der Kälte ins Schwitzen. Es war jetzt schon sonnenklar, dass sie die Erwartungen, die man an sie stellte, nicht erfüllen würde.
»Ist das ein Lagerfeuer, was sie dort herrichten?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja, ich weiß, dass du schneller frierst als wir. Am besten halten die Dreyri die Kälte aus. Sie frieren auch, aber …«
»Ihnen ist wichtiger, so zu tun, als wäre es nicht so?«
»Du lernst schnell.«
»Und er?« Hirka nickte zu dem Mann mit dem Tropfen auf der Stirn. Stahlgraues Haar und steinernes Gesicht. Er ging mit einem Armvoll knorriger Äste auf die Feuerstelle zu.
»Er ist Kwessar. Einer der Gefallenen. Sie waren zu zweit, aber ich habe gehört, dass der andere heute gestorben ist. Deshalb muss man immer zwei haben. Damit einer den anderen töten kann, falls nötig. Aber mehr als zwei sollte man nicht mitnehmen.«
Hirka folgte ihm mit dem Blick. Er ließ das Holz an der Feuerstelle fallen.
»Warum nicht?«
»Nun«, erwiderte Ǫni. »Wenn man mehr als zwei Männer mitnimmt, die nichts zu verlieren haben, dann ist man selbst schuld, wenn es schiefgeht, nicht wahr?«
Hirka brannten eine Menge Fragen auf der Zunge, aber Ǫni ließ ihr keine Chance. »Die Gefallenen gehören nicht zu den Häusern. Sie sind Außenstehende. Du siehst das an dem Tropfen und am Namen. Sein Name war Kolail, aber da er ein Gefallener ist, wird er Keskolail genannt. Kes ist eine Vorsilbe, die von Kwessar kommt, das bedeutet …«
Plötzlich stand Skerri in der Zeltöffnung. »Du verschwendest Zeit, Ǫni. Hast du ihr beigebracht, wie sie sich vorstellen soll? Welches die höchsten Häuser sind?«
Ǫni kam eilig auf die Füße. Skerri schickte sie weg und hockte sich vor das Zelt. Hirka zwang sich, am Eingang sitzen zu bleiben, obwohl es verlockend war, wieder ins Zelt zu kriechen. Skerri sah sie an.
»Hungl und Keskolail haben den Krieg mitgemacht. Das bedeutet, dass sie solche wie dich schon gesehen haben. Sie wissen, was sie erwarten können. Aber wir können uns nicht erlauben, dass sich Gerüchte über deine Schwachheit verbreiten. Wir müssen gleich von Anfang an zeigen, wer du bist. Dafür werden wir jetzt sorgen. Ich werde dir eine Frage stellen, und das Einzige, was du antworten sollst, ist ›die Raben‹. Das kannst sogar du. Verstehst du, was ich sage?«
Hirka verstand nicht, nickte aber trotzdem.
Skerri stand auf und bedeutete ihr, mitzukommen. Hirka kroch aus dem Zelt. Sie dachte kurz daran, umzukehren und ihren Umhang zu holen, traute sich aber nicht. Sie folgte Skerri zum Lagerfeuer. Hungl und Tyla hatten sich Schneehaufen gebaut, auf denen sie saßen und zusahen, wie das Feuer wuchs. Ǫni kam angelaufen und setzte sich ebenfalls. Grid blieb stehen, natürlich. Es war wohl peinlich für die Dreyri, sich hinzusetzen.
Der Gefallene saß ein wenig abseits und klaubte Eisstücke aus dem Schaffell.
Skerri zeigte auf Hirka, während sie sich auf Umǫni an die anderen wandte. Hirka war ein bisschen schlecht. Sie wusste nicht, was passieren würde, nur, dass sie eine Rolle zu spielen hatte. Wenn sie nur wüsste, welche …
Als Skerri geendet hatte, wandte sie sich an Hirka.
»Keskolail hat einen Pfeil in deine Richtung geschossen. Wie lautet dein Urteil, Hirka, Tochter des Graal, Sohn von Raun aus Modrasmes Haus?«
Hirka runzelte die Stirn. Urteil? Wurde sie aufgefordert, ihn zu bestrafen? Den Mann mit dem Tropfen? Sie nahm es an. Doch wohl nicht, weil er einen Mann getötet hatte, das hatte er ja auf Skerris Befehl hin getan? Vielleicht wurde ihm vorgeworfen, dass er einen Pfeil in Hirkas Richtung geschossen hatte. Als wäre sie je in Gefahr gewesen. Ein Mann, der ein Ziel in solchem Abstand treffen konnte, und das bei dem Wetter … Er hätte nicht danebengeschossen.
Also warum?
Skerri hatte ihr aufgetragen, »die Raben« zu antworten. Was hatten Raben damit zu tun?
Plötzlich begriff sie. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag in den Magen.
Man verfüttert die Toten an die Raben.
Die Ratsfamilien in Ymsland ließen die Toten von den Raben fressen. War das ein weiterer Brauch, den Naiell von hier mitgebracht hatte? Das bedeutete, dass sie jetzt aufgefordert wurde, einen Mann zum Tode zu verurteilen. Dazu, Rabenfutter zu werden. Weil er einen Befehl ausgeführt hatte?
Die Stille hing wach und fordernd um das Feuer. Die Flammen streckten sich im Wind, als wollten sie nach ihr greifen.
Hirka war es kalt bis ins Mark. Sie hatte gehört, was sie sagen sollte, doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen. Sie starrte den Mann an, den sie verurteilen sollte, aber er erwiderte ihren Blick nicht. Auch nicht die Blicke der anderen. Er wusste, was vor sich ging, trotzdem saß er da und säuberte das Schaffell, als ginge ihn das nichts an. Stahlhaar. Stahlblick. War er durch und durch aus Stahl?
Hirka musste etwas sagen. Alle sahen sie an. Warteten auf sie. Sie begriff nicht, warum, aber Skerri war offenbar auf ihre Bestätigung angewiesen, um das zu bekommen, was sie wollte. Hirka räusperte sich.
»Mir wurde gesagt, dass Umpiri keine Umpiri töten.«
Hungl war gerade dabei, einen Schluck aus einem Wasserbeutel zu trinken, prustete aber das meiste wieder aus. Tyla sah ihn scharf an und er riss sich zusammen. Ǫni sah aus, als würde sie ihre eigene Unterlippe essen.
Skerri krümmte den Nacken wie ein wütender Stier. Hirka sah, wie ihre Zöpfe zitterten.
»Du bist neu hier und kennst die Gebräuche nicht«, sagte sie mit erzwungener Beherrschung. »Dafür müssen wir Verständnis haben. Er ist kein Umpiri. Er ist Kwessar. Einer der Gefallenen. Aber da niemand hier ein Urteil vollstrecken kann, werden wir deine Entscheidung aufschieben, bis wir in Ginnungad sind. Denk bis dahin darüber nach.«
Skerri ging an ihr vorbei und verschwand in ihrem Zelt. Grid schien für einen Moment verwirrt. Dann nickte er Hirka zu und folgte Skerri.
Hirka blieb am Feuer stehen, unsicher, was sie tun sollte. Ihr Blick fiel auf Klauen, die sich über Knien krümmten. Auf spitze Eckzähne. Sie war umgeben von Fremden. Und die hatten erwartet, dass sie ein Todesurteil sprach. Die Kleidung dieser Leute wirkte auf einmal fehl am Platz. Wie ein Deckmantel.
Hirka hörte das Zittern in ihrem eigenen Atem. Sie schlug die Hände zusammen in dem vergeblichen Versuch, die ganze Sache abzuschütteln. »So, was muss man tun, um hier etwas Essbares zu bekommen?«
Hungl grinste in sich hinein. Ǫni stand auf. »Ich hole die Kekse.«
Hirka sah Keskolail an.
Kolail. Er heißt Kolail.
Hirka wusste, dass sie ihn nie anders nennen würde als Kolail, jetzt, da sie erfahren hatte, dass das sein richtiger Name war.
Er hob den Blick. Sah sie zum ersten Mal an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Dann schlug er die Augen nieder und fuhr fort, Eis aus seinem Schaffell zu brechen.