Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 23
ОглавлениеDie Quelle
Rime war dem Netz aus Pfaden und Hängebrücken, das die Schwarzröcke angelegt hatten, so tief nach Blindból hinein gefolgt, wie es ging, aber noch bevor er den halben Weg nach Ravnhov hinter sich gebracht hatte, war auch damit Schluss. Danach musste er seinem Instinkt folgen, um durchs Gebirge zu kommen. Das türmte sich um ihn herum auf, in Windrichtung mit Streifen von Schnee. Das Gelände veränderte sich mit den Jahreszeiten. Was beim letzten Mal noch ein sicherer Weg gewesen war, konnte diesmal zur Todesfalle werden. Man musste aufpassen.
Die Kälte war weniger grimmig als noch vor einem Tag. Es war bald Frühlingsanfang, der Schnee war schon weitgehend geschmolzen. Zumindest ermöglichte er ihm das Vorankommen. Er ließ mit sich handeln.
Im Gegensatz zu Orja.
Die neue Mesterin der Schwarzröcke war unbeirrbar in ihrer Loyalität zum Rat. Er konnte sie auch nicht zu sehr unter Druck setzen, immerhin wohnte er sozusagen gnadenhalber im Lager. Er hatte gehofft, Ravnhov die Rettung zu bringen. Ein Heer schwarzer Schatten. Jetzt kam er mit nichts als schlechten Nachrichten. Mobilisierung in Mannfalla. Ein bevorstehender Krieg. Obwohl er nicht daran zweifelte, dass Eirik längst davon erfahren hatte.
Aber der Fürst auf Ravnhov war wenigstens der Einzige in ganz Ymsland, der sich darüber freuen würde, dass Rime noch lebte. Zusammen würden sie eine Lösung finden. Würden Freund von Feind trennen und Bündnisse schmieden, die Darkdaggar und Mannfallas Heer auslöschen konnten, und sich danach einem größeren Feind stellen.
Eirik hatte auch seine eigenen Leute, die hinter ihm standen. Er würde Rat wissen, wie Rime die Schwarzröcke zurückgewinnen konnte. Wie er Orja auf seine Seite bringen konnte. Das war der wichtigste Teil des Plans. Ohne Schwarzröcke brauchten sie es gar nicht erst zu versuchen.
Am Himmel zog es grau herauf. Rime wurde langsamer. Die Gegend war ihm bekannt, sie rührte an eine Erinnerung, bei der es ihm im Körper kribbelte.
Die Quelle.
Sie lag vor ihm in einer Senke. Der Schnee am Rand war geschmolzen. Dampf stieg aus dem grünen Wasser auf und verzerrte den Blick auf die Berge dahinter.
Er blieb stehen. Ein Schwarm Krähen flog krächzend auf und verschwand. Ihm war, als verschwände seine Kraft mit ihnen. Er blieb geschwächt zurück, mit Erinnerungen, die ihm das Herz schwer machten.
Dort an dem Stein hatte sie ihren Beutel abgelegt. Und gleich daneben hatte er seine eigenen Männer getötet. Launhug war im Wasser verblutet. Sie hatten ihr Leben geopfert, um einen Seher zu verteidigen, von dem er gewusst hatte, dass es ihn nicht gab. Die Schwarzröcke hatten die Leichen längst abgeholt. Alle Spuren hatte der Schnee zugedeckt.
Aber sein Körper erinnerte sich. Ein Stich in der Seite, dort, wo Stahl ihn aufgeschlitzt hatte.
Rime starrte auf das Wasser. Er hatte weiterwandern wollen, aber sie hatte darauf bestanden, wie nur sie es konnte. Hatte gesagt, sie müssten baden. Hatte mit Flöhen und Ungeziefer gedroht.
Seine Welt hatte in Trümmern gelegen. Den Seher gab es nicht, Urd hatte Ilume ermordet und Ravnhov war der einzige Ort, wo sie hinkonnten. Und sie sprach von Flöhen …
Er lächelte. Die Schwerter auf seinem Rücken wurden ihm plötzlich schwer. Damals war alles so hoffnungslos erschienen. Aber da hatte er nicht gewusst, wie hoffnungslos es noch werden konnte. So wie jetzt.
Er ging hinunter zur Quelle und setzte seinen Rucksack auf die Erde. Stellte die Schwerter gegen einen Stein. Er begann sich auszuziehen. Getrieben von dem Drang, Wärme zu spüren. In der Zeit zurückzugehen. Zu der Zeit, bevor sie sich von ihm abwandte. Vor Darkdaggar. Vor dem Schnabel.
Er legte seine Kleider zusammen und packte sie oben auf den Rucksack. Der Schnee schmolz um seine nackten Füße. Er ließ sich vorsichtig ins Wasser hinab. Es brannte auf der Haut. Liebkoste ihn und bestrafte ihn. Rime schloss die Augen. Lag da zwischen Wärme und Kälte. Zwischen Wasser und Schnee.
Hier hatte sie auch gelegen. In demselben Wasser. Das Mädchen, das die Welt auswrang wie einen Lappen. Das Mädchen, für das er so unglaublich viele Dummheiten begangen hatte. Das Mädchen, das er geküsst hatte.
Sein Körper erwachte. Wurde hart. Er erinnerte sich. Ihre Lippen auf seinen. Ihre Hand, die ihm über den Nacken strich, auf der Jagd nach nackter Haut. Jetzt hasste sie ihn, aber das war nicht immer so gewesen.
Leid und Lust vermischten sich in seinem Körper. Wurden zu einem Drang, der nach Linderung verlangte. Zu einer Forderung, die er erfüllen musste. Sie hatte ihn gewollt, damals. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie miteinander geschlafen, auf der Stelle. Er wusste es.
Rime führte die Hand zum Schritt. Spürte ein Jucken im Hals.
Im Hals …
Graal!
Aus dem Jucken wurde Schmerz. Ein ganz anderer Schmerz. Ein anderes Fordern. Sein Puls ging schneller. Ob deswegen, weil er hart oder entsetzt war, das wusste er nicht. Der Kontrast verursachte ihm Übelkeit. Er warf sich im Wasser herum, griff nach seinen Kleidern und fand die kleine Flasche von Damayanti. Blindenblut. Rabenblut. Und die Götter mochten wissen, was noch alles.
Was soll ich sagen?
Damayanti hatte sicher bereits von Darkdaggar erzählt und dass Rime keinen Stuhl mehr im Rat hatte. Es war sinnlos, das verheimlichen zu wollen. Wie wütend ihn das gemacht hatte, blieb abzuwarten.
Rime biss die Zähne zusammen. Versuchte, sich gegen das Unausweichliche zu wehren. Sich selbst zum Aushalten zu zwingen. Eine Illusion von Kontrolle zu schaffen. Es war zwecklos. Je länger er wartete, desto schlimmer wurden die Schmerzen.
Er umarmte. Öffnete den Mund. Ließ ein paar Tropfen in den Hals fallen und spürte, wie der Schnabel zum Leben erwachte. Das Ding bewegte sich wie ein Tier. Er bezwang seine Übelkeit. Spuckte Blut.
»Graal …«
Er zog sich aus dem Wasser. Verharrte auf allen vieren im Schnee. Die Worte pressten sich aus seinem Hals hervor, als wären es seine eigenen.
»Wann ungefähr hattest du vor, es mir zu erzählen?«
Rime stieß ein keuchendes Lachen aus. »Was denn? Such dir was aus, es ist genug da«, antwortete er.
»Rime, ich bilde mir ein, dass ich nicht zur Schadenfreude neige, und es gibt unter diesen Umständen auch wirklich wenig, um sich darüber lustig zu machen. Aber was habe ich dir gesagt? Habe ich nicht gesagt, dass du mit jedem Tag, den du weg bist, an Macht verlierst? Habe ich nicht gesagt, dass du niemals hättest kommen dürfen?«
Rime zwang ein tiefes Husten herauf, als könnte das die Qualen lindern. Er wusste nur allzu gut, dass er ihm ausgeliefert war. Nackt und machtlos im Schnee. Er war es gewohnt, kämpfen zu können. Auf das einschlagen zu können, was ihn bedrohte. Aber das hier war unmöglich zu besiegen. Dieses Gefühl war neu und es machte ihn wütend.
»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Du bist jemand, der gern redet, und hast eine Menge gesagt.«
»Das ist kein Spiel!«
Der Schnabel öffnete sich. Rime griff sich an den Hals. Hustete Blut. Roter Regen im Schnee. Es blieb eine Weile still.
»Rime … Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Dann wäre es einfacher. Aber so, wie es jetzt ist, möchte ich dich gerne schonen. Aus Respekt. Vor dir und vor ihr. Das hier muss nicht schwierig sein.«
Rime fiel vornüber in den Schnee. »Respekt? So nennst du das? Aus Respekt vor ihr hast du sie zum Draumheim geschickt?«
»Zu ihrem eigenen Volk, Rime. Das ist ihr Zuhause. Sie wird hohes Ansehen gewinnen. Wird unser Haus erheben. Sie wird es besser haben, als sie es an irgendeinem anderen Ort haben könnte. Und glücklicher werden, als du sie je machen kannst.«
»Ansehen?« Rime lachte grimmig. »Du glaubst, das macht sie glücklich? Du kennst sie überhaupt nicht, ist dir das klar?«
»Ich bin ihr Vater.«
»Du bist ein Drecksack.«
Rime wartete auf eine Welle von Schmerz, aber sie kam nicht. Er rollte sich auf den Rücken und legte den Arm übers Gesicht. Die Kälte begann, sich unter seine Haut zu fressen.
»Sollen wir es später noch einmal versuchen, wenn du dich besser benehmen kannst, Rime?«
Rime spürte seine Lippen zucken, aber er antwortete nicht. Seine Wut wurde von der Gabe angefacht. Wuchs mit jedem Herzschlag.
Graal sprach weiter, als hätte er gesiegt. »Du hast deine Macht verloren. Damit machst du es mir schwerer. Jetzt musst du dafür sorgen, dass Darkdaggar nicht die Kontrolle über die Schwarzröcke gewinnt.«
»Glaubst du, ich bin ein Idiot?« Rime schluckte Blut. Er war nicht überrascht, dass sie dasselbe Ziel hatten. Keiner von ihnen wollte den Schwarzröcken auf dem Schlachtfeld begegnen.
Graal seufzte. Linderte den Schmerz wie eine kühle Brise. »Ohne mich wärst du zweifellos einer. Sei froh, dass du den Schnabel genommen hast. Ich kann dich wenigstens am Leben erhalten.«
Rime kroch wieder hinunter zum Wasser.
Am Leben … Wie lange? Bis der Krieg vorbei ist? Bis ich das getan habe, wozu du mich brauchst?
Er war ein Werkzeug. Eine Waffe. Ein Sklave. Aber wenn Graal glaubte, er würde aus Furcht vor Schmerzen für die Blinden kämpfen, dann hatte er sich geschnitten.
»Du hörst bald von mir«, sagte Graal. »Und dann erwarte ich, dass du die Schwarzröcke wieder unter deiner Kontrolle hast und dass sie bereit sind, gegen den Rat zu kämpfen.«
Die Wahrnehmung von Graal verschwand. Rime war wieder allein. Er sank ins Wasser hinab. Holte sich die Wärme zurück in den Körper. Aber er konnte nicht aufhören zu zittern.