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Balanceakt

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Garm Darkdaggar blickte auf den Weg hinunter, der zum Haus führte. Er schlängelte sich im Licht von fast hundert Fackeln, die gegen den Wind kämpften. Die Wagen näherten sich in stabilem Rhythmus. Hufeisen klapperten auf Steinplatten. Türen wurden geöffnet und Gäste stiegen aus. Ratsleute. Adelige, Kaufleute, Bürokraten. Freunde. Und der eine oder andere Feind, wenn man realistisch sein wollte, und das war er in höchstem Maße.

Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wen er kommen sah. Mochte es laufen, wie es wollte. Am wichtigsten war, wer nicht kam.

Im Stockwerk unter ihm nahmen Gelächter und Stimmengewirr zu. Er leerte das Weinglas und stellte es auf dem Schreibtisch ab. Strich mit den Händen über das glänzende Holz. Der Tisch hatte an dem Tag, als Rime in den Raum gestürzt kam, seinen Charakter geändert. Er war immer so etwas wie ein Anker gewesen, eine Sicherheit. Jetzt war er nur noch ein Hohn. Ein Möbelstück, an das er sich geklammert hatte. Entsetzt wie ein Schwein, das geschlachtet werden sollte.

Er hatte geglaubt, er sei zu alt für so etwas. Zu … praktisch veranlagt. Er war ein Mann der Lösungen. Nicht der geballten Fäuste. Nicht der Furcht. Das hatte er hinter sich gelassen. Aber es war etwas ganz Eigenes, vor einem Schwarzrock zu stehen. Einem jungen, wutentbrannten Mann. Stahl auf der Haut zu spüren.

Das war so weit weg von allem anderen, was er erlebt hatte. So ungehemmt. Wildheit und Wahnsinn. Und die ganze Zeit kam dieser Gedanke hoch, dass man sich so doch nun wirklich nicht benehmen konnte.

Aber das hatte er getan, Rime An-Elderin.

Darkdaggar hob den Blick. Das Licht der Fackeln schimmerte auf den Rahmen an der Wand. Die Karten. Länder, Städte und Gebiete. Von Ländereien verstand er etwas. Es gab nichts Schöneres als Landkarten. Sie zeigten die Welt genau so, wie sie war. Wie sie immer gewesen war. Alles an seinem Platz. Länder, geschaffen von Gesetzen. Wenn es etwas gab, worin er sich auskannte, dann waren es Gesetze. Was also sollte man machen, wenn junge Männer so taten, als gäbe es sie nicht? Wenn sie sich in jugendlichem Übermut selbst Recht verschafften? Was sollte man tun, wenn sie kamen? Wenn das, was es schon immer gegeben hatte, nicht gut genug für sie war?

Darkdaggar hatte getan, was er musste. Er hatte das Duell akzeptiert. Und er hatte es in der Gewissheit getan, dass er sterben würde. Rime An-Elderin hatte viele Fehler, aber kämpfen konnte er. Dass Schwarzfeuer sich entschieden hatte, an seiner Stelle zu kämpfen, bedeutete nichts weniger, als ihm das Leben zu schenken. Eine Rettungsleine. Aber nicht einmal Schwarzfeuer hatte es geschafft, den Jungen zu besiegen, den er selbst ausgebildet hatte. Wäre Rime danach nicht spurlos verschwunden, würde er heute nicht hier stehen.

Er war so kurz davor gewesen, alles zu verlieren. Den Sitz im Rat. Das Zuhause. Die Familie. Die Freiheit. So zerbrechlich war die Wirklichkeit, dass ein Atemzug genügte, um sie einstürzen zu lassen. Wer hätte das gedacht …?

Er ging zu einer der Karten von Mannfalla und versuchte, sie gerade zu rücken. Es nützte nichts. Der Rahmen war das Problem, er war ein wenig schief. Er musste einen neuen anfertigen lassen. Besser, er brachte in Ordnung, was er in Ordnung bringen konnte. Weiß der Seher, es gab genug Dinge, die nicht in seiner Macht standen.

Er hatte es geschafft, den Stuhl im Rat zu behalten, aber es waren äußerst unruhige Zeiten. Nichts war sicher. Nichts hatte seinen Platz gefunden. Gab es etwas Schlimmeres?

Er brauchte diesen Abend. Er hatte Freunde zu gewinnen. Musste seine eigene Position festigen und die Vorstellung von Rimes Wahnsinn. Ob ihm das gelingen würde oder nicht, blieb abzuwarten.

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet.

»Garm?« Elisa steckte den Kopf herein. Sie kam auf ihn zu, wohl wissend, wie gut sie aussah. Ihr Kleid schimmerte blau, betonte das Blau ihrer Augen. Was täte er nur ohne sie? Ein Fels von einer Frau. Er hatte eine gute Wahl getroffen.

Sie strich ihm mit der Hand über das schüttere Haar. »Tyrme und Freid sind gekommen.«

Er legte den Arm um ihre Taille und ging mit ihr hinunter zu den Gästen. Sobald sie die Treppe hinabschritten, richteten sich alle Blicke auf ihn. Erhobene Gläser klirrten und Seide raschelte. Er hatte Freunde. Er hatte Elisa. Er hatte Töchter. Ergebene Diener. Spielte er seine Karten richtig aus, würde er alles noch haben, wenn der Abend vorbei war.

Darkdaggar ging zum Ende des Raums und betrat eine Bühne, auf der später die Tänzer auftreten würden. Der wichtigste Augenblick seines Lebens war gekommen. Er war hier. Jetzt.

»Freunde!« Die Kraft in seiner Stimme erfüllte ihn mit Freude. Das Stimmengewirr erstarb.

»Freunde, ich muss ein paar Worte sagen, auch wenn ich heute Abend eigentlich gar keine habe. Ich bin sprachlos. Ich bin tief, ja zutiefst dankbar für die Unterstützung, die ihr mir in dieser schwierigen Zeit habt zuteilwerden lassen.«

Jäh aufbrandender Applaus unterbrach ihn. Er ließ ihn ausklingen, bevor er fortfuhr. »Ich will ehrlich sein, ich war nahe daran, alles zu verlieren. An ungezügelten Jugendzorn. An Irrsinn. An Rime An-Elderin. Dass ich in Lebensgefahr schwebte durch einen Freund der Familie … Ilumes Enkelsohn …«

Beipflichtendes Gemurmel aus mehreren Richtungen. Er setzte eine kummervolle Miene auf. »Dass Ravnhov versucht hat, ihn zu töten, überrascht mich nicht. Dass sie es jetzt vielleicht geschafft haben, ist auch keine Überraschung, wie sehr es uns auch schmerzt. Ich werde vermutlich nie erfahren, warum er sich entschied zu glauben, ich sei daran beteiligt. Ja, ich hatte ihn in den Ratssitzungen herausgefordert, so wie es ja von uns erwartet wird. Dass wir einander herausfordern. Aber ich habe nie versucht, ihm das Leben zu nehmen.«

Er legte eine Pause ein. Ließ die Worte einwirken. »Ich habe niemals versucht, Rime An-Elderin zu töten. Das habe ich zu meiner lieben Elisa gesagt. Wisst ihr, was sie darauf erwiderte? Sie sagte ›Das weiß ich‹. Ich fragte, woher sie diese Zuversicht nehme. Woher sie das wisse.« Er sah Elisa an. »Was hast du darauf geantwortet, Liebste?«

Elisa schüttelte verlegen den Kopf, so wie sie es vorher besprochen hatten. Sie erhielt ermunternde Zurufe und gab nach. Antwortete leise aus der ersten Reihe: »Ich habe gesagt: Weil es dir gelungen wäre.«

Darkdaggar wiederholte ihre Antwort mit lauter Stimme. »Weil es dir gelungen wäre!«

Gelächter explodierte im Raum. Applaus brandete auf. Das Geräusch von Vertrauen. Das Geräusch von Erfolg.

Er lächelte. »Sie kennt mich gut. Ja, es wäre mir gelungen, wenn ich versucht hätte, ihn zu töten.«

Er wählte einen ernsteren Gesichtsausdruck. Ließ das Gelächter verebben. »Freunde, wir können nicht anders, als darüber zu lachen. Aber wir wissen alle, dass wir uns mitten in einer Tragödie befinden. Rime An-Elderin ist verschwunden. Viel Einsatz wurde geleistet, um ihn zu finden. Um die Antworten zu finden. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass er nicht mehr lebt. Der Bruder seines Vaters ist mit seiner Familie ausgezogen. Ilumes Haus steht leer. ›Der schlafende Drache‹ ist tot. Und das ist besonders tragisch für uns, die wir mit Rime zusammen im Rat gedient haben und ihn am Ende sahen. Die sahen, wie er tiefer und tiefer im Wahnsinn versank. Ein Verfolgungswahn. Blinde. Totgeborene. Andere Welten …«

Darkdaggar legte die Finger auf das Ratsmal an seiner Stirn. Schloss die Augen für einen Moment, als quälte ihn das alles. Das war nicht schwer. Die Tragödie war keine Lüge.

Er richtete sich wieder auf. »Aber wir können unsere Bitterkeit nicht auf einen Verrückten richten. Einen Toten. Wir können nur unser Äußerstes tun, um die Fehler wiedergutzumachen. Und heute habe ich einen Jahresunterhalt an Mannfallas bestes Pflegeheim zum Wohle der Geisteskranken gespendet.«

Ein anerkennendes Seufzen lief durch die Reihen der Gäste.

Ein schlaksiger Mann reckte den Hals drüben an der Tür. Es war Kunte. Er bewegte sich unruhig. Was auch immer er zu sagen hatte, es war offenbar eilig.

Darkdaggar nahm ein Glas von Elisa entgegen und hob es hoch.

»Auf Familie und Freunde!«

»Familie und Freunde!«, wiederholten sie alle und klatschten Beifall, während er von der Bühne stieg. Eine Harfe begann im Nebenraum zu spielen. Die Leute bewegten sich dorthin. Darkdaggar entschuldigte sich und ging zu Kunte.

»Hat das nicht Zeit?«

Kunte schüttelte den Kopf. Darkdaggar führte ihn die Treppe hinauf ins Arbeitszimmer. Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Kunte losplatzte. »Er lebt! Ich habe ihn gesehen!«

Er brauchte den Namen nicht zu sagen.

Darkdaggar starrte auf den Schreibtisch. Die Ecke eines Blattes zuoberst auf dem Stapel hatte sich aufgerollt. Er strich das Papier mit dem Daumen glatt, aber es rollte sich wieder zusammen. Er seufzte. Kunte konnte sich getäuscht haben.

»Wo?«

»Beim Teehändler in der Daukattgata. In der Gasse am Fluss.«

»Bist du dir sicher?«

Kunte antwortete nicht. Darkdaggar wischte seine eigene Frage mit der Hand weg. »Natürlich bist du dir sicher. Was wissen wir sonst noch?«

»Er war vermutlich auch bei Jarladin, aber da können wir nicht sicher sein. Eine Bewegung auf einem Dach. Das Licht könnte uns einen Streich gespielt haben.«

Darkdaggar strich die Ecke des Papiers noch einmal glatt. Und wieder rollte es zurück.

»So … Er ist zurück, gibt sich aber nicht zu erkennen. Wir müssen annehmen, dass er es auch nicht tun wird. Nicht, ohne dass es … dramatisch wird. Aber das ist ein Problem. Ein echtes Problem.«

»Willst du, dass ich … etwas unternehme?«

Darkdaggar sah ihn an. »Was meinst du?«

Kunte fuhr sich mit der Hand durch das lange und etwas zu fettige Haar.

»Willst du, dass ich mich darum kümmere? Um das Problem.«

Darkdaggar machte ein Gesicht, als wäre er schockiert. »Nein, um des Sehers willen, Kunte! Wir sind doch keine Wilden. Wäre ich ein Mörder, wäre ich längst nach Ravnhov gezogen.«

Kuntes Schultern sanken ein ganzes Stück herab und er lächelte dümmlich. Darkdaggar verbiss sich ein Lachen. Kunte gegen einen Schwarzrock? Ein solcher Kampf wäre schnell vorbei. Das war einer der Gründe, warum er Kunte in Ravnhov nicht eingesetzt hatte. Vielleicht hätte er das tun sollen? Stattdessen hatte er einen Taugenichts von Mittelsmann benutzt, der auch noch ausgeplaudert hatte, wer dahintersteckte. Gegenüber dem Mann, der den Mord ausführen sollte! Gab es eigentlich keine Grenzen für Unfähigkeit mehr?

Darkdaggar legte den Arm um Kuntes Schulter. Vermied es, sein Haar zu berühren.

»Jedenfalls vielen Dank, Kunte. Du bist ein guter Freund. Ein loyaler Freund. Das weiß ich sehr zu schätzen. Ich möchte dich nur darum bitten, dass die Sache unter uns bleibt.«

»Selbstverständlich. Wir werden die Augen offen halten. Herausfinden, wo er hinwill.«

»Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wohin er will.«

Darkdaggar öffnete die Tür.

»Eine Sache noch, Garm-Fadri … Ich glaube, etwas stimmt nicht mit ihm.«

»Das hätte ich dir schon vor langer Zeit sagen können, aber woran denkst du genau?«

Kunte zögerte. »Er hat keinen … ja, keinen Schwanz. Nicht mehr.«

Darkdaggar runzelte die Stirn. »Keinen Schwanz?«

»Keinen! Es muss etwas vorgefallen sein. Vielleicht hat er ihn im Kampf verloren?«

Die Erkenntnis kam, schön wie ein Punkt auf einer Karte. Darkdaggar lächelte.

Er hat ihn abgeschlagen. Er ist ihr gefolgt.

»Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte er und schob Kunte aus dem Zimmer, damit er in Ruhe nachdenken konnte. Rime An-Elderin.

Wo bist du gewesen, Rime?

Und Jarladin … Er wusste also, dass Rime zurück war. Und er hielt es vor dem Rat geheim. Was bedeutete, dass er keinem von ihnen vertraute. Oder hatte er sich mit einigen der anderen verbündet? Eir?

Darkdaggar fuhr sich mit der Hand über die Lippe. Er hasste es, zur Tat gedrängt zu werden. Er war ein besonnener Mann. Geduldig. Ordentlich. Fehler wurden begangen, wenn man es eilig hatte. Aber jetzt musste er handeln. Schneller, als ihm lieb war.

Er nahm das widerspenstige Blatt vom Stapel und knüllte es zu einer Kugel zusammen. Er durfte sich das nicht zu Herzen nehmen. Das waren gute Nachrichten. Jetzt wusste er wenigstens, woran er war, und konnte entsprechend planen. Rime An-Elderin stand der Tod gut zu Gesicht. Ein entehrter Ratssohn. Dabei musste es bleiben.

Darkdaggar steckte die Papierkugel in die Tasche und ging wieder hinunter zu seinen Gästen. Die waren inzwischen auf andere Gedanken gekommen. Die Unterhaltung des Abends war die beste, die man für Geld kaufen konnte. Eine Tänzerin. Darkdaggar hatte um etwas Geschmackvolles gebeten, aber das hier war alles andere als das. Sie war leicht bekleidet. Der Tanz vulgär. Er balancierte auf schmalem Grat zwischen kunstvoll und unanständig. Zwischen etwas, das Respekt verdiente, und etwas, das niemand vor einem Publikum sollte tun müssen.

Sie hatte zwei andere Tänzer dabei. Ein Mädchen und einen Jungen, beide noch nicht alt genug für das Ritual, aber sie schienen in ihrem jungen Leben noch nie etwas anderes getan zu haben als zu tanzen.

Applaus erfüllte den Raum, als sie ihre Darbietung beendeten, und hielt an, bis die Tänzer das Haus verlassen hatten.

Als der Abend vorbei war und auch die Gäste gegangen waren, fand Darkdaggar einen orangefarbenen Schal auf einem Hocker unter der Treppe. Er war aus schimmerndem, durchsichtigem Stoff. Und dazu eine kleine Karte mit nur einem Wort:

Damayanti.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)

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