Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 17
Ein neuer Mester
ОглавлениеDer Mond hing tief zwischen den Bergen. Halbvoll und rot.
Rime nahm den üblichen Weg nach Blindból hinein. Er hatte überlegt, einen anderen Weg zu gehen, aber wozu sollte das gut sein? Er würde ohnehin nicht ungesehen ins Lager kommen. Und auch wenn sein Körper ihm etwas anderes sagte, sollte er eigentlich nichts zu befürchten haben. Er war kein Gesetzloser. War nicht für tot erklärt worden. Man hatte ihn nicht einmal offiziell als Rabenträger abgesetzt. Er war einfach nur weg gewesen.
Fragte sich nur, ob die Schwarzröcke das auch so sahen. Nach Schwarzfeuers Tod war er nicht mehr in Blindból gewesen. Würden sie ihn als Mörder betrachten? Als Verräter? Hatte Darkdaggar sie vielleicht schon für sich gewonnen?
Die Bäume standen frostweiß in der Dunkelheit. Bäume, an denen er schon unzählige Male vorbeigegangen war. Blindból war der einzige Ort, an dem er sich zu Hause fühlte. Hatte er hier immer noch ein Zuhause?
Seine Gedanken kreisten um das, was er sagen wollte, aber das war eine sinnlose Übung. Alles stand und fiel mit den Schwarzröcken. Wie viele von ihnen glaubten Darkdaggars Lügen? Wie viele nahmen an, dass er tot war? Oder wahnsinnig?
Vielleicht war er ein Wahnsinniger. Er war in einer anderen Welt gewesen. Einer Welt, die über seinen Verstand ging. Er hatte sich den eigenen Schwanz abgeschlagen. Seinen eigenen Mester getötet. Hatte sich dem Blindwerk hingegeben. Verbarg einen Schnabel im Hals, der ihn zum Sklaven eines Totgeborenen machte. Und er war der Einzige, der den Krieg zwischen den Völkern kommen sah.
Die Summe all dessen war zweifellos beunruhigend.
Ein Wahnsinniger.
Dass er an Macht eingebüßt hatte, war seine geringste Sorge. Er hatte sowieso nie im Rat sitzen wollen. Er hatte nur Veränderung gewollt. Aber wozu?
Er kam an die Hängebrücke und blieb stehen. Die Schneedecke fing das Mondlicht ein und machte die Brücke in der Dunkelheit sichtbarer als sonst. Ein glitzernder Pfad in der Nacht. Er dachte an Launhugs Gestalt, zusammengekrümmt auf der Brücke. Halb tot vor Verletzungen und Selbstverachtung, nachdem er in Ravnhov versagt hatte. Wie hätte die Welt ausgesehen, wenn Launhug es geschafft hätte? Wenn Hirka nicht auf dem Dach gewesen wäre und Eirik das Messer in den Rücken bekommen hätte? Wie hätte die Welt ausgesehen, wenn Ravnhov keine Gefahr mehr wäre?
Ein Blutbad …
Ravnhov war der einzige Ort, der die Kraft hatte, Mannfalla die Stirn zu bieten. Ohne Ravnhov hätten die Reiche neue Allianzen geschmiedet. Wären in den Kampf gezogen, jeder gegen jeden. Letztlich war es besser, zwei starke Männer zu haben als eine Bierstube voller Leute, die glaubten, sie könnten gewinnen.
Rime betrat die Brücke. Sie dröhnte unter seinen Schritten. Er nahm eine Bewegung im Dunkel auf der anderen Seite wahr und wusste, dass man ihn entdeckt hatte. Es gab keinen Weg zurück. Er setzte die Kapuze ab. Wollte erkannt werden. Er hatte nicht vor, sich zu verbergen.
Er erreichte die andere Seite und ging zwischen den Bäumen weiter. Sie bildeten ein schützendes Dach über dem Weg, bis hin zum Lager. Die Sehnsucht schnürte ihm die Brust ein, als er die Lichter sah. Warme, flackernde Lichter. Eins vor jeder Hütte.
Zu Hause.
Und sie hatten ihn kommen lassen. Das war ja schon mal was. Doch es fing jetzt erst an. Jetzt, da die Last all dessen, was geschehen war und was noch kommen würde, ihn zu ersticken drohte. Jetzt würde er vor seinen Leuten stehen und ihnen beweisen müssen, dass er noch bei Verstand war.
Es war spät. Teezeit. So wie jeden Abend. Rauch stieg von den Dächern auf, die verstreut zwischen den Bäumen lagen. Drei Feuer brannten auf dem Hof. Schwarzröcke saßen auf langen Bänken und nie hatten sie ihren Namen mehr verdient: schwarze Schatten.
Die lebhaften Gespräche waren verstummt. Vergessen war der Tee, war das Abendessen. Einige saßen mit dem Suppenteller auf dem Schoß da. Andere hatten sich erhoben. Schweigend und abwartend folgten sie ihm mit dem Blick.
Er ging auf das nächstliegende Feuer zu. Auf die Gesichter, die er am besten kannte. Männer, die ihm früher gefolgt waren. Er hörte, wie einige seinen Namen flüsterten. Ein Geräusch, das wie Wind in den Blättern durchs Lager wehte. Einer von ihnen stand auf und ging ihm entgegen. Mandelförmige Augen in einem breiten Gesicht.
Jeme.
Jeme war mit ihm auf dem Bromfjell gewesen. Jeme wusste Bescheid. Er war ein Freund. Musste es sein.
Er blieb vor ihm stehen. Sein Blick wanderte über Rimes Körper, als sähe er ein Gespenst.
»Sie sagten, du seist …« Der Mann konnte den Satz nicht beenden.
Rime nickte. Es brauchte nicht mehr Worte.
Jemes Hand legte sich um seinen Nacken. Dann zog er Rime an sich, bis sie Wange an Wange standen. Jemes Wärme auf Rimes unterkühlter Haut.
»Rime … Immer kommst du zu spät zum Abendessen. Immer.« Er gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Rimes Hals wurde rau. Daheim. Er hatte immer noch ein Zuhause.
Jeme ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Seine Augen waren blank und auch Rime kämpfte gegen das Brennen unter seinen Lidern.
Eine Gestalt war neben Jeme aufgetaucht. Eine Frau.
»Rime An-Elderin …«, sagte sie mit schiefem Lächeln. Er streckte die Hand aus. Sie ergriff sie mit festem Händedruck.
»Ich bin Orja. Mesterin Orja für dich.«
Rime glaubte, seine Überraschung gut zu überspielen. Es gab nur wenige weibliche Schwarzröcke und noch weniger Mesterinnen.
»Ich habe Schwarzfeuers Platz übernommen, aber keine Sorge. Ich werde nicht zulassen, dass du es dir zur Gewohnheit machst, deine Vorgesetzten zu töten.« Sie ging zurück zum Feuer. Dort wimmelte es inzwischen von Leuten, das ganze Lager hatte sich versammelt. Sie blickte Rime wieder an.
»Du lebst. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass es bedeutet, ein Sturm kommt auf uns zu, nicht wahr?«
Er nickte. »Der schlimmste, den je einer von uns gesehen hat«, erwiderte er.
Schwarz gekleidete Krieger saßen um das Feuer. Einige hatten sich hingelegt, wohl wissend, dass ein neuer Tag bevorstand und sie nicht länger würden schlafen dürfen, nur weil Rime von den Toten zurückgekehrt war. Aber die meisten blieben sitzen. Sie wollten nicht so tun, als wäre dies ein Abend wie jeder andere.
Anfangs war das Gelächter noch nervös, während sie wild fabulierten, wie sie diese Tore nutzen würden. Diese Rabenringe.
Einige behaupteten, sie würden alles aufgeben, was sie besaßen, in der Hoffnung, an einen besseren Ort als diesen zu kommen. Andere wollten sie als Fluchtwege in einem raffinierten Räuberleben nutzen, in dem sie Reichtümer aus allen erdenklichen Welten zusammenplünderten. Torgar erntete Lob für seine Idee, in jeder Welt eine Frau zu haben, bis jemand darauf hinwies, dass es in keiner Welt eine Frau gab, die Ja zu Torgar gesagt hätte.
Das führte zu vorhersehbaren Spekulationen darüber, wie viel Mann ein Ymling war, verglichen mit Männern in anderen Welten.
Das Gelächter schallte über den Platz, während Teekannen die Runde machten.
Rime war froh, dass keiner von ihnen ahnte, was es erforderte, zu reisen. Sie fragten natürlich, aber er sagte, er wisse es nicht. Es gab allzu vieles, was er nicht sagen konnte. Deshalb klafften große Löcher in seinen Erklärungen und Orjas lange Blicke sagten ihm, dass sie es merkte.
Er konnte von Graal erzählen, dem Totgeborenen, der nicht eher ruhen würde, bis Ymsland den Nábyrn gehörte. Und er konnte von Hirka erzählen, die jetzt bei ihnen war, in dem vergeblichen Versuch, sie aufzuhalten. Von dem Schnabel konnte er niemals jemandem erzählen.
Aber dass er sich den Schwanz abgeschlagen hatte, um in der Welt der Menschen zu überleben, das konnte er nicht verheimlichen. Das müsste sich doch auf das Gleichgewicht auswirken, meinten sie. Sveinn, der sein Licht immer unter den Scheffel stellte, sagte, selbst er könnte Rime jetzt besiegen. Die anderen lachten. Irgendwer sagte, jetzt könnte jeder Rime besiegen. Da lachten sie noch lauter.
Aber dann fiel ihnen wieder ein, wen Rime zuletzt besiegt hatte. Sie dachten daran, dass der unbesiegbare Schwarzfeuer nicht in ihrer Mitte saß und es auch nie mehr tun würde. Ihre Blicke wurden unruhig und sie suchten sich ein anderes Gesprächsthema.
Als sich die Gelegenheit ergab, zog Rime sich still zurück. Er hatte kaum ein paar Worte mit Orja gewechselt, aber gehört hatte er mehr als genug. Sie würde ihn nicht unterstützen.
Er folgte einem schmalen Pfad zu einer der Übungshallen. Sie lag ganz oben auf dem bewaldeten Berggipfel. Das Dach war weiß von Schnee. Es war so gebaut, dass es ein Stück über die Wände hinausragte und eine schmale Veranda schützte, die sich rund ums Haus zog. Wie oft war er auf Händen diesen ganzen Weg gelaufen? Wie oft hatte er von vorn anfangen müssen, weil er umgefallen war?
Rime betrat die Veranda und öffnete die Falttür. Der Wind fuhr hinein, als wäre in dem leeren Raum ein Sog. Er riss eine Wolke aus Puderschnee mit sich, der sich in die Kerben des Fußbodens legte. Einige davon waren jahrhundertealt. Andere so neu, dass sie von ihm stammten. Kerben von seinem Schwert. Von seinem und Schwarzfeuers.
Rime schloss die Augen. Er konnte beinahe hören, wie Stahl auf Stahl traf. Holzstock auf Holzstock. Glaubte den Geruch von Schweiß wahrzunehmen. Schwarzfeuers Stimme, wie ein Echo aus Draumheim.
An dem Tag, an dem ich gegen dich verliere, wird es aus Liebe geschehen.
Rime spürte, wie sich seine Lippen verzogen. Er musste gegen das aufsteigende Weinen ankämpfen. Gegen die Trauer, die er nicht zulassen wollte.
Was hätte er denn tun sollen? Welche Wahl hatte er denn gehabt? Darkdaggar davonkommen lassen? Ihn nicht herausfordern? Und als er sah, dass sein Gegner Schwarzfeuer war, hätte er da sein Schwert wegwerfen sollen? Sich töten lassen?
Das Geräusch von Schritten auf dem Pfad. Da kam jemand.
Orja.
Sie blieb in der Tür stehen, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Du bist nicht einverstanden«, sagte sie.
Das war nicht das, woran Rime gedacht hatte, aber er berichtigte sie nicht. Sie kam einen Schritt näher. »Wir sind Schwarzröcke, Rime. Wir können uns nicht aussuchen, auf wen wir hören oder von wem unsere Befehle kommen sollen. Ob wir einverstanden sind oder nicht, wir sind das Werkzeug des Rates. Ganz gleich, aus wem der Rat besteht.«
Rime drehte sich zu ihr um. Sie war zwischen dreißig und vierzig Winter alt. Ihr dunkles Haar war im Nacken geschnürt.
»Ich bin in Eisvaldr aufgewachsen«, erwiderte er. »Ich weiß, wie das läuft.«
»Und warum versuchst du dann, etwas anderes zu tun?« Sie hatte die Stimme erhoben. »Was dachtest du, was wir sagen würden?«
»Du hast deine Wahl getroffen«, antwortete Rime.
Sie kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Zeigte auf ihn, als hätte er protestiert. »Rime An-Elderin, du hast mehr bekommen, als du dir hättest erträumen können. Du wirst gesucht, aber du bist kein Gesetzloser. Sie suchen dich immer noch als einen Vermissten. Deshalb steht es dir frei, hierzubleiben. Niemand wird dich verraten. Hundert Männer dort draußen würden ihren Arm für dich opfern. Manche sogar ihr Leben.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit.« Er wandte ihr wieder den Rücken zu.
Sie seufzte. »Glaubst du, ich würde dir nicht helfen, wenn ich könnte? Ich kann mir vorstellen, dass du recht hast, Rime, durchaus. Nach allem, was ich gehört habe, ist es mehr als wahrscheinlich, dass Darkdaggar dich umbringen wollte. Nicht nur er, sondern auch die anderen. Aber wir können nicht danach handeln, was wir glauben. Und wenn es so kommt, wie du sagst, dass die Reiche aufeinander losgehen, dass Totgeborene in Ymsland einfallen … ja, dann folgen wir den Befehlen des Rates, auch dann.«
Rime sah sie an. Er wusste nicht, mit wem sie diskutierte, aber er war es nicht. Sie lehnte sich gegen die Wand. Verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe viel über dich gehört, Rime. Du hättest die meisten der Männer da draußen dazu bringen können, ihre Befehlshaber zu verraten. Garm Darkdaggar im Schlaf abzuschlachten. Du hast gehört, was sie gesagt haben, sie wären dir durch Tore in unbekannte Welten gefolgt, wenn nötig.«
»Aber du nicht?«
Sie seufzte wieder. »Weißt du, warum sie mich nach Schwarzfeuers Tod zur Mesterin befördert haben? Hier in Blindból war ich gar nicht die Nächste in der Reihe. Ich wäre in Haglefjell an der Reihe gewesen, aber sie haben mich hierher versetzt. Warum?«
Rime konnte sich eine Menge Gründe vorstellen, aber er nannte keinen davon. Sie fuhr fort: »Weil sie erwartet haben, dass die Männer protestieren. Was sagt dir das?«
Rime lächelte. »Dass der Rat seine eigenen Krieger nicht kennt.«
Sie lächelte zurück. »Genau. Sie haben nie auch nur einen Tag bei den Schwarzröcken verbracht. Sie verstehen nicht, dass Disziplin das Einzige ist, was uns antreibt. Protestieren? Wir protestieren nicht, wir führen aus! Ich war ein Werkzeug für sie. Ein Hilfsmittel, um das Vertrauen der Schwarzröcke zurückzugewinnen. Der Plan war einfach: Sie befördern mich, warten auf Proteste, und wenn welche gekommen wären, hätten sie ihren guten Willen bewiesen, indem sie mich ersetzt hätten. Dass ich immer noch hier bin, liegt am Unverstand des Rates. All das weiß ich und trotzdem werde ich ihre Befehle befolgen. Wir sind dem Rat unterstellt. Deshalb ist Abwarten das Einzige, was wir tun können.«
»Abwarten bis …?«
Die Frage schien sie zu überraschen. Er nutzte die Gelegenheit und fuhr fort: »Bis sie dich auffordern, das Gesetz zu brechen? Nein, die Gesetze machen sie ja selbst … Bis sie auf Unschuldige losgehen? Nein, es steht uns nicht zu, über Schuld zu entscheiden, das ist ihre Aufgabe … Bis sie dir befehlen, dich in dein eigenes Schwert zu stürzen? Wieso, dafür bist du doch da. Wenn der Rat es wünscht, ist es genau das, was du zu tun hast.«
Rime hörte selbst den Zorn in seinen Worten, aber es musste raus. »Wenn du sagst, dass wir abwarten sollen, dann bedeutet das überhaupt nichts. Du hast dein Herz längst in die Hände des Rates gelegt. Du hast auf die Freiheit, deine eigene Meinung zu haben, verzichtet. Das ist dein gutes Recht, aber komm nicht mit falschen Gründen dafür an. Komm nicht an und behaupte, es sei dein moralischer Standpunkt, der dem zugrunde liegt, denn Moral hast du längst anderen überlassen.«
Sie ging zur Tür. »Wenn das so wäre, Rime, dann wäre der Rabe längst unterwegs mit der Nachricht, dass du zurück bist. Vorläufig werde ich respektieren, dass du nicht gefunden werden willst.«
»Was also werdet ihr tun, wenn euch der Rat befiehlt, Ravnhov anzugreifen, für einen Mordversuch, hinter dem Darkdaggar gesteckt hat? Ravnhov ist der einzige aufrechte Verbündete in einem Kampf gegen die Totgeborenen.«
Sie ließ ihn stehen und ging, aber von draußen war ihre Antwort zu hören.
»Wir warten ab.«