Читать книгу Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - Страница 20

Ginnungad

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Die Entfernung bis Ginnungad ließ sich an der Stimmung ablesen. Die zog sich zusammen wie ein Knoten. Hungl, Tyla und Kolail gingen stumm als Letzte in der Reihe. Skerri und Grid wechselten halblaute Worte. Die Ausnahme war Ǫni, natürlich, die immer hektischer wurde.

»Und du darfst nicht husten, seufzen oder gähnen. Nicht, solange du in Gesellschaft von Höhergestellten bist. Und natürlich nicht mit dem Finger zeigen! Du darfst ihnen auch nicht den Rücken zuwenden, bevor du die Erlaubnis dazu erhalten hast, und du darfst unter gar keinen Umständen die Eckzähne entblößen.«

»Die Eckzähne?« Hirka zog eine Augenbraue hoch.

»Oh …« Ein Hauch von Rosa erschien auf Ǫnis Gesicht. »Immerhin hast du ja eine Andeutung davon«, ergänzte sie, als hätte sie etwas gesagt, was einer Rechtfertigung bedurfte.

Hirka fuhr sich mit der Zunge über die Eckzähne. Sie waren nicht spitzer als sonst.

»Was ist mit Essen? Ich darf wohl in Anwesenheit von Leuten auch nichts essen?«

Ǫni schlug sich die Hand vor den Mund. »Du liebe Güte … Mögen die Höchsten dir gnädig sein, wenn du das tust! Die einzige Ausnahme sind die Feste. Wenn Mahlzeiten serviert werden und du zum Essen eingeladen bist.«

Was zwei Mal im Jahr vorkommt. Fantastisch …

Hirka biss sich auf die Unterlippe. Am Anfang hatte sie geglaubt, all diese Regeln wären reine Erfindung. Um sie auf die Probe zu stellen. Ein Spaß. Und wenn Ǫni nicht so nervös gewesen wäre, hätte sie das wohl immer noch geglaubt.

Sie näherten sich einer aus Stein gehauenen Brücke. Sie spannte sich über einen Abgrund, der tief in den Berg schnitt. Trotzdem hatte sie kein Geländer. Nichts, woran man sich festhalten konnte.

Skerri und Grid betraten sie, ohne zu zögern. Ǫni auch. Hirka zwang sich, ihnen zu folgen, ohne nach unten zu schauen. Sie richtete den Blick fest auf einen Sockel, der auf der anderen Seite aufragte. Als sie die Brücke überquert hatte, sah sie, dass es eine perfekte sechseckige Säule war, mit kleinen Runen, die auf allen Seiten eingeritzt waren. Die Säule reichte ihr bis zu den Schultern. Sie musste einmal höher gewesen sein, denn oben war sie abgebrochen.

Sie holte Ǫni ein. »Ist das ein Wegweiser?«

Ǫni warf einen Blick zu dem Sockel. »Gewissermaßen. Dies ist der alte Weg nach Ginnungad. Er wird nicht mehr benutzt. Aber hier stand eine Statue. Der Bootsmann. Die Leute pflegten Münzen in sein Boot zu legen, wenn sie daran vorbeikamen.«

»Für Glück und so was?«

»Na ja … Wohl eher, um Unglück abzuwenden.«

»Was ist mit ihm passiert?«

»Er war aus Gabenglas gemacht«, antwortete Ǫni. »Bevor die Gabe verschwand. So etwas ist heute viel wert, deshalb wurde er gestohlen. Aber wir haben Zeichnungen von ihm, falls du sie sehen möchtest.«

Hirka blickte zurück zu dem Steinstumpf. »Was ist Gabenglas?«

Die angestrengten Grübchen erschienen wieder in Ǫnis Wangen. Das taten sie immer, wenn Ǫni entdeckte, wie wenig Hirka wusste. Immer, wenn ein neues Thema auftauchte, das ausführlichere Erklärungen erforderte.

»Gabenglas ist Stein, geformt mit der Gabe. Mit den Händen. Die besten Künstler konnten die Natur in ihrem Erscheinungsbild formen. Konnten eins werden mit der Gabe und Gestein ziehen. Feuer und Wasser auch, behaupten manche, aber ich weiß nicht … Hast du nie Steingeflecht gesehen?«

Hirka schüttelte den Kopf. Sie wollte Ǫni nicht unterbrechen. Das hier war wichtig. Das hier waren Dinge, über die sie unbedingt alles erfahren wollte. Die Namen der Häuser und auf wen sie nicht mit dem Finger zeigen durfte, das war ihr herzlich egal. Aber die Gabe und wie sie die Welt formen konnte …

Wie den Baum des Sehers. Naiells Vernichtung.

»Oh, du wirst sprachlos sein, Hirka! Die ältesten Orte in Ginnungad haben ganze Wände aus der Zeit vor dem Krieg. Stein, der zu Mustern gewebt ist, die du nie für möglich gehalten hättest. Fast alles in Hods Haus ist Gabenwerk. Und die alten Türme waren so gebaut. Aber die meisten sind jetzt zerstört. Der Berg war so gedehnt, dass nichts da war, um ihn aufrecht zu halten, als die Gabe verschwand. Die Stadt brach zusammen. Das war viele Hundert Jahre vor meiner Zeit.«

»Und du bist geboren, nachdem die Gabe weg war? Das heißt also, du hast sie nie kennengelernt? Du hast nie etwas geformt?«

Ǫni senkte den Blick auf den Weg, während sie gingen. »Man muss nicht immer etwas gekannt haben, um zu wissen, dass man es vermisst.«

Hirka hatte das Gefühl, zu persönlich geworden zu sein. Einen wunden Punkt berührt zu haben. Sie versuchte, die gedrückte Stimmung aufzulockern.

»Und wie ging das vor sich? Man zeigte einfach auf etwas und dann … schwups, ein Turm?«

Ǫni lachte. »Wann war jemals etwas so einfach?« Sie faltete die Hände vor der Brust und zog sie langsam auseinander. »Man formte Dinge. Wie aus Lehm, verstehst du? Es gibt tüchtige Gabenschleuderer, die man fragen kann, ich weiß nur, was ich gelesen habe. Aber sie haben die schönsten Dinge erschaffen!«

»Sofern sie nicht gestorben sind«, kam es von Kolail. Hirka drehte sich um. Er hatte sich ihnen angeschlossen, ohne dass sie es gemerkt hatte.

»Sie sind gestorben?!«

Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen, das verstehe sich doch von selbst.

»Zuhauf. Oder sie haben sich verletzt. Haben sich verbrannt, wenn sie zu nahe gekommen sind. Haben sich geschnitten, wenn sie die Kanten nicht unter Kontrolle hatten. Einige haben es geschafft, sich aufzuspießen. Die Gabe hält interessante Arten zu sterben bereit.«

Ǫni warf Kolail einen schrägen Blick zu. »Er übertreibt. Die allermeisten …«

»Erzähl ihr von Felke«, unterbrach er sie.

Hirka sah Ǫni an. »Felke?«

Ǫni seufzte. »Das ist mindestens zwölfhundert Jahre her. Felke war einer der Besten. Er hat in Nifel an einer Brücke gearbeitet, die sich zwischen zwei Häusern spannte. Der Stein wurde zu heiß und die Luft war zu kalt, da ist ihm die Brücke unter den Füßen zersprungen. Ist alles auf die Häuser gefallen.«

Kolail tauchte an Hirkas Seite auf. »Sie haben ihn auf einem Dach gefunden«, sagte er. »Mit dem Körper voller Glas. Er war halb Stein, halb Mann. Karnickel sterben, sagte ich das nicht?« Er zog an ihnen vorbei.

Hirka starrte auf seinen Rücken. Auf die Schultern mit dem Schaffell, die so breit waren, dass sie schon auf einer allein hätte sitzen können. Ihr war schlecht. Sie dachte an den Baum des Sehers. Glasartiger Stein, bizarr verästelt wie Tinte in Wasser. Allein der Anblick hatte genügt, um Hlosnian um den Verstand zu bringen. Es war ihm nie gelungen, etwas Ähnliches zu erschaffen. Was vielleicht auch kein Wunder war, denn den Baum hatten Kräfte geformt, die Hlosnian nie meistern konnte. Aber die Blinden hatten es gekonnt.

Hirka hatte einmal ein Stück entfernt von Ravnhov in einem Wasserfall gestanden, zusammen mit einem Blinden. Sie hatte gesehen, wie er den Fluss zu Staub werden ließ. Etwas, das nur in der Macht von Göttern liegen sollte. Eine jähe Angst schoss ihr durch die Brust.

Götter … Dreysíl war von Göttern bevölkert. Was, wenn das Fehlen der Gabe das Einzige war, was sie im Zaum hielt? Wozu würden sie in der Lage sein, wenn sie die Gabe zurückbekamen? War das wirklich etwas, wobei sie ihnen helfen wollte?

Ǫni legte ihr eine Hand auf den Arm. Hirka zuckte zusammen.

»Warte hier«, sagte Ǫni und ging zu Skerri und Grid, die ein Stück vor ihnen stehen geblieben waren.

Hirka ging zu Kolail. »Was haben sie zu besprechen? Wo liegt das Problem?« Die Angst machte ihr zu schaffen. Sie hatte sich vor dem hier gegraust, seit sie angekommen war, und das Warten war das Schlimmste. Konnten sie es nicht endlich hinter sich bringen und zusehen, dass sie die Stadt erreichten?

»Sie diskutieren, welchen Weg sie nehmen und wie sie dich ungesehen durch die Stadt bringen sollen.« Kolails Stimme erinnerte an die von Naiell. Rau wie bei einem Raben und tief aus der Brust.

»Können wir das nicht alle zusammen diskutieren?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Merkte, dass es nicht mehr so kalt war.

»Sie sind Dreyri. Sie diskutieren nicht mit anderen.«

Er hatte recht. Bisher hatte sie noch nicht erlebt, dass Skerri jemanden in eine Entscheidung einbezog oder um Rat fragte. Allenfalls besprach sie sich mit Grid, der offenbar würdig genug war. Aber auch ihn behandelte sie wie einen Welpen.

Kolail sprach leise, wohl wissend, dass sie überhaupt nicht miteinander reden sollten. »Zuerst einmal müssen sie dich nach Hause bringen. Dann müssen sie was Anständiges aus dir machen. Eine Dreyri. Gelingt ihnen das, werden sie dich Hods Haus vorstellen, nehme ich an. Bis dahin bist du ein Geheimnis. Niemand darf dich sehen oder riechen. Du wirst offiziell vorgestellt werden. Mit viel Spektakel, könnte ich mir denken.«

Er hörte sich an, als ob er es hasste, sich aber trotzdem darüber amüsierte.

»Dann schleichen wir uns eben hinein! Verstecken uns.«

»Sie sind Dreyri. Sie …«

»Verstecken sich vor niemandem, jaja, ich verstehe langsam, wie das läuft.«

Kolail lachte wiehernd. »Also, vielleicht überlebst du länger als ich.«

Hirka stocherte mit dem Stock im Schnee. Sie wusste genau, wovon er sprach. Seiner Strafe. Die sie sich auf Skerris Anweisung hin ausdenken sollte.

Kolail spuckte in den Schnee. »Sie wird nichts anderes akzeptieren, als dass ich Rabenfutter werde. Und du wirst dich fügen müssen.«

Hirka sah ihn an. Bekam Lust, ihm mit der Faust auf den Stahltropfen in der Stirn zu schlagen, sodass er es richtig merkte.

»Sieht es so aus, als hätte ich ein Talent dafür, mich zu fügen?«

Kolail antwortete nicht.

Ǫni kam zurück. Der Saum ihrer Tunika war nass vom Schnee.

»Sie werden dich von der Südseite hineinbringen.« Sie klang beinahe entschuldigend.

Kolail meckerte. »Von Süden? Wirklich? Da haben sie sich ja was ausgedacht. Ich glaube, keiner von ihnen hat jemals seinen Fuß dorthin gesetzt.«

Ǫni schürzte die Lippen und tat, als hätte sie ihn nicht gehört. »Skerri will vermeiden, dass wir auf Dreyri treffen, vor allem aus höheren Häusern. Deshalb müssen wir andere Wege gehen. Komm.«

Sie bogen um einen Felsvorsprung und vor ihnen öffnete sich die Landschaft in alle Richtungen. Ein Gletscher erstreckte sich bis zum Horizont, so weit, dass sie kein Ende sah. Er wurde eins mit dem Himmel. Weiß gegen Grau.

An mehreren Stellen hatten sich Gletscherspalten gebildet, was hoffentlich bedeutete, dass sie ihn nicht überqueren mussten.

»Ginnungad«, sagte Ǫni und nickte zu dem Gletscher.

Hirka schirmte die Augen mit der Hand ab, sah aber keine Stadt. Nichts, was auch nur entfernt an Behausungen erinnerte.

»Wo?«

»Das wirst du bald sehen«, erwiderte Ǫni.

Sie gingen über den nackten Bergkamm weiter. Gelbes Heidekraut schaute aus dem Schnee. Hirka wurde mehr und mehr klar, dass die Gletscherspalten viel größer waren, als sie zuerst gedacht hatte. Es war ein ganzes Netz aus Spalten. Sie zogen sich wie Adern durchs Eis. An mehreren Stellen stieg Rauch empor, und plötzlich ging Hirka auf, was sie sah.

Sie blieb stehen, gelähmt von dem Ausmaß. Gegen diese Gletscherspalten war die Alldjup-Schlucht ein Kratzer in der Erde. Das hier waren Abgründe. Sie schnitten tief ins Eis und durch den schwarzen Fels darunter. Hirka konnte Öffnungen in den senkrechten Wänden erahnen. Siedlungen. Rauch. Lichter. Treppen.

»Im Eis … Die Stadt liegt im Eis …«

»Nicht ganz«, antwortete Ǫni, anscheinend unbeeindruckt. »Das ist Grundgestein mit einer dicken Eisschicht darüber. Viele Straßen und Häuser liegen im Berg, deshalb siehst du sie von hier oben nicht, aber schau …« Sie zeigte in die Ferne. »Dort, wo das Eis blauer ist, da ist nur Eis. Du kannst es von hier aus nicht sehen, aber die Stadt erstreckt sich bis zum Meer.«

Ǫni zog sie mit sich weiter. Hirka wäre fast gestolpert, es war schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Ganz hinten am Horizont sah sie eine dunkle Vertiefung im Eis. Eine Kante? Ein gefrorener Wasserfall?

Es dämmerte und Hirka fiel sofort wieder ein, wie schnell hier die Nacht kam. Bald würde man die Hand nicht mehr vor Augen sehen können.

Skerri blieb stehen. Die anderen taten es ihr nach, wie ein Echo. So war es immer. Ǫni setzte ihren Rucksack ab und suchte eine graue Tunika heraus, die sie Hirka gab. »Hier, zieh das an.«

Hirka gehorchte. Mehr Kleidungsstücke anzuziehen, das musste man ihr nicht zweimal sagen. Skerri kam zu ihnen und setzte Hirka die Kapuze auf.

»Lass sie auf, bis wir zu Hause sind. Achte darauf, dass niemand dein Gesicht sieht. Oder deine Hände. Und ab sofort sagst du kein Wort mehr, verstanden?«

Hirka nickte.

Die Kapuze hing ihr tief ins Gesicht. Das Einzige, was sie sehen konnte, war der Boden direkt vor ihr. Skerri führte die kleine Gruppe in eine Talsenke, wo zwei Wege aufeinandertrafen. Noch bevor sie unten angekommen waren, war es dunkel.

Sie gingen den Weg weiter, jetzt enger beisammen als zuvor.

Eine Felswand ragte ein Stück vor ihnen im Tal auf, schwarz und massiv vor dem Nachthimmel. Hirka legte den Kopf in den Nacken. Die Wand war so hoch, dass sie zu schwanken schien.

Der Weg mündete in einen Tunnel, eine eiförmige Öffnung im Fels. Hirka kam sich vor wie ein Insekt, als sie hineingingen. Verschluckt von einem riesigen, schwarzen Nichts. Die Wände waren glatt wie schwarzes Glas. Wenn etwas mit der Gabe geschaffen worden war, dann musste es dies sein. Kein lebendiges Wesen konnte so etwas meißeln.

Dann kamen die Geräusche. Echos von etwas, das sich auf der anderen Seite befand. Wieder tauchte eine Öffnung auf. Ein eiförmiger Mund am Ende des Tunnels. Es war, als ginge man durch einen Schlangenhals und würde ausgespuckt. Hinaus auf eine Straße.

Hirka konnte gerade noch einen überraschten Ausruf unterdrücken. Die Straße befand sich auf dem Grund einer Schlucht. Schwarze Felswände ragten zu beiden Seiten auf, so hoch, dass Hirka unter ihrer Kapuze das obere Ende nicht sehen konnte. Häuser waren direkt aus dem Felsgestein gehauen worden. Türen, Fenster, Balkons ohne Geländer, Treppen … Wege und kleine Passagen wanden sich in verschiedenen Höhen, verschwanden im Berg und kamen anderswo wieder heraus. Und das Aufsehenerregendste von allem: eine Unzahl von Brücken.

Davon gab es so viele, dass es aussah, als hätte jemand versucht, die Felswände zusammenzukleben. Hätte sie mit Teer bestrichen und wieder auseinandergerissen, sodass zahllose zähe, leimartige Fäden zwischen ihnen erstarrt waren. Dicke und dünne. Hoch oben und tief unten.

Ihr war selbst nicht klar, was sie erwartet hatte. Eine Art tief verschneites Ravnhov vielleicht? Das hier jedenfalls nicht.

Und Leute waren hier! Blinde. Totgeborene. Leute, die lachten. Redeten. Riefen. Sie saßen an Tischen und tranken. Zogen Karren, darauf Käfige mit kleinen Vögeln und Fässer voller Fisch, Kleiderbündel und Werkzeug. Wenigstens gab es einige hier, die Werkzeug benutzten.

Alltägliches Treiben, so vertraut, dass dies hier auch Mannfalla hätte sein können. Wohlbekannte Geschäftigkeit in fremder Umgebung.

Kolail und Ǫni gingen dicht neben ihr, damit sie mit niemandem in Berührung kam. Es duftete nach Essen. Essbarem Essen! Dann gab es also noch andere Speisen als die ekligen Kekse. Der Hunger drohte ihre Müdigkeit zu übertrumpfen.

Jemand spielte an einem Fenster weiter oben im Fels. Tiefe Flötentöne. Direkt daneben das Geräusch einer Winsch. Seile bewegten Körbe von einer Straßenseite zur anderen.

Hirka dachte an all das, was sie gesehen hatte, seit sie das erste Mal durch die Tore gegangen war. York. London. Venedig. Sie dachte an die Türen, die sich von selbst öffneten. An Stefans Pistole. An das Museum, wo sie den Fußboden zerstört hatten. Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Trotzdem war nichts so fremd gewesen wie das hier. Vielleicht, weil alle Gesichter, die sie sah, weiße Augen hatten? Vielleicht waren es die Klauen? Oder war es die Gewissheit, dass alle, die sie sah, Tausende von Jahren leben würden?

Sie fühlte sich vollkommen matt. Unendlich müde. Sie konnte von dem, was sie sah, nichts mehr aufnehmen. Es wurde zu viel. Tagelang durch froststarre Einöde und jetzt das? Sie gingen an Marktständen vorbei, an denen Tee verkauft wurde, wie sie glaubte, aber wie sich herausstellte, war es Tabak. Vorbei an zweifelhaften Höhlen, in denen bärtige Blinde saßen und tranken. Sie sah, wie Kolail einem Mann zunickte, der vor einer Schankstube stand und einen Wolf an der Leine hatte. Hinter ihm bemerkte sie eine rote Tür unter einem morschen Überbau.

An mehreren Stellen öffneten sich neue Spalten und neue Straßen in der Felswand. Es wurde plötzlich wärmer. Kolail riss sie zurück, gerade noch rechtzeitig, um nicht von dem Dampfstrahl getroffen zu werden, der aus einem Spalt zwischen zwei Ständen schoss.

»Pass auf, wo du langgehst.«

Hirka hatte nicht die Kraft für eine Antwort. Wie sollte sie da die Kraft haben, der Familie gegenüberzutreten? Bei dem Gedanken wurde ihr wieder eiskalt. Sie war hier. In derselben Stadt wie Graals Eltern. Ihre Großeltern. Familie. Ihre Knie wurden weich. Kolail packte ihren Arm und stützte sie. Sie gingen in eine Straße, die aufgeräumter wirkte. Hier waren die Leute leichter bekleidet.

Dreyri. Die obersten Häuser.

Die Straße öffnete sich am Ende. Zu einem Krater. Nein, Krater war nicht das richtige Wort. Es gab kein Wort dafür. Das hier war das Ende der Welt. Ein Schlund ins Innere der Erde. Die Straße kam tief unten in der Kraterwand heraus, aber dennoch konnte Hirka den Grund nicht sehen. Es war zu dunkel. Die Straßen waren auch hier aus dem Fels gehauen worden. Straßen und Häuser, rundherum. Tausende von Lichtern ließen das riesige Loch wie einen Sternenhimmel wirken. Das hier war die Mitte der Stadt. Der Ursprung aller Spalten. Aller Straßen.

Hirka hatte sich in großen Höhen immer wohlgefühlt, aber jetzt wurde ihr schwindlig. Sie fühlte sich leer. Erschöpft. »Warum?«, murmelte sie. »Was ist das hier?«

»Wahnsinn«, erwiderte Kolail.

Sie musste zusammengesunken sein, denn er fing sie auf und trug sie auf seinen Armen weiter. Skerri hinderte ihn nicht daran. Vielleicht, weil die breite Brust eines Gefallenen das beste aller Verstecke war? Hirka entglitten die Gedanken und ihr Bewusstsein erlosch.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)

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