Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 9
Ein Problem
ОглавлениеDichter Schneefall machte es schwierig zu sehen, wohin man die Füße setzte. Der Wind war schärfer geworden, ging bis auf die Knochen. Hirka hatte jedes Kleidungsstück angezogen, das sie besaß. Den Pullover, den Stefan ihr geschenkt hatte, ein zweites Strickhemd, den Regenumhang von Pater Brody über den Umhang von Jarladin. Leute, die sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Ob sie überhaupt noch mal jemanden sah?
Bisher deutete alles darauf hin, dass sie in dieser frostigen Ödnis einschneien würde. Irgendwann würden die Blinden es leid sein, auf sie zu warten, und sie einfach liegen lassen. Und in hundert Jahren würden Totgeborene ein Gerippe ausgraben. Etwas, das einer Verwandten von Graals totem Raben glich. Knochen und Hautfetzen in einem Pullover mit englischem Text, den keiner auch nur im Entferntesten begreifen würde.
Hirka zwang sich zu einem Lächeln, um sich aufzumuntern. Sie war umgeben von Totgeborenen, in der Art von Wetter, in dem Leute verschwanden, und sie hatte keine Ahnung, wohin sie unterwegs war. Humor war das wichtigste Werkzeug, das sie zum Überleben besaß.
Sie stapften eine steile Anhöhe hinauf, die mit dem Himmel verschmolz. Eine blau-weiße Einöde, die sie blendete, wenn sie zu lange darauf starrte. Bisher hatte sie keinen einzigen Baum gesehen, auch keine Anzeichen von Leuten. Nur Eis und Schnee.
Hirka spannte die Kiefermuskeln an, um zu verhindern, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ihre Wangen waren so kalt, dass es sich anfühlte, als platzten sie auf, und der Schweiß war zu Eisperlen im Haar erstarrt. Sie musste bei jedem Schritt mühsam die Füße aus dem Schnee ziehen. Der Stock war eine gute Hilfe. Ein hohler Stab, der wenig wog, aber viel aushielt. Alle hatten einen. Sie hatten gesagt, man könnte durch ihn atmen, falls man von einer Lawine verschüttet wurde, und dass er es leichter machte, gefunden zu werden. Es deutete auch nichts darauf hin, dass sie es scherzhaft gemeint hatten.
Hirka wusste, dass sie bald anhalten musste. Sie schmeckte vor Erschöpfung schon Blut auf der Zunge.
Sie blinzelte zu Skerri. Die Frau ging in unermüdlichem Rhythmus vor ihr und hinterließ eine Spur, die es allen leichter machte, die nach ihr kamen. Nicht ein einziges Mal hatte Hirka gesehen, dass sie den Umhang enger um den Körper zog. Es war unbegreiflich, dass sie nicht erfror.
Auf dem Rücken trug sie einen röhrenförmigen Behälter aus Leder. Er erinnerte an einen Köcher, war aber zu groß für Pfeile. Etwas sagte Hirka, dass sie nicht darauf zu hoffen brauchte, er könnte eine Decke enthalten.
Jedes Mal, wenn Skerri sich umdrehte, um nachzusehen, wo Hirka blieb, schlugen die Perlen in den schwarzen Zöpfen gegen den Köcher. Es klang wie Hagel. Das Geräusch hatte inzwischen seine eigene Bedeutung erhalten. Eine Anklage, die Hirka vorwärtstrieb.
»Wer ist eigentlich Modrasme?«, rief Hirka in der Hoffnung, dass ein Gespräch sie dazu bringen würde, langsamer zu gehen.
»Die Älteste in unserem Haus«, antwortete Skerri. Sie warf Hirka einen Seitenblick zu. »In deinem Haus«, ergänzte sie. Es klang eher wie eine Drohung als wie ein Trost.
»Also erhalten die Häuser ihre Namen nach den Ält…«
»Wir reden, wenn wir da sind.«
Hirka biss sich auf die Lippe. Vielleicht war einer der anderen zugänglicher? Sie blickte zurück. Die drei Männer, die ihr folgten, gingen hintereinander. Hungl hieß der ganz am Ende. Ein soldatischer Typ mit dunklem Haar und einem kleinen Ziegenbart. Vor ihm ging Grid, ebenso leicht bekleidet wie Skerri und der Einzige, mit dem diese ein paar Worte gewechselt hatte. Anscheinend kannten sie sich gut. Wäre er nicht ebenso blond gewesen, wie Skerri dunkel war, hätte Hirka sie für Geschwister gehalten. Obwohl – die Umpiri bekamen selten mehr als ein Kind. Ein Umstand, der Graal und Naiell wohl die Position verschafft hatte, die sie vor dem Krieg innegehabt hatten.
Der Erste hinter Hirka war der Mann mit dem stahlgrauen Haar und dem Schaffell um die Schultern. Keskolail, der geschossen hatte. Hirka zögerte einen Moment, aber ihre Erschöpfung war größer als ihre Angst, also blieb sie stehen, um auf ihn zu warten. Skerri ergriff sie am Arm und zog sie weiter.
»Sprich nicht mit den Gefallenen«, sagte sie.
»Wer sind …«
»Wir besprechen seine Strafe, wenn wir im Lager angekommen sind.«
Lager …
Schon das Wort wärmte wie ein Feuer. Hirka schöpfte neue Kraft und krümmte den Nacken gegen den Schnee.
Aber warum sollte er bestraft werden? Hirka warf einen verstohlenen Blick zu dem Mörder hinter ihr. Zu dem Tropfen auf seiner Stirn. Kein anderer hatte so etwas. Er hatte sie immer noch nicht angesehen. Es war, als existierte sie nicht für ihn. Und augenscheinlich sollte er auch nicht für sie existieren.
Der Hang wurde so steil, dass Hirka ihre Hände zu Hilfe nehmen musste, um voranzukommen. Sie verzichtete darauf, ihre Finger zu betrachten, so blau gefroren, wie sie sicher waren. Wenigstens schneite es hier oben nicht mehr so stark.
»Habt ihr keine Wege?«, fragte Hirka.
Skerri sah sie über die Schulter an. »Wege? Du meinst, du bist bereit, gesehen zu werden?«
Das klang nicht so, als erwartete sie eine Antwort, also sagte Hirka nichts mehr.
Das Gelände wurde flacher und sie kamen auf eine verschneite Ebene, gesäumt von windschiefen Birken. Die ersten Bäume, die Hirka zu Gesicht bekam. Ein Rabe schrie. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie spürte vor Erleichterung einen Kloß im Hals. Hier gab es Leben. Anderes Leben als nur Blinde.
Eine Gruppe von spitzen Zelten ragte am anderen Ende der Ebene auf. In Windrichtung waren sie dick eingeschneit, aber die Zelttücher blähten sich trotzdem. Hirka sah sich um und entdeckte mindestens drei Plätze, die mehr Schutz vor dem Wind geboten hätten. Wie es schien, hatte niemand einen Gedanken darauf verschwendet.
Ihre Hoffnung auf einen Wagen und eine warme Mahlzeit war dahin. Beides würde sie hier kaum vorfinden. Sie bemerkte, dass sie schon wieder zurückgefallen war, und beeilte sich, zu Skerri aufzuschließen.
»Das ist das Lager?«, fragte sie. »Hier schlaft ihr? Auf der Ebene?«
»Ja.«
»Aber … Was, wenn Raubtiere kommen?«
Skerri sah sie an. Eine steile Falte auf der Stirn zog sich hinab bis zur Nase. »Was meinst du?«
»Wir sollten vielleicht … Was, wenn wir angegriffen werden?«
Skerri bleckte die Zähne. Hirka wich einen Schritt zurück und wäre beinahe gestolpert. Die Umpiri brauchten keine Raubtiere zu fürchten. Sie waren Raubtiere.
»Meinst du, dass wir einen Angriff nicht überleben würden?«
Hirka schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, überhaupt nicht. Ich dachte mehr … an mich. Im Grunde …« Ihre Worte wurden immer leiser und versiegten. Sie schrumpfte unter Skerris Blick zusammen. Fühlte sich wie ein Haar in der Suppe.
Warme Suppe …
Skerri ging weiter. Hirka folgte ihr, während sie in Gedanken eine Liste über Dinge anlegte, die sie, wie sie gemerkt hatte, besser nicht ansprechen sollte. Pferde nicht. Wagen vermutlich auch nicht. Nichts, was andeutete, dass die Umpiri nicht selbst gehen konnten. Oder dass sie erschöpft waren. Und unter gar keinen Umständen etwas, das andeutete, sie müssten sich vor irgendetwas fürchten.
Zwei Totgeborene kamen ihnen entgegen. Beides Frauen. Sie waren ganz verschieden. Eine war dunkelhaarig und trug eine knöchellange Tunika. Wie ein Prediger oder ein Schriftgelehrter. Die andere war blond, gekleidet in Leder und Felle wie ein Jäger. Oder ein Krieger, dem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie unterhielten sich mit Skerri in einer Sprache, die Hirka nicht verstand. Blindensprache.
Die Sprache der Umpiri.
Sie klang fremd und doch vertraut. Die Worte lösten etwas in ihr aus. Wie ein Duft, den man seit Kindertagen nicht mehr gerochen hat. Neu, aber trotzdem ein Teil von ihr.
Die beiden Frauen blickten Hirka an. Sie knickten ganz leicht mit einem Knie ein, als eine Art Gruß. Hirka hatte das Gefühl, dass sie dasselbe tun sollte. Sie beugte das Knie und spürte im selben Moment eine Hand im Nacken. Skerri hatte sie gepackt und trieb sie vor sich her zu einem Zelt. Sie schob Hirka an dem Fell vorbei, das vor der Zeltöffnung hing, und Hirka stolperte hinein. Sie wartete darauf, dass Skerri ihr folgen sollte, aber die blieb draußen und bellte den anderen Befehle zu.
Hirka war es recht. Sie blickte sich um. Hier war kaum Platz für zwei. Das Zelttuch wurde in der Mitte von einem Stab hochgehalten. Der Boden war uneben, aber trocken, obwohl er aus Stoff bestand. Wahrscheinlich war er doppelt gelegt oder hatte eine gefettete Unterseite. Zwei Wolldecken lagen zusammengerollt auf einem Tierfell. Sonst enthielt das Zelt nichts. Nicht einmal eine Öllampe oder etwas zum Trinken.
Hirka ließ ihren Stock fallen und sank auf die Knie. Sie war durstig, hungrig und müde, hätte aber nicht sagen können, was am meisten.
Durstig.
Sie streifte den Beutel ab und löste den ledernen Wasserbehälter, der an der Außenseite hing. Sie hatte unterwegs versucht zu trinken, aber es hatte nur wenige Pausen gegeben und das Wasser war zu kalt gewesen. Sie nestelte am Verschluss. Er war festgefroren, sie hatte nicht die Kraft, ihn zu öffnen. Ihre Finger waren gefühllos.
Ihre Augen begannen zu brennen, sie war den Tränen gefährlich nah. Was war los mit ihr? Wollte sie gleich am ersten Tag heulen, an einem Ort, den sie sich selbst als Reiseziel ausgesucht hatte? Um des Friedens willen. Damit keine Totgeborenen in Ymsland einfielen. Das musste sie sich in Erinnerung rufen. Daran musste sie sich klammern. Frieden. Und daran, das Wissen zu erlangen, das sie brauchte, um Rime vom Schnabel zu befreien.
Sie schloss die Augen. Er hatte einen Schnabel im Hals. Einen Rabenschnabel. Graal hatte Macht über ihn, so wie er sie über Urd gehabt hatte. Und Urd war verfault …
Hirka warf den Wasserbeutel von sich. Spürte einen störenden Schneeklumpen unter dem Fußboden und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein.
Was hatte sie eigentlich erwartet? Was hatte sie gedacht, welche Leute sie hier treffen würde? Eine Familie? War sie so naiv gewesen? War sie noch immer nichts anderes als ein junges Mädchen, das sich danach sehnte, irgendwo zu Hause zu sein?
Das Türfell wurde beiseitegeschoben und Skerri kam herein. Hirka sprang auf. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie Skerris Gesicht sah. Das schwarze Haar und die schwarzen Lippen auf der bleichen Haut. Wäre sie keine Umpiri gewesen, hätte Hirka sie auf rund fünfundzwanzig Winter geschätzt. Jung, fast mädchenhaft. Eine gruselige Kombination aus süß und gefährlich.
»Setz dich«, knurrte sie. Hirka gehorchte.
Skerri ließ sich ihr gegenüber nieder. Das Lederkorsett knarrte und fügte sich dem starken Körper.
»Kuro«, sagte sie und nickte zu dem Kästchen, das oben auf dem Beutel befestigt war.
»Kuro?« Hirka hatte nicht erwartet, den Namen hier zu hören. Das war ihrer, sie hatte ihn sich selbst ausgedacht, als Naiell noch ein Rabe war.
»Herz«, erwiderte Skerri ungeduldig. »Es bedeutet Herz. Lass mich ihn sehen.«
Hirka hätte über die Bedeutung gelächelt, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Sie band das Kästchen los und nahm es auf den Schoß. Es war bescheiden, gemessen an seinem Inhalt. Eine unscheinbare Metallschachtel, matt wie eine abgenutzte Messerklinge. Kalt unter den Fingern. Bevor sie durch die Tore gegangen war, hatte sie sich Sorgen gemacht, dass das Eis darin schmelzen könnte. Was für ein Witz …
Hirka löste die Scharniere an den Seiten und öffnete den Deckel. Naiells Herz lag begraben in zerstoßenem Eis. Bleich wie eine geballte Faust. Hirka bildete sich ein, ihn immer noch riechen zu können. Graals Bruder. Ihr Onkel. In Ymsland war er der Seher gewesen. Hier in Dreysíl war er etwas ganz anderes. Verbrecher. Volksfeind.
Skerri riss das Kästchen an sich. Schloss die Augen und holte tief Luft, als wäre der Geruch Nahrung. Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen.
»Naiell …«
Es war ein Flüstern, so heiser von Hass, dass Hirka begriff, wie nahe ihm diese Frau gestanden haben musste. Sie mussten sich gekannt haben. Hirka starrte sie an. »Du warst dort …«
Skerri öffnete die Augen. Milchartig waren sie. Wirklichkeitsfern. Gerichtet auf etwas weit außerhalb des kleinen Zelts. »Ich habe einen Eid geschworen, als der Krieg vorbei war. Als ich begriff, dass er uns verraten hatte. Als ich sah, wie er seinen Bruder gefangen nahm und quälte. Ich schwor, dass ich dieses Herz mit meinen eigenen Klauen herausreißen würde. Ein Jahrtausend lang habe ich darauf gewartet, seinen Geruch wieder wahrzunehmen. Ein Jahrtausend. Und nun ist er hier. Was bleibt jetzt noch, als zurückzuholen, was uns gehört?«
Hirka antwortete nicht. Sie fürchtete, dass Skerri ihr an die Kehle springen würde, wenn sie etwas Falsches sagte. Die schwarzen Lippen zuckten. Die Totgeborene kämpfte mit einer Vergangenheit, an der Hirka keinen Anteil hatte. War sie deshalb so zornig? Weil Hirka sein Herz bei sich trug? Hatte Rime getan, was Skerri am liebsten selbst erledigt hätte?
Die Luft schien gesättigt von Unbehagen. Hirka tippte mit dem Finger gegen den Deckel, sodass er zufiel. Skerri erwachte aus ihrer Trance. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Schwarz verblasste nicht. War das eine Tintenstichelei? Hatte sie sie dauerhaft gefärbt?
Sie stellte das Kästchen hin.
»Wir haben ein Problem, Hirka.« Sie schüttelte den Kopf, dass die Zöpfe flogen. Wie ein Tier, das sein Fell trocken schüttelt.
»Was für ein Problem?«
»Dich.«
Hirka wollte widersprechen, aber sie war zu nervös. Und widerstrebend neugierig, was genau das Problem sein sollte.
Skerri legte den Kopf schräg. Eine vogelartige Bewegung, die an Graal und Naiell erinnerte. Hirka wagte eine Frage.
»Skerri, sind wir miteinander verwandt?«
Skerri blinzelte, als wäre sie von der Frage überrumpelt worden, aber sie fing sich rasch wieder. »Wir sind verwandt, aber nicht blutsverwandt. Wir gehören zum selben Haus. Du wirst deine Blutsverwandten treffen, wenn wir nach Ginnungad kommen, und genau da liegt das Problem. Ich muss den Raben jetzt schicken. Ich muss Nachricht geben, dass du hier bist. Dass du gekommen bist. Aber was soll ich sagen?«
»Wie meinst du das?«
Skerri hob das Kinn. Sah sie von oben herab an, als wäre sie eine Idiotin. »Du bist wie sie! Schau dich doch an! Du hast Augen wie sie. Du hast keine Klauen. Keine Zähne. Du bist langsam. Schwach. Jämmerlich, wie sie. Du bist mehr Mensk als Umpiri. Und du sprichst nichts anderes als Tiersprache.«
Hirka spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. Scham beschlich sie, als wäre sie in die Vergangenheit zurückgeworfen worden. Sie war in Elveroa. Bei Vater, der immer versuchte, sie zu verstecken, weil er begriffen hatte, was sie war. Bei Ilume, die sie abwies, wenn sie nach Rime fragte. Sie war das Ungeheuer. Das schwanzlose Odinskind. Auch hier.
Sie war wieder klein. Und das ärgerte sie. Hirka biss die Zähne zusammen.
»Tut mir leid, wenn ich nicht das bin, was du erwartet hast.«
Skerri schnaubte. »Dass es dir leidtut, nützt auch nichts. Wir müssen was Anständiges aus dir machen, bevor du vorgezeigt werden kannst, und zwar schnell. Ehrlich gesagt wusste ich gleich, dass wir dieses Problem bekommen würden, als ich von dir hörte. Graal war ein bisschen … ausweichend.«
»Du bist also diejenige, die mit ihm spricht?«
»Ich. Sonst niemand.«
Hirka fiel auf, mit welchem Stolz sie das sagte. Graal war jemand von Bedeutung, das war vermutlich auch der einzige Grund, warum sie selbst noch am Leben war. Und wennschon. Sie war nicht bereit, sich durch einen Vortrag über all das zu quälen, was mit ihr nicht stimmte. Den hatte sie schon allzu oft gehört.
»Sag mir einfach, was zu tun ist, Skerri.«
Skerri betrachtete sie eine Weile prüfend. Dann erhob sie sich abrupt. »Ich sage, dass du gekommen bist. Mehr nicht. Dann werden wir sehen, was wir hinkriegen. Die Sprache ist das Wichtigste. Du kannst nicht deren Sprache in unser Haus schleppen. Ǫni wird dich unterrichten, während wir unterwegs sind.«
»Ǫni?«
»Eine Dienerin. Sie arbeitet für unser Haus. Sie ist gelehrt und kann dir beibringen, vernünftig zu sprechen. Und wie du dich benehmen sollst.« Skerris Blick wanderte über ihren Körper. »Um die Kleidung kümmern wir uns später.«
Sprache, Benehmen, Kleidung … All das hätte Hirka nicht gleichgültiger sein können. Wenn sie einen Gelehrten brauchte, dann jemanden, der sich auf die Gabe verstand.
»Was ist mit …« Hirka hätte beinahe »Blindwerk« gesagt, verkniff es sich aber gerade noch. »Was ist mit der Gabe? Ich muss mit jemandem reden, der mir alles über die Schnäbel erzählen kann.« Sie legte ihre Hand an den Hals, um zu unterstreichen, was sie meinte.
Skerri starrte sie ausdruckslos an.
Sie musste einen anderen Ansatz finden. Etwas, das in Skerri den Wunsch auslöste, ihr zu helfen. Ihr zu antworten. Mit anderen Worten, sie musste Skerri bei ihrem Stolz packen.
»Habt ihr wirklich keine Gabengelehrten?«
Skerris Augen verengten sich zu weißen Schlitzen. »Selbstverständlich haben wir die! Die Besten! Wir haben Gabenschleuderer und Seher, aber die brauchen dich nicht zu interessieren. Das ist im Moment nicht vordringlich.«
Seher? Die Blinden hatten Seher?
Natürlich. Wie hätte er sonst auf die Idee kommen sollen?
Hirka stieß ein kurzes Lachen aus. Naiell hatte seine eigene Welt verlassen, aber etwas mitgenommen, das er kannte.
Skerri wandte sich zum Gehen. »Dies ist dein Zelt«, sagte sie. »Bleib hier. Ǫni holt dich, wenn ich den Raben geschickt habe. Dann wirst du die anderen kennenlernen.«
Sie schob das Fell beiseite. Licht fiel herein. Sie sah Hirka wieder an. »Und noch etwas: Wenn du noch einmal versuchst, das Knie vor jemandem zu beugen, der von geringerem Stand ist als du, werde ich dir deine Knie zertrümmern.«
Skerri verschwand mit peitschenden Zöpfen.
Hirka schloss die Augen.
Nicht nach Pferden fragen. Nicht die Wahl der Lagerplätze kritisieren. Nicht das Knie beugen.