Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 4

Zurück aus Draumheim

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Rime lief den Hang hinauf, in der Gewissheit, dass ihn im Dunkeln niemand sehen konnte. Er erreichte die Hügelkuppe, presste sich an einen Felsvorsprung und blickte hinunter auf die Ebene. Was eine verlassene Gegend hätte sein sollen, war ein ausgedehntes Zeltlager. Die Zelte standen in schnurgeraden Reihen, ein Muster, das man nur dort fand, wo Ordnung die treibende Kraft war. Wo jemand den Befehl hatte.

Ein Heer.

Es war zu dunkel, um seine Größe zu erkennen. Ein paar Tausend Mann vielleicht, den Fackeln nach zu urteilen. Er bemerkte Spuren im Schnee. Ein Netz von schwarzen Adern zwischen den Zelten. Männer versammelten sich um ein Lagerfeuer direkt unter ihm. Sie gingen mit federnden Schritten und lachten laut. Rime kannte diese Stimmung. Der erste oder zweite Abend, vermutete er. Früh genug würden sie stumm mit gebeugten Rücken dasitzen. Alle, die nicht erfroren waren oder krank in den Zelten lagen.

Die Wimpel hingen schlaff herab, aber er wusste, dass sie das Zeichen des Sehers trugen. Es war das Heer von Mannfalla, das draußen vor der Stadt lagerte. Warum? Worauf warteten sie? Welchen Befehl hatten sie erhalten und von wem?

Sie hatte recht.

Damayanti hatte gesagt, dass er sie hier finden würde. Sie hatte auch gesagt, dass es um ihn ging. Um Ravnhov. Aber ihre Verbindung zum Rat war mit Urd gestorben. Die Vermutungen der Tänzerin waren nicht fundierter als seine eigenen.

Es konnte eine Übung sein, natürlich. Standortwechsel. Oder Truppenbewegungen im Kielwasser des Krieges …

Die Erklärungen kamen ihm sehr dünn vor. Unruhe nagte in seiner Brust. Das beklemmende Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte.

Lag es vielleicht an den Rabenringen? War es überhaupt möglich, sich zwischen den Welten zu bewegen, ohne das Gefühl zu haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren? Verunsicherung war wohl zu erwarten?

Nein. Das hier war mehr als ein Gefühl. Es war eine Gewissheit, die ihn daran hinderte, geradewegs nach Hause zu gehen. Er war kaum zwanzig Tage weg gewesen und in dieser Zeit hatte jemand die Krieger aus ihren Betten gescheucht. Die Wachen an der Stadtmauer waren verstärkt und mehrere der Gardisten durch Männer ersetzt worden, die er noch nie gesehen hatte.

Da stimmte etwas nicht.

Er musste mit Jarladin sprechen.

Rime lief wieder hinunter zur Stadt. Der feuchte Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er näherte sich der Stadtmauer und bewegte sich vorsichtiger, geduckt hinter Wacholderbüschen. Vier Gardisten patrouillierten über dem Tor. Ansonsten war die Steinmauer über lange Strecken leer, eine grau gefleckte Schlange in der Dunkelheit. Er schlich zurück zu der Stelle, über die er gekommen war, ein Mauervorsprung, der ihn vor den Torwächtern verbarg.

Rime zog die Handschuhe aus, klopfte den Schnee ab und steckte sie in die Tasche am Rucksack. Dann umarmte er die Gabe und begann zu klettern. Die Unebenheiten der Steine gaben ihm gerade genug Halt, um vorwärtszukommen. Er zog sich über die Kante, überwand die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite auf ein Hausdach fallen. Ein Dachziegel löste sich und rutschte abwärts. Rime warf sich hinterher und erwischte ihn gerade noch, bevor er über die Dachrinne fallen konnte.

Mit dem Ziegel in der Hand saß er da und lauschte. Ein Stück entfernt fiel eine Tür zu. In der Gasse unter ihm raschelte etwas. Eine Ratte. Sie schlug ihre Zähne in eine tote Taube und versuchte, sie über gefrorenes Laub mit sich zu ziehen.

Rime legte den Dachziegel zurück an seinen Platz und lief über die Dächer weiter, hinauf nach Eisvaldr. Den ganzen Weg über standen die Häuser dicht nebeneinander. Erst kurz vor der Mauer musste er wieder hinunter auf die Straße.

Die Mauer selbst war kein Hindernis. Schon immer waren die Leute ungehindert zwischen Mannfalla und Eisvaldr hin- und hergewechselt. Trotzdem waren auch hier die Wachen verstärkt. Gardesoldaten säumten alle Bogengänge. Ein Zeichen, das deutlicher war als ein Wegweiser. Hier regierte die Angst.

Rime verzog sich in die Gasse hinter einem Wirtshaus. Durch ein leicht geöffnetes Fenster drang Gesang heraus. Halb ertrunkene Strophen, aber sogar die Töne waren auf dieser Seite der Stadt sauberer. Er nahm den Rucksack ab und verschob die Schwerter zum Mittelgurt, sodass sie verborgen entlang des Rückgrats lagen und nicht wie eine Kriegserklärung hinter seinen Schultern aufragten. Dann zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht und überquerte den Marktplatz. Die Gardisten beobachteten ihn mit trägen Blicken, ließen ihn aber ungehindert nach Eisvaldr hinein.

Heimatstadt. Stadt des Rats. Stadt des Sehers.

Des Sehers, den er getötet hatte.

Mit dem Gedanken kam die Erinnerung. Naiell, fauchend wie eine in die Ecke getriebene Katze. Der Körper, der dem Schwert Widerstand geboten hatte. Das Blut auf Hirkas nackten Füßen. Ihr Blick. So voller Trauer. So abgrundtief enttäuscht.

Ich bin so, wie ich bin.

Rime warf einen Blick hinauf zum Steinkreis. Der stand dort in falscher Unschuld, wie die Spitze eines Eisbergs. Die Steine reichten so tief hinab, dass sie in einer Höhle unter Mannfalla von der Decke hingen. Von dort war er gerade gekommen, vor allen Blicken verborgen.

Hier an der Oberfläche waren sie nur bleiche Monolithen vor dunklem Himmel, ganz oben an der Treppe, wo einmal der Ritualsaal gewesen war. In dem er selbst gestanden hatte, mitten im Kreis, umringt von allen lebenden Seelen der Stadt, während Schwarzfeuer zu seinen Füßen verblutete. Wofür?

Rime beugte den Nacken und ging weiter. Er hatte genug Zeit mit Trauer und Wut verschwendet, mehr, als er sich vorzustellen ertrug. Jetzt musste er herausfinden, was während seiner Abwesenheit passiert war.

Jarladins Haus lag ganz oben am Hang, eines von vielen gepflegten Häusern der Ratsfamilien. Rime schlich zwischen winterkahlen Obstbäumen bergauf. Hielt sich auf den Wegen, um keine Spuren im Schnee zu hinterlassen. Er musste unentdeckt bleiben, wenigstens bis er mit Sicherheit wusste, was vor sich ging. Er sprang über die kleine Steinmauer auf der Rückseite des Hauses. Es war spät, aber hinter einem Fenster im oberen Stock sah er flackernden Kerzenschein.

Das Haus war ein Prachtbau im andrakarischen Stil mit Säulenreihen und Schnitzereien in dunklem Holz. Kinderleicht zu erklettern.

Rime zog sich auf ein Schrägdach hinauf und schlich am Rand entlang zum Fenster. Er legte die Hand ans Glas und ließ die dünne Reifschicht schmelzen, sodass er hineinsehen konnte.

Jarladin war allein im Zimmer. Er saß auf einem gepolsterten Schemel und starrte in eine Feuerstelle, als wartete er darauf, dass die Flammen zur Nacht erloschen. Er drehte ein leeres Glas in den Händen. Sein breiter Rücken war gebeugt. Rime war sich schmerzlich bewusst, dass er selbst ein Teil dessen war, was den Ratsherrn bedrückte. Er war verschwunden. Ohne Ankündigung oder Erklärung.

Er kämpfte gegen den Impuls, wieder hinunterzuklettern. Verschwunden zu bleiben. Ein schwarzer Schatten in der Winternacht. Wann hatte er eigentlich seinen Platz drinnen im Warmen gehabt?

Tu, was notwendig ist.

Rime warf einen Blick über die Schulter, versicherte sich, dass er allein war. Dann klopfte er drei Mal an die Scheibe. Jarladin fuhr zusammen. Ließ das Glas zu Boden fallen, ohne dass es zerbrach. Er starrte zum Fenster, ging darauf zu, blinzelnd und mit hochgezogenen Schultern. Dann erkannte er ihn. Er riss ungläubig die Augen auf und machte sich an den Fensterhaken zu schaffen.

Rime bewegte sich ein wenig zur Seite, um Platz zu machen. Jarladin schlug das Fenster weit auf und packte Rime, als wollte er ihn vor einem Absturz retten. Er half ihm ins Zimmer und zog ihn an sich. Rime wurde von bärenstarken Armen umschlossen und ertrank in Wärme.

Der Ratsherr schob ihn wieder von sich. Hielt ihn eine Armlänge auf Abstand, während er ihn von Kopf bis Fuß betrachtete. Er legte seine Pranke an Rimes Kopf, griff ihm ins Haar, als wollte er ihn zausen, tat es aber nicht. Seine Augen wurden feucht. Rime wappnete sich innerlich, wohl wissend, dass der warme Empfang nur von kurzer Dauer sein würde. Der Wechsel zeichnete sich bereits auf Jarladins Gesicht ab. Schmerzliche Freude verwandelte sich in Verwirrung.

»Wo bist du gewesen?«, murmelte er.

Rime wich zurück und schloss das Fenster, ohne zu antworten.

»Wo bist du gewesen?!« Jarladins Stimme brach, als ahnte er Schlimmes.

Rime blickte zu einem Sessel am Feuer. Wünschte, er könnte sich hineinsinken lassen. Ausruhen. Schlafen. Ohne zu träumen. Stattdessen musste er Rede und Antwort stehen, musste versuchen, das Unerklärliche zu erklären.

»Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählte«, sagte er.

»Wo bist du gewesen, Rime An-Elderin?« Schwelender Zorn jetzt. Die Drohung hing stumm zwischen ihnen. Er brauchte eine Erklärung und sie musste gut sein. Jarladin hatte vielleicht geglaubt, er sei tot, aber seine Reaktion verriet eine tiefere Verzweiflung.

Rime zwang sich zu fragen. »Was ist passiert?«

»Was passiert ist?« Jarladin wiederholte die Worte, als läge alle Dummheit der Welt darin. »Was passiert ist?! Du hast deinen eigenen Mester im Kampf getötet und bist verschwunden! Das ist passiert! Ganz Mannfalla war dort, aber seitdem hat dich niemand mehr gesehen. Ich dachte, du würdest im Draumheim schlafen, Rime! Dass Darkdaggar dich am Ende doch noch getötet hätte. Ich dachte …«

Rime sah weg. Wollte Jarladins Blick ausweichen. Es nützte nicht viel, denn der Ratsherr blickte auch von einem Porträt an der Wand auf ihn. Ebenso wie der Rest der Familie, gerahmt in Gold. Ganz gleich, wohin Rime sich auch drehte, er wurde gesehen. Er war ein kalter Fremder in einem warmen Raum. Einem Raum, der ihn an Ravnhov erinnerte, mit steinerner Feuerstelle und Balken unter dem Dach. Ein geschützter Ort, aber nicht für ihn.

»Und die anderen? Was haben die gedacht?«

Jarladin breitete die Arme aus. »Was glaubst du? Die Erklärungen waren ebenso wild wie vielfältig. Schwarzröcke haben dich getötet, um Schwarzfeuer zu rächen, Ravnhov hat dich bei lebendigem Leib verbrannt, du hast dich in der Ora ertränkt oder noch besser: Der Rat höchstselbst hat dich umgebracht. Letzteres erfreute sich in den Bierstuben großer Beliebtheit, als hätten wir nicht genug Probleme! Rime An-Elderin verschwunden, nach Duell und Mordanklage. Deine Abwesenheit hat uns vergiftet, was hast du denn gedacht?! Du warst der Rabenträger!«

Jarladin nahm ein neues Glas von einem Tablett auf dem Tisch. Er wollte sich aus einer Flasche einschenken, aber sie war leer. Nicht ein Tropfen kam heraus. Die Fingerknöchel um den Flaschenhals wurden weiß.

»Die Hunde sind aufeinander losgegangen. Eine Familie misstraute der anderen, natürlich. Altes Unrecht waberte durch die Korridore. Und jetzt schließen sie Bündnisse. Kaufen Söldner. Stellen ihre privaten Armeen auf und glauben, sie täten es heimlich, aber jeder Dummkopf kann sehen, dass Geld aus Mannfalla abfließt. Hinaus in die Provinzen. Die ganze Welt weiß, dass der Rat im Begriff ist, zu stürzen. Bald sehen wir die Reiche gegeneinander kämpfen, das ist passiert, Junge! Danke der Nachfrage!«

Rime setzte sich auf den Schemel. Fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Darum also lagerten Soldaten vor dem Stadttor. Sie waren auf dem Weg in andere Landesteile. Als Geschenk. Zur Stärkung von Bündnissen. Gekauft aus Gründen der Loyalität …

Schlechte Zeichen, aber nichts, was man nicht reparieren konnte. Es gab noch Hoffnung. Immer noch leere Stühle im Rat. Der von Urd, der von Darkdaggar. Die musste man doch nutzen können, um Stabilität herbeizuführen.

»Hat jemand Anspruch auf Darkdaggars Platz erhoben?«

Jarladin lachte halb erstickt. Die Wahrheit zog sich wie eine Narbe über sein Gesicht.

Rime erhob sich. Spürte Kälte unter die Haut kriechen. »Er hat ihn immer noch?«

Die Frage hing unbeantwortet in der Luft. Rime hob die Stimme. »Er hat versucht, mich zu töten, und sitzt immer noch im Rat?«

»Du warst nicht hier!«, fauchte Jarladin. »Du warst nicht hier, um irgendein Urteil zu vollstrecken. Darkdaggar behauptete, er habe aus Notwehr gehandelt. Er sagte, du seist in sein Haus gekommen. Ungebeten. Hättest ihn bedroht. Er hatte nichts zu verlieren, Rime. Nichts. Also ist er aufs Ganze gegangen. Hat Ravnhov die Schuld gegeben. Immerhin warst du dort, als der Anschlag auf dich verübt wurde. Und die Räte haben ihm geglaubt oder so getan, als glaubten sie ihm. Weil sie es glauben wollten! Weil sie ihn brauchten. Und weil du für sie eine wandelnde Katastrophe warst, seit du Rabenträger wurdest. Die meisten am Tisch hätten dich eigenhändig umgebracht, wenn sie gekonnt hätten, also ja, Darkdaggar hat immer noch seinen Stuhl. Wenn du wenigstens den Auftragsmörder am Leben gelassen hättest, dann hätten wir einen Zeugen gehabt, aber so …«

Rime lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Er lachte frostig. »Du hörst dich an wie Hirka. Leben und leben lassen, was? Glaubst du wirklich, Darkdaggar hätte zugelassen, dass er aussagt? Der Mann war in dem Moment tot, als er den Auftrag angenommen hat!«

Wut bringt nichts. Konzentriere dich auf das, was du ändern kannst.

Für einen Moment glaubte er, Schwarzfeuer habe das gesagt, aber es waren Ilumes Worte. Ilume, die Mutter seiner Mutter. Ein Flüstern aus Draumheim. Und eine scharfe Erinnerung an die Politik, die er nie beherrscht hatte.

Er sah Jarladin an. Den Stier mit dem weißen Bart. Das Feuer färbte sein halbes Gesicht rot. Der Rest lag im Schatten, als stünde er mit einem Fuß im Draumheim.

»Ich bin jetzt hier«, sagte Rime. »Der Schaden kann behoben werden. Wir haben viele Möglichkeiten, wir können …«

»Rime … Der Rat hatte nur einen Traum und der war, dich loszuwerden. Diesen Traum hast du eigenhändig erfüllt. Es ist vorbei. Sie werden dich nie zurücknehmen. Eir trägt jetzt wieder den Stab. Ich dachte, die Schriftgelehrten und das Volk würden protestieren, aber niemand hat auch nur einen Stein geworfen. Sie haben gehört, dass du Ravnhov einen Stuhl versprochen hast. Sie haben gehört, der Fürst habe dich am Ende umgebracht, weil du dein Wort nicht gehalten hast. Darkdaggar hat gute Arbeit geleistet, dir etwas anzuhängen. Du hättest den Verstand verloren. Du hättest in Reikavik ein unschuldiges Kind getötet. Einen Jungen.«

Die Worte trafen Rime wie Schläge. Öffneten eine Wunde aus Erinnerungen. Das Dorf am Fluss. Sie hatten geglaubt, es wären Nábyrn. Totgeborene. Aber alles, was sie vorfanden, war ein angeschossener Bär in einem Erdkeller. Das Kind … Der schmächtige Oberkörper, gegen die Wand gelehnt. Rotes Haar. Tote Augen. Er erinnerte sich daran, wie der Mann, der den Jungen getötet hatte, vor ihm kniete. Und er erinnerte sich an den Geschmack seiner eigenen Wut. Trotzdem hatte er gezögert. Schwarzfeuer hatte es erledigt. Schwarzfeuer, der sein eigenes Leben geopfert hatte, um ihn zu lehren, wie man etwas vollendet.

Rime packte Jarladins Arm. »Du weißt, was geschehen ist, Jarladin! Ich habe nie … Ich würde nie …«

Rime begegnete seinem Blick und verstand.

Es spielte keine Rolle, ob er getötet hatte oder nicht. Schwarzfeuer war als Einziger mit ihm in dem Haus gewesen und er konnte nichts mehr bezeugen. Er auch nicht.

Rime sank wieder auf den Schemel. Er hatte vergessen, was er Hirka vor einer halben Ewigkeit selbst erklärt hatte: dass die Wahrheit für den Rat ohne Bedeutung war, solange sie keinen Nutzen brachte.

Jarladin kam zu ihm, ragte vor ihm auf wie der Stier, der er war.

»Also sag mir, Rime … Wo bist du gewesen?«

Rime fühlte sich schwer. Hinabgezogen in einen Sumpf aus Toten. Aus Unrecht. Seine Gedanken waren vernebelt. Als hätte er getrunken. Als ob nichts mehr wirklich wäre.

Tief in seinem Inneren wusste er, dass er etwas erreicht hatte. Etwas, das wichtig und all das hier wert war. Es würde sich anhören wie Wahnsinn, aber er musste es erzählen.

»Ich war bei ihr«, begann er. »Bei den Menskr. Ich habe totgeborene Brüder gefunden, alt wie die Gabe. Nábyrn, die sich immer noch an den Krieg erinnern. Einer von ihnen ist ihr Vater. Sie ist eine Halbblinde, Jarladin. Halb Mensk, halb Totgeborene. Tochter eines Heerführers im Exil. Und ich habe Ihn gefunden. Den Seher …«

Jarladin strich sich mit der Hand übers Kinn. Eine verräterische Geste. Rime wusste, was er dachte. Dass der Rat recht hatte. Dass Rime An-Elderin, Ilumes Enkel, den Verstand verloren hatte. Dass er wahnsinnig geworden war. Krank im Kopf.

Rime blickte zu ihm hoch. »Es gab ihn, Jarladin. Es gab den Seher.«

Jarladin verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was hast du getan, als du ihm begegnet bist?«

Rime war wie gelähmt. »Ich habe ihn getötet.«

»Du hast den Seher gefunden und du hast ihn getötet?«

Rime nickte. Starrte auf die Feuerstelle. Die Flammen waren erloschen. Rote Glut tanzte auf dem verkohlten Holz. Eigentlich hätte er etwas anderes als Leere fühlen müssen.

»Du hast also deinen eigenen Troll bezwungen. Du bist ihr bis weiß der Seher wohin gefolgt und jetzt kommst du zurück und glaubst, die Welt habe stillgestanden. Dass nichts, was du getan hast, Konsequenzen gehabt hat. Als hätten nicht alle ihren Troll, mit dem sie kämpfen.«

Rime stand auf. »Du glaubst, ich bilde mir das nur ein …«

Jarladin zeigte auf ihn. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, um dich zu beschützen! ALLES! Du hattest einen Freund am Tisch und du bist verschwunden! Ohne ein Wort! Ich habe dich verteidigt. Ich …« Er verstummte. Legte den Kopf schräg. Starrte ihn mit wachsendem Unglauben an. Sein Blick suchte nach etwas, von dem Rime wusste, dass er es nicht finden würde: seinen Schwanz.

Keine Erklärung würde helfen. Zwischen ihnen hatte sich ein Abgrund aufgetan. Die Fronten waren zu schroff und er würde nicht gewinnen können. Nicht heute Abend.

Der Ratsherr wurde blass. Wich zurück. Seine Reaktion verschaffte Rime eine erschreckende Befriedigung, als hätte er urplötzlich die Macht zurückerhalten. Die Freiheit, verdammt zu sein.

Rime trat dicht an ihn heran. Jarladin beugte sich zurück. Versuchte Abstand zu gewinnen, als spräche er mit einem Pestkranken. Vielleicht tat er das ja auch.

Ich bin die Fäulnis. Nicht sie.

Rime flüsterte ihm heiser ins Ohr. »Ich habe ihn abgeschlagen. Ich bin ein Schwanzloser geworden. Ein Mensk. Und du glaubst, ich hätte es aus Wahnsinn getan? Aus Schwermut? Ich habe es getan, weil ich musste. Du sprichst von einem kommenden Krieg. Reich gegen Reich, ein zersplitterter Rat, und du glaubst, schlimmer kann es nicht werden? Ich kann dir von Dingen berichten, die dein Blut gefrieren lassen, Jarladin. Reich gegen Reich ist ein Spiel gegen das, was kommt. Versuche einmal, Welt gegen Welt aufzuhalten. Das ist es, wogegen ich kämpfe.«

Jarladin wandte sich ab. »Du folgst ihr, das ist alles.« In seiner Stimme lag keine Überzeugung.

»Nicht mehr. Das ist vorbei. Wie alles andere.« Rime fühlte sich von seinen eigenen Worten aufgespießt. Ein jäher, unerwarteter Schmerz, der ihn zwang, Jarladin den Rücken zuzukehren. Er öffnete das Fenster und sprang auf den Fenstersims. Hockte dort eine Weile und sammelte sich, ehe er sich wieder umdrehte.

»Ich wusste nicht, wen ich hier antreffen würde, Jarladin. Freund oder Feind. Aber ich weiß, wer Darkdaggar ist. Wozu er imstande ist, wenn er unter Druck gerät. Und du musst damit rechnen, dass er dich im Auge behält.«

»Du glaubst zu wissen, was in Ratsmitgliedern vorgeht, Rime? Du, der sich selbst nie als dafür geeignet befand?«

»Ich glaube zu wissen, was in einem Mörder vorgeht.«

Jarladin trat einen Schritt zurück. Sein Fuß stieß gegen das Glas, das zu Boden gefallen war. Es zerbrach in zwei Teile, offenbar war es doch nicht so unversehrt, wie es den Anschein gehabt hatte.

»Du bist hier nicht sicher, Jarladin. Weder du noch deine Familie. Du hast nur wenige Freunde im Rat und Darkdaggar ist gefährlich. Vielleicht solltet ihr Mannfalla besser verlassen.«

»Niemals.«

Rime hatte nichts anderes erwartet. »Dann versprich mir wenigstens, dass du versuchst, den Rat noch eine Weile zusammenzuhalten.«

»Du willst, dass ich ihn zusammenhalte? Den Rat, den du so erbittert versucht hast zu zerschlagen?«

An einem anderen Tag hätte Rime über die Ironie gelächelt. »Ja. Ich will, dass du ihn zusammenhältst. Denn jetzt weiß ich, was die Alternative wäre. Was danach kommen könnte. Und das würde keinem von uns gefallen.«

Er richtete sich auf dem Fenstersims auf und machte sich bereit zum Sprung.

»Du hast es ihnen leicht gemacht«, sagte Jarladin hinter ihm. »Früher hätten sie nie gewagt, dich umzubringen. Sie hätten einen Volksaufstand gefürchtet. Oder, noch schlimmer, einen Aufstand der Schwarzröcke. Beides brauchen sie nun nicht mehr zu fürchten. Für sie bist du tot, Rime.«

»Und das werde ich auch bleiben.« Rime umarmte die Gabe und warf sich hinaus in die kalte Nacht.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)

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