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Kolail

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Das Schneetreiben hatte aufgehört. Hatte Platz gemacht für einen kalten Nebel, der Mutlosigkeit hervorrief. Aber Hirka hatte Vorkehrungen getroffen. Nach einer eisigen Nacht mit wenig Schlaf war sie aufgestanden und hatte ihr Überlebensprojekt in Angriff genommen. Strümpfe. Die dicken Wollsocken. Die Hose über den Stiefeln verschnürt, damit sie nicht stecken blieb.

Sie hatte Streifen aus der Wolldecke geschnitten und sich um Hände und Finger gewickelt. Sie hatte auch Schnee im Wasserbeutel geschmolzen, aber der war längst leer. Die paar letzten Tropfen darin waren zu Eis gefroren. Der Gedanke daran machte sie noch durstiger. Und das Zelt, das sie oben auf dem Beutel trug, machte sie schwerer als am Tag zuvor.

Aber sie stapfte weiter, sich bewusst, dass Tyla und Kolail direkt hinter ihr gingen. Sie blinzelte nach vorn zu den anderen. Schatten im Nebel, die den Weg vor ihr bahnten. Nichts deutete darauf hin, dass sie vorhatten, jemals anzuhalten. Vor allem nicht Skerri und Grid. Immer weiter voran. Immer an der Spitze.

Aber Hirka war als Erste aufgewacht. Das hatte ihr reichlich Zeit verschafft und das Gefühl, endlich einen Vorsprung zu haben. Der war kaum der Rede wert, aber im Moment stellte sie keine großen Ansprüche.

Naiell hatte auch viel geschlafen, erinnerte sie sich. Beinahe überall, wo es sich machen ließ. Im Gewächshaus in York. In Stefans Auto. Im Flugzeug. Hirka lächelte, bis ihr einfiel, wie zum Draumheim alles gelaufen war. Dass sie sein Herz in einem Kästchen auf dem Rücken trug.

Hungl und Tyla hatten beide in dem Zelt geschlafen, das direkt neben ihrem stand. Ob sie so verhindern wollten, dass sie sich davonmachte oder dass jemand ihr etwas antat? Hirka wusste es nicht. Beides sorgte nicht dafür, dass sie sich sicherer fühlte.

Sie hatte Skerri am Abend zuvor getrotzt. Hatte irgendeinen morbiden Plan durchkreuzt, den sie nicht durchschaute. Vermutlich würde die Totgeborene ihr den Hals umdrehen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

Hirka hatte das beklemmende Gefühl, dass ihr Leben auf einer Messerschneide balancierte, die sie nicht einmal sehen konnte. War sie gut genug oder nicht gut genug? Für was? Und nach wessen Meinung?

Sie befürchtete, dass sie es schneller herausfinden würde, als ihr lieb war.

Wenigstens hatte sie erfahren, dass es hier Seher gab. Umpiri, die sich auf Blindwerk verstanden. Einige von ihnen wussten sicherlich, wie sie die Gabe zurückbekommen konnten. Naiell hatte sie zerstört, unterstützt von den Toten, und in einem Moment geistiger Umnachtung hatte sie Graal versprochen, das wieder in Ordnung zu bringen. Im Tausch gegen Frieden. Hatte sie eigentlich selbst geglaubt, was sie gesagt hatte? Das war Wahnsinn. Die Gabe heilen …

Rime heilen.

Hirka krümmte den Nacken und marschierte weiter. Sie lief direkt in Hungl hinein, der stehen geblieben war. Er drehte sich zu ihr um, mit Reif in seinem Ziegenbart.

»Der Pfad … Er ist weg«, sagte er hilflos in einer Mischung aus Ymsländisch und Umǫni. Er deutete auf Skerri und Grid. Die beiden standen zusammen und berieten sich, direkt neben einer dunklen Wunde am Berg, wo der Pfad hätte sein sollen.

Ǫni kam angelaufen. »Der Pfad ist weggebrochen. Sie werden einen anderen Weg finden. Warte hier, Hirka«, sagte sie und winkte Hungl mit sich.

Tyla drängte sich an Hirka vorbei und folgte ihnen, um nachzusehen, was passiert war.

Hirka lehnte sich an die Felswand, dankbar für die Pause. Dafür, einen Augenblick allein sein zu können. Aber ganz allein war sie nicht.

Sie drehte den Kopf. Kolail stand direkt neben ihr, die Klauen im Schnee vergraben. Er trank durch sie. Hirka hatte die anderen das auch tun sehen. Ob sie mit dem Mund oder den Klauen tranken, schien völlig egal zu sein. Verdammt ärgerlich. Sie hatte einen gefrorenen Wasserbeutel, der wie eine Rassel klang, und er brauchte nur die Klauen in den Schnee zu stecken und konnte sich satt trinken …

Hirka nahm den Beutel ab und stellte ihn neben sich. Sie ballte Schnee in der Hand zusammen und steckte sich einen Brocken in den Mund. Er schmolz langsam. Ein Tropfen. Zwei. Die Zunge wurde kalt und taub. Sie spuckte den Schnee wieder aus. Merkte, dass Kolail sie beobachtete. Was war das für ein Zug um seinen Mund? Verwunderung? Oder versuchte er zu verbergen, dass er sich amüsierte?

Sein Schaffell war ebenso grau wie sein Haar. Es sah aus, als hätte sich schmutziger Schnee um seine breiten Schultern gelegt. Er hatte dichte Bartstoppeln und einen kräftigen Unterkiefer. Fast wie Vater, wie sie verwundert feststellte. Ein blinder und etwas hässlicherer Thorrald.

Der Gedanke an Vater versetzte ihr einen Stich von Wehmut. Es war lange her, dass ihr die Erinnerung an ihn so nahe gewesen war. Sie konnte nicht daran denken. Musste sich auf etwas anderes konzentrieren. Auf ihren Überlebenswillen. Auf Wasser. Sie brauchte Wasser.

Sie ging zu Kolail und nahm seine Hand. Er entzog sie ihr. Starrte sie an, als hätte sie versucht, sie ihm abzuschlagen. Hirka deutete auf ihren Mund. »Wasser …«

Er runzelte die Stirn, wodurch der Tropfen sich näher an seine Nasenwurzel bewegte. Sie griff wieder nach seiner Hand und jetzt ließ er sie gewähren. Sie hob seine Hand an ihre Lippen.

»Warte …«

Das war das erste Wort, das sie ihn sagen hörte. Ymsländisch.

Es stimmt. Er hat den Krieg mitgemacht.

Er steckte die Klauen wieder in den Schnee. Zog sie heraus und ließ sie von Hirka ergreifen. Sie legte seine Finger in ihren Mund und spürte, wie Wasser ihren Hals hinunterfloss. Wärmer als alles, was sie seit über einem Tag getrunken hatte. Es tat unglaublich gut.

Sie umfasste sein Handgelenk und sog an seinen Fingern. Seine Klauen zitterten auf ihrer Zunge. Dann riss er die Hand zurück.

Hirka wurde von dem Gefühl gepackt, etwas Furchtbares getan zu haben. Etwas, das sie nicht hätte tun sollen. Ein Wassertropfen rann von ihren Lippen. Sie wischte ihn mit dem Handrücken ab, bevor er zu Eis werden konnte.

Kolail sah starr an ihr vorbei. Hirka drehte sich um.

Vor ihr auf dem Pfad stand Skerri. Ihre schwarzen Lippen wurden schmal. Sie schnauzte Kolail an, unverständliche Worte. Kolail ging an Hirka vorbei. Verließ sie. Ließ sie allein mit Skerri zurück. Es fühlte sich an wie ein Verrat.

Skerri kam wütend auf sie zu, holte aus und versetzte ihr eine Ohrfeige. Hirka hatte den Arm gehoben, aber zu spät, um sich zu schützen. Der Schlag brannte auf ihrer Wange.

»Du rührst die Gefallenen nicht an! Du demütigst dein Haus nicht!«

Hirka wich zurück. Spürte warmes Blut hinunter zum Kinn laufen. Panik erfasste sie. Die Klauen … Wie viel Schaden hatten sie angerichtet? Sie berührte ihre Wange und blickte auf ihre Hand. Zwei rote Streifen färbten den provisorischen Wollhandschuh. Kleine Kratzer, nicht schlimm. Die Kapuze war im Weg gewesen.

Skerri starrte sie an. Ihre Wut schien verraucht zu sein, sie wirkte jetzt eher verwirrt. Hirka begriff, dass Skerri darauf wartete, dass sich die Wunden schlossen. Es gab ihr einen bitteren Geschmack von Befriedigung.

»Es stimmt. Ich verheile nicht so wie ihr.«

Skerri schloss die Augen und seufzte resigniert. »Nicht mal das hast du geschafft zu erben … Es ist nicht geplant, dass du überlebst, oder?«

Sie zog die Kapuze enger um Hirkas Gesicht. »Lass es sie nicht sehen. Sie halten sowieso schon nicht viel von dir.« Dann ging sie.

Hirka schluckte ihren Ärger hinunter und folgte ihr.


Hirka konnte nicht schlafen. Sie hatten ihr Lager an einem Eisberg aufgeschlagen, der aus dem Schnee ragte und sich über die Zelte krümmte wie ein enormer Reißzahn. Drohend. Drückend. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, hörte sie ihn knacken. Als könnte er jeden Moment brechen und sie unter sich begraben.

Skerri hatte den Platz ausgesucht. Zweifellos aus Rache, weil Hirka sich über den vorigen Lagerplatz beschwert hatte.

Hungl schnarchte im Zelt nebenan. Er klang wie ein knurrender Hund. Das Eis knirschte.

Hirka wälzte sich wieder auf die andere Seite. Das Strickhemd wickelte sich um ihren Körper. Sie meinte, gebratenen Fisch zu riechen. Offenbar eine Einbildung. Also hatte ihr Gehirn wohl unter der Kälte gelitten … Seit sie hierhergekommen war, hatte sie noch nichts Anständiges zu essen gesehen. Die Blinden steckten ihre Klauen in grüne Kekse, die grauenhaft schmeckten. Ǫni hatte gesagt, dass sie aus Tang gemacht wurden und aus einem Pilz, der in Höhlen gezüchtet wurde. Sie enthielten fast alles, was ein Umpiri brauchte.

Hirka hatte gefragt, ob sie nie auf normale Art aßen. Auf Hirkas Art. Sie taten es an einigen wenigen Feiertagen im Jahr und waren am nächsten Tag sterbenskrank. Es war, als hätten sie früher mal richtig gegessen, aber einfach damit aufgehört. Dafür tranken sie jede Menge seltsames Zeug. Wahrscheinlich, weil es akzeptabel war zu sitzen, wenn man trank.

Aber sie hätte schwören können, dass sie Fisch roch. Fetten, frischen Fisch …

Sie kroch zum Zelteingang, schob das Fell beiseite und spähte hinaus.

Ein Stück entfernt sah sie rote Glut in der Dunkelheit. Die Reste des Lagerfeuers.

Sie zog ihre Stiefel an. Die waren kalt, aber trocken. Dann wickelte sie sich in die Wolldecke und ging nach draußen, von der Wärme und dem Geruch angelockt wie ein Tier. Es war so dunkel, dass sie fast nichts anderes sehen konnte als den Schnee zu ihren Füßen. Die Nächte hier waren pechschwarz, schwärzer als in Ymsland.

Am Feuer saß jemand und stocherte mit einem Stock in den Glutresten. Er war groß und trug ein zottiges Fell um die Schultern.

Kolail.

Hirka zögerte. Ihre Wange brannte immer noch von Skerris Klauen. Aber sie konnte keine Scham darüber empfinden, dass sie jemanden berührt hatte, ganz gleich, was man von ihr erwartete. Sie war nicht länger Fäulnis. Sie konnte berühren, wen sie wollte. Sitzen, bei wem sie wollte. Essen, mit wem sie wollte.

Sie ging näher heran, überzeugt, dass er sie längst gehört hatte. Ihr Magen kribbelte nervös und das lag nicht nur am Hunger. Hirka wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Sie waren einander überhaupt nicht vorgestellt worden.

»Kolail?«

Er stieß ein Wiehern aus, eine Art abgehacktes Lachen. »Nicht hier.«

Es dauerte einen Moment, bis ihr aufging, was er meinte. Dass er hier nicht so genannt wurde.

Sie ging zu ihm hin. »Aber das ist dein Name?«

Er nickte. Auf dem Stein neben ihm war Platz.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie.

Er sah aus wie ein Toter, der Stahlmann. Graues Haar, graue Bartstoppeln, die Wangen ein wenig hohl. Und dann die Totgeborenen-Augen, die immer verdreht aussahen …

Sie hatte lange gebraucht, um sich an Naiells Augen zu gewöhnen. Sie waren der lebende Beweis für all die Mythen über die Blinden.

»Ich möchte meinen, du hast die Freiheit, alles zu tun, wonach dir der Sinn steht«, erwiderte er bitter.

Sie lockerte die Decke gerade so viel, dass sie sich setzen konnte. Ein Stock steckte im Schnee, schräg über das Feuer gelehnt. An seinem Ende war eine Forelle aufgespießt, lang wie ein Unterarm. Der Geruch von verbranntem Fett ließ ihren Magen knurren. Hirka lief das Wasser im Mund zusammen.

»Ich wusste nicht, dass ihr Fisch esst«, sagte sie.

»Greif zu.«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie zog den Stock aus dem Schnee und biss herzhaft in den Fisch. Drei große Bissen schluckte sie hinunter, bis ihr einfiel, ihn zu fragen, ob er auch etwas wollte. Er schüttelte den Kopf.

Hirka konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas so Köstliches gegessen hatte. Sie verputzte alles, was an dem Fisch essbar war. Nur die Mittelgräte und der Kopf hingen noch am Stock. Kolail schlug seine Klauen hinein. In kürzester Zeit schrumpften die Überreste zu etwas zusammen, das an ein Haarknäuel erinnerte.

Wie war es möglich, dass sie diesem Volk angehörte? Floss in ihren Adern wirklich Blut von etwas, das so grundsätzlich anders war als sie selbst? Sie waren so vollkommen und so grausam zugleich. Und so … furchtlos. Sie dagegen hatte ihr Leben lang Angst gehabt.

»Wie alt bist …«

»Sag mal«, fiel er ihr ins Wort, »wen von uns beiden versuchst du zu töten? Mich oder dich?«

»Stirbst du davon, dass du mit Leuten sprichst?«

»Stell dich nicht dumm, das passt nicht zu dir.«

Er hatte recht. Sie wusste genau, was er meinte. Er war ein Gefallener. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber dass er kein Freund sein sollte, das war deutlich genug geworden. Sie entschied sich für eine ehrlichere und direktere Annäherung.

»Ich hatte gestern Abend die Möglichkeit, dein Leben zu beenden. Das reicht wohl.«

»Wenn du auf ein Dankeschön wartest, kannst du lange hier sitzen.«

»Wenn du glaubst, ich brauche ein Dankeschön, damit ich jemanden am Leben lasse, dann hast du schon viel zu lange hier in der Kälte gesessen.«

Er erwiderte ihren Blick, sagte aber nichts.

Sie rieb sich die Finger mit Schnee ab, um das Fischfett loszuwerden. »Warum hast du nichts gesagt, als sie dich bestrafen wollte?«

Er gab wieder ein Wiehern von sich. Schüttelte den Kopf, als wäre die Frage idiotisch. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.

»Weil ich schon todgeweiht war, als Glimau anfing zu rennen.«

Glimau …

Hirka spürte, wie sich das Essen in ihrem Magen zusammenballte. Der Mann, den er getötet hatte, war nicht länger ein Fremder im Schnee. Er hatte einen Namen. Das Feuer spuckte Glutfunken in den schwarzen Himmel.

»Wieso das?«, fragte sie.

Kolail warf einen Blick zu den Zelten und senkte die Stimme. »Ich hätte es sein lassen können, zu schießen, und wäre dafür gestorben. Ich hätte versuchen können, ihn einzuholen, hätte es nicht geschafft und wäre dafür gestorben. Oder ich hätte schießen können und vielleicht überlebt. Was hättest du getan?«

»Danebengeschossen?«

Er sah sie an. Das Licht des Feuers flackerte gelb in seinen Augen. Sie senkte den Blick. Wusste, dass sie zu leichtfertig geantwortet hatte. Zu selbstsicher. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was sie getan hätte. Sie verspürte den Drang, den Schaden wiedergutzumachen. Etwas zu sagen, was ihm klarmachte, dass sie verstand. Dass sie nicht dumm war.

»Ich weiß, dass es nicht darum ging, wohin du geschossen hast. Es ging darum, dass die anderen mir den gleichen Respekt entgegenbringen sollten wie ihr. Das war es, was sie wollte.«

Der Gedanke war bestialisch. Hirka biss sich auf die Lippe. Skerri hatte sie aufgefordert, das Todesurteil über einen Mann zu sprechen, um Tatkraft zu beweisen. Um Angst zu verbreiten. Weil Hirka so war, wie sie war.

»Aber das wird nie geschehen«, fuhr sie fort. »Ich sehe nicht aus wie sie. Wie ihr. Ich bin …«

»Klein.« Kolail stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor. Er war allzu groß und allzu nah. Seine Unterarme waren in schäbiges Fell geschnürt. »Du bist klein. Langsam. Schwach. Frierst leicht. Man muss dir den ganzen Tag zu trinken geben. Kein Wunder, dass sie schon Wetten über dich abschließen. Tyla hat zwei Scheiben gewettet, dass du krepierst, bevor wir da sind, und offen gesagt wäre das auch das Beste für dich. Jeder Dummkopf kann sehen, dass du noch einen weiten Weg zurücklegen musst, bevor aus dir eine Dreyri wird. Bevor du annähernd wie jemand bist, der Modrasmes Haus angehört.«

Hirka starrte ihn an. Er lächelte nicht, aber der Zug um seinen Mund verriet, dass er sich amüsierte. Das wärmte sie mehr als das Feuer.

»Findest du nicht, dass du ein bisschen zu ehrlich bist?«, fragte sie. »Wenn man bedenkt, dass ich mir eine passende Strafe für dich überlegen soll, bevor wir angekommen sind?«

Wieder dieses wiehernde Lachen. Der graue Haarschopf zitterte. »Als hättest du jemals in deinem Leben jemanden bestraft.«

Hirka merkte, wie ihr Lächeln verblasste. Die Erinnerung an Micke drängte sich auf. An das Messer, das sie in ihn hineingestoßen hatte, in der Gasse an der Kirche. Warmes Blut auf kalten Händen.

Kolail sah sie an. »Ach, das hast du? Wohl unabsichtlich?«

Sie schüttelte den Kopf. Krallte die Finger in die Wolldecke, die sie vor der Brust zusammenhielt. Sie hatte Leben genommen und es war kein Unfall gewesen. Sie hatte Angst gehabt. Verzweifelte Angst, ja. Aber dennoch … Tief im Innern wusste sie, dass die Klinge ihren Weg zwischen seine Rippen nicht zufällig gefunden hatte.

Kolail zuckte die Schultern. »Na, dann werde ich eben eine weitere Kerbe im Stock sein. Du hast mich bereits zum Tode verurteilt. Wenn du glaubst, sie lässt dich mit etwas anderem davonkommen, bist du dümmer, als du aussiehst.«

»Und das quält dich nicht? Dass sie dich ohne Grund umbringen wird?«

»Früher oder später hätte sie einen Grund gefunden. Egal, Karnickel sterben.«

Hirka drehte sich zu ihm um. Dachte, sie hätte sich verhört. »Karnickel? Was haben Kaninchen damit zu tun?«

»Das ist eine … Wie nennt ihr das? Eine Redensart?«

»Es ist eine Redensart, dass Kaninchen sterben?«

Er nickte. Hirka stand auf. »Das ist die dümmste Redensart, die ich je gehört habe.«

Er zuckte wieder die Schultern.

Hirka zog die Wolldecke höher, um nicht draufzutreten. »Danke für den Fisch«, sagte sie.

»Der war nicht für dich.«

Sie wusste, dass er log. Er hätte den Fisch roh essen können, wenn er gewollt hätte. Mit den Klauen. Es gab keinen Grund, ihn über dem Feuer zu braten. Keinen anderen Grund als sie.

Sie wandte sich zum Gehen.

»Jetzt, da die Welt bald auf den Kopf gestellt wird«, sagte er hinter ihrem Rücken. »Jetzt, da du hier bist, die große Hoffnung, der Weg zur Gabe. Da muss ich einfach fragen … Was ist dein Plan?«

Hirka tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie zog die Wolldecke fester zusammen und stapfte weiter.

Was ist dein Plan?

Eine so kleine Frage. Und trotzdem, von allem, was sie die letzten Tage gehört hatte, war dies das Erschreckendste.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)

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