Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 7

Zuflucht

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Rime kroch übers Dach, bis er an den Rand kam. Er hielt inne. Lauschte. Das Eis am Flussufer knirschte. Aus einem Fenster ein paar Häuser weiter leerte jemand einen Waschzuber. Er wartete noch eine Weile. Musste vorsichtig sein. Hierherzukommen konnte Lindris Leben gefährden.

Das Teehaus war so etwas wie ein Zufluchtsort geworden. Ein sicherer Ort im Niemandsland. Lindris Tür war immer offen und Rime konnte nirgends anders hin. Jedenfalls nicht, ohne dass sich das Gerücht in Mannfalla verbreitete, und das durfte nicht passieren.

Nicht, bevor er einen Plan hatte.

Es war windig geworden. Er rieb sich die Hände, versuchte, Leben in die erfrorenen Finger zu zwingen. Ein Tag und eine Nacht draußen in dieser Kälte, da hatte es selbst die Gabe aufgegeben, ihn warm zu halten.

Er packte die Dachkante, rollte sich über den Rand und ließ sich hinunter auf die hölzerne Plattform. Sie ragte hinter dem Teehaus ein Stück auf den Fluss hinaus, wie ein Bootssteg. An der Hauswand standen ein Schaukelstuhl und eine eisbedeckte Laterne. Eine Kletterpflanze, die sich um die Balken rankte, war über den Winter verdorrt.

Durch eine haarfeine Ritze zwischen Tür und Rahmen konnte er drinnen Licht erahnen. Rime klopfte an. Lange blieb es still, dann wurde die Tür ein klein wenig geöffnet. Ein Auge blinzelte durch den Spalt.

»Ich bin es«, flüsterte Rime.

Lindri zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. Die Tür ging mit einem lang gezogenen Knarzen auf. Er ließ die Kerze fallen, die er in der Hand gehalten hatte. Sie rollte über die Plattform und erlosch. Rime hielt sie mit dem Fuß auf. Der Teehändler schnappte nach Luft und schlug das Zeichen des Sehers. Wich zurück.

Rime ergriff seinen Arm. »Nein! Nein, ich bin nicht tot, Lindri! Hörst du? Ich bin nicht tot.«

Die Angst in Lindris Augen verblasste. Er zog Rime ins Haus. Rasch steckte er den Kopf hinaus und blickte sich um, ehe er die Tür wieder schloss. So, als hätte er mit mehreren gerechnet oder als könnte er einfach nicht begreifen, wie Rime hierhergekommen war.

Das Hinterzimmer war eng, vollgestopft mit Kisten und Jutesäcken. Die Luft war schwer von Heustaub. Das löste eine jähe Erinnerung in Rime aus. Hier hatte er mit Schwarzfeuer gestanden, in der Nacht, als die Schwarzröcke nach Reikavik gerudert waren. Sie hatten über Dinge gestritten, die jetzt banal wirkten. Was hatte Schwarzfeuer noch gesagt?

Du kannst die Welt nicht vom Draumheim aus beherrschen, Junge.

Lindri drängte ihn weiterzugehen, hinein ins Teehaus. Tische und Bänke standen grau in der Dunkelheit. Die Nacht hatte dem Holz alle Farbe geraubt.

»Setz dich, setz dich«, sagte Lindri und schob ihn freundlich, aber bestimmt zu einer Bank an der Feuerstelle. Die Flammen waren erloschen, aber etwas von der Wärme hing noch im Raum. Genug, dass Rime begriff, wie durchgefroren er war.

Lindri stocherte mit dem Schürhaken in den verkohlten Holzresten.

»Lass gut sein, Lindri. Kein Feuer. Niemand darf wissen, dass ich hier bin.«

Lindri kramte im Holzstapel. Riss ein Stück Birkenrinde ab und begann Feuer zu machen, als hätte er kein Wort gehört. Rime wollte erklären, wollte warnen, dass es nicht ungefährlich war, ihm Obdach zu geben, aber er wusste, dass Lindri nicht zuhören würde. Der runzlige Teehändler hatte Hirka bei sich aufgenommen, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Auch nachdem er erfahren hatte, dass sie ein Mensk war. Leere Tische waren der Preis, den er dafür bezahlte.

Er hatte auch Rime schon beherbergt. Als Rabenträger. Als Damayanti ihm den Schnabel gegeben hatte. Und jetzt als entehrten Ratssohn und Totgeglaubten.

Das Feuer flackerte auf und begann zu knistern. Tauchte Lindri, der vor den Flammen hockte, in ein warmes Licht. Er war im Nachthemd, wie Rime jetzt sah. Mit einer Strickjacke darüber, die sich an den Ärmeln auflöste.

Er erhob sich mit sichtlichem Unbehagen und nahm Rime gegenüber Platz. Das Alter hatte seine Augen zuwachsen lassen, hatte sie klein und rund gemacht. Er legte eine schwielige Hand auf Rimes. Die Wärme brannte sich durch eine Schicht von Einsamkeit.

Rime schluckte. »Du glaubst also nicht, was sie über mich sagen?«

»Erzähl mir, was passiert ist, dann werde ich dir sagen, was ich glaube«, erwiderte Lindri mit besänftigender Ruhe.

Rime lachte halb erstickt. Er ließ den Strom der Worte kommen, obwohl er wusste, dass nichts von dem, was er sagte, einen Sinn ergab. Er konnte nicht aufhören. Es war, als ob er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Echtes teilte. Also erzählte er. Vom Besuch in der Menschenwelt. Von den Brüdern Graal und Naiell. Einer tausend Jahre alten Feindschaft. Der eine im Exil, der andere der Seher persönlich. Der Seher, den er getötet hatte.

Die Lüge, mit der er aufgewachsen war, existierte nicht mehr. Stattdessen hatte er die Geschichte von dem Blinden gefunden, der sein eigenes Volk verraten und Ymsland erobert hatte.

Er erzählte von Hirka und ihrer Abstammung. Dass sie eine von ihnen war. Von denen, die durch die Tore brechen und nach Ymsland kommen würden, um sich zurückzuholen, was sie einst verloren hatten. Und es gab nichts, was er tun konnte, um sie aufzuhalten. Jetzt nicht mehr. Jetzt, da er das bisschen Macht, das er besessen hatte, vergeudet hatte.

Er redete, bis er keine Worte und keine Kraft mehr hatte. Faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Sah Lindri an. Wartete auf eine Reaktion auf all das, was er gesagt hatte, aber es kam keine. Lindri saß da und nickte vor sich hin. Seine Lider waren so schwer, dass Rime für einen Moment glaubte, er sei eingeschlafen. Aber dann richtete Lindri sich auf und schlug die Hände auf die Schenkel.

»Die Welt wird also untergehen? Ist es das, was du sagst?«

»Das ist eine gute Schlussfolgerung«, erwiderte Rime.

»Ja, dann bleibt nur eins zu tun.« Lindri erhob sich langsam. Die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer, verrieten die Schmerzen in den Knochen.

»Und was?«, fragte Rime.

»Tee machen.«

Lindri ging zum Tresen und zündete eine Kerze unter einer der schwarzen gusseisernen Kannen an. Sie standen in einer Reihe, zeigten alle mit ihren Tüllen in dieselbe Richtung.

»Tee machen? Ist das die Antwort auf den Untergang der Welt?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?«

Rime starrte auf die Tischplatte. Sie war grob wie Treibholz, voller Kerben und Wunden.

Nein, er hatte keinen besseren Vorschlag. Der Sturm würde kommen, ganz egal, was er tat.

Lindri stellte die Kanne vor ihn auf den Tisch. Ein satter Duft stieg auf. Es roch verdächtig nach etwas sehr viel Stärkerem als Tee. Lindri setzte sich wieder und schob Rime einen vollen Becher hin.

»Du hast also den Seher getötet? Den Bruder ihres Vaters?«

»Er hätte sie getötet, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte.«

Rime legte eine Hand auf seine Hosentasche. Spürte die Konturen der Muschel, des Amuletts, das er ihr geschenkt hatte, damals, als sie Ymsland verließ. Jetzt gehörte es wieder ihm. Überreicht von Graal, ohne Erklärung. War das Graals Art, ihm zu sagen, dass er sie vergessen sollte? Dass sie eine halbe Totgeborene war, der ein ganz anderes Schicksal bestimmt war als Rime?

Er hoffte es, denn die andere Möglichkeit war schlimmer: dass Hirka Graal gebeten hatte, ihm die Muschel zu geben. Dass es ihr Wunsch gewesen war.

Die Brust wurde ihm eng. Er griff nach dem Becher und leerte ihn in einem Zug. Das Gebräu war wohltuend stark. Brannte sich seinen Weg hinunter in den Magen.

Er hatte nicht geahnt, wie stark das Verlangen war, bis er sie wiedergetroffen hatte, in dem Raum, der vor Musik pulsierte. Der so lebendig war, voller Menskr. Odinskinder, so weit das Auge reichte. Aber er hätte genauso gut mit ihr allein sein können, denn er hatte alles und jeden um sich herum vergessen.

Er hätte sie genommen, auf der Stelle, wenn er die Chance dazu gehabt hätte. So stark, so überwältigend war es.

So zerstörerisch.

Er hatte idiotische Dinge getan – ihretwegen. Dinge, die nicht nur ihn selbst vernichtet hatten, sondern die nun auch drohten den Rat zu vernichten. Ravnhov. Ymsland.

Er hatte den Schnabel genommen. Hatte sich selbst zum Sklaven gemacht. Etwas, das er weder Jarladin noch Lindri erzählt hatte. Niemand durfte wissen, dass er eigentlich machtlos war. Graals Launen ausgeliefert.

Graal war gefährlicher, als es Hirka bewusst war. Er würde sie beide gegeneinander ausspielen, wenn er musste. Die einzige Hoffnung war, dass auch Graal sie liebte. Rime hatte den Vaterstolz in seinen Augen gesehen. Aber auch eine hemmungslose Bereitschaft, über Leichen zu gehen.

Dasselbe sagt sie auch über mich.

»Ich weiß, was du bist und was nicht, Rabenträger.« Lindri füllte den Becher erneut. Er redete, als hätte er Rimes Gedanken gelesen.

»Ich bin kein Rabenträger mehr, Lindri. Ich bin tot, nach allem, was die Leute wissen.«

»Wenn du gestattest, Rime An-Elderin … Du hast mir erzählt, was passiert ist, und jetzt werde ich dir erzählen, was ich glaube. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und ich erinnere mich gut an den Tag, an dem du geboren wurdest. Das ist noch nicht so lange her.«

»Das war vor fast zwanzig Wintern, Lindri.«

Der Alte lächelte, dass die Krähenfüße sich bis zu den Schläfen hinzogen. »Das Kind, auf das alle gewartet hatten. Das Kind, von dem der Seher sagte, es werde leben. Ich dachte, was ist denn das für ein Leben für einen Jungen. Mit einer solchen Bürde aufzuwachsen. Schon am selben Tag haben sie Amulette mit deinem Bild verkauft, wusstest du das?«

Rime wusste es nur allzu gut. Er kratzte mit dem Fingernagel an einer Kerbe im Teebecher. Sie kam ihm bekannt vor, hatte er nicht schon früher aus diesem Becher getrunken? Er nahm einen neuen Schluck. Der Geruch stach ihm in die Nase.

»Wie ich das sehe, Rime, bist du in einem Käfig aufgewachsen. Ein Käfig, um den alle Welt dich beneidet hat, aber dennoch ein Käfig. Alles war darauf ausgerichtet, dass du einer von ihnen werden solltest. Sie haben sich geirrt. Du wurdest stark genug, um deinen eigenen Weg zu wählen. Ich billige bei Weitem nicht alles, was du getan hast, aber an deinem Willen ist nichts auszusetzen.«

Der Wind heulte ums Haus. Lindri rieb sich die Handgelenke, als hätte ihn das Geräusch daran erinnert, wie kalt es war.

Er fuhr fort: »Sie sagen viel über dich. Und ich selbst habe geglaubt, du seist für uns verloren. Vor allem, als du mit der angemalten Frau hierhergekommen bist. Der Tänzerin. Aber das war etwas anderes als die Lust eines jungen Mannes, nicht wahr? Ich lebe seit einem Dreivierteljahrhundert, Rime. Glaubst du, ich hätte nie etwas von Blindwerk gehört? Sie hat etwas mit dir gemacht, das weiß ich. Du brauchst mir nicht zu sagen, was. Ich vermute, du hast das gebraucht, um Hirka zu folgen. Und ja, du hast Schwarzfeuer getötet. Deinen eigenen Mester. Aber das war seine Entscheidung, nicht deine. Du wurdest getäuscht. Welcher Mann an deiner Stelle hätte nicht dasselbe getan?«

Rime sah weg. Lindris Verständnis war schlimmer, als es seine Missbilligung hätte sein können.

»Rime … Du bist ein junger Mann. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es mit den Jahren einfacher wird, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, aber so ist das nicht. Im Gegenteil. Je älter man wird, desto mehr hat man gesehen. Und ich habe zu viele Leute Fehler begehen sehen, als dass ich glauben könnte, es sei einfach, sich für das Richtige zu entscheiden.«

Rime lachte kurz. »Das ist nicht das, was sie sagt …«

»Hirka ist nicht in Eisvaldr aufgewachsen. Du schon. Du bist ein Ratssohn. Man hat dich nie gelehrt, was das Richtige ist. Man hat dich gelehrt: Solange du es bist, der etwas tut, so lange ist es das Richtige. Die Familien sind das Gesetz. Das Gesetz sind die Familien. Trotzdem kämpfst du einen Kampf gegen dich selbst und das macht dich zu einem guten Mann, Rime. Einem starken Mann. Nur starke Männer ertragen es, alles zu verlieren.«

»Und starke Frauen«, entgegnete Rime. Er spürte, wie seine Schultern sich senkten. Er stieß seinen Becher gegen Lindris, wie zu einem Skål. Verschüttete etwas Flüssigkeit, die in die Furchen des Holzes lief, bevor er sie wegwischen konnte.

»Weißt du, warum sie das macht, Lindri? Weil sie glaubt, sie verhindert einen Krieg. Sie glaubt, sie kann den Blinden ihren Blutdurst ausreden. Das ist es, was sie macht. Sie glaubt, sie kann sie dazu bekehren, den Frieden zu lieben. Dummes Mädchen … Sie kann einen Stein zur Weißglut bringen und sie wird sie nur noch verrückter machen.«

Lindri versuchte, ein Lächeln zu verbergen.

Rime trank den letzten Rest Tee aus. »Was?«

»Sie bringt das Beste und das Schlechteste in dir hervor, Rime.«

Das stimmte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Sie gehörte ihm nicht, würde es nie tun. Sie hatte sich für eine andere Welt entschieden. Für ein anderes Leben. Falls sie sich je wiedersahen, würde es auf dem Schlachtfeld sein. Er konnte nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos darauf warten. Er musste handeln.

Nur vorher ein bisschen ausruhen. Hier. Am Tisch.

»Darkdaggar hat die Kontrolle über den Rat, Lindri. Über das Heer.«

»Ja, wem sagst du das.«

»Aber nicht über die Schwarzröcke. Sie sind eine gefährlichere Armee als die von Mannfalla. Die einzige, die den Blinden standhalten kann. Er darf sie nicht übernehmen, Lindri.«

Rime versuchte, seine Gedanken in Worte zu kleiden, aber sie entwischten ihm. Waren unmöglich zu greifen. Wie die Schwarzröcke. Die schwarzen Schatten, die außerhalb von Darkdaggars Reichweite waren. Aber wie treu waren sie dem Rat jetzt ergeben? Wer hatte nach Schwarzfeuer die Führung übernommen? Und wie würden sie Rime empfangen? Den Mann, der seinen eigenen Mester getötet hatte. Ihren Mester.

»Bin ich noch ein Schwarzrock? Was denken sie jetzt über mich?«

»Das kann man nicht wissen, Rime.«

»Ich muss es herausfinden. Ich habe keine andere Wahl.«

»Das kannst du morgen auch noch.«

Rime spürte eine Wolldecke um die Schultern und begriff, dass er dabei war, einzuschlafen.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)

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