Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 11

Schädling

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Der Apfel war frisch und grün. Kein bisschen schrumpelig oder schimmelig, nicht das kleinste Anzeichen von Fäulnis. Nach wie vielen Wochen? Nach vielen …

Hirka drückte mit dem Finger auf die Schale, aber sie gab nicht nach. Draußen auf dem Friedhof spreizten die Bäume ihre kahlen Äste, aber dennoch hatte sie einen Apfel, der aussah, als hätte man ihn gestern erst gepflückt.

Sie legte ihn auf das Fensterbrett. Die anderen konnten machen, was sie für richtig hielten, aber sie würde nicht in etwas beißen, das sich weigerte zu sterben. Sie war doch nicht dumm. In den Märchen war so etwas immer vergiftet.

Kuro scharrte mit den Krallen in der Schublade. Er schlief. Das war alles, was er in letzter Zeit tat. Er aß auch kaum noch. Genauso wenig wie sie. Sie kniete sich auf die Matratze und tickte leicht seinen Schnabel an. »Du kannst hier nicht nur rumliegen«, sagte sie, ohne dass sie sich ganz sicher war, ob sie damit sich oder den Raben meinte. Immerhin war sie schon seit Tagen nicht mehr draußen vor der Kirche gewesen. Die Erinnerung an den Mann mit der Kapuze war immer noch viel zu frisch. An seine Hand, die nach Tabak geschmeckt hatte. An die Kraft in seinen Armen, an die Stimme.

Ja, sie hatte es unbeschadet überstanden und sie hatte schon Schlimmeres überlebt, viel Schlimmeres. Aber das half nichts. Sie war nicht sie selbst in dieser sinnlosen Welt. Sie fühlte sich so allein, so wehrlos.

Schwarzfeuer hätte sich kaputtgelacht, wenn er sie in der dunklen Gasse gesehen hätte. »Das soll ein Tritt sein?«, hätte er gefragt. Sie lächelte in sich hinein. Wenn sie den Mann mit dem Kapuzenpulli das nächste Mal sah, würde sie ihm mit dem Ellenbogen die Nase brechen.

»Ich weiß, hier ist alles anders, aber wir müssen das Beste draus machen, stimmts?« Kuro rührte sich nicht. »Wir haben ein Dach über dem Kopf, Essen, Arbeit, für die wir Geld kriegen. Begreifst du, was das bedeutet? Wir verhungern nicht.« Sie stellte die Stiefel vor ihm auf den Boden. »Guck dir die mal an. Und die Farbe erst!« Kuro hob nicht ein Augenlid. Sie stand auf und zog die Stiefel an. »Das verzeihe ich dir nie, wenn du krank wirst. Nur damit du’s weißt, du Flattermann.«

Die Worte wurden in ihrem Mund zu Mus. Es brachte nichts, wenn sie ihre Angst noch länger für sich behielt. Sie musste Pater Brody um Hilfe bitten. Er war nett. Und er musste doch jemanden wissen, der sich mit Raben auskannte.

Hirka stieg die Turmtreppe hinab. Das Gemäuer war an vielen Stellen verwittert und mit Holzbalken ausgebessert worden. Das gefiel ihr. Holz auf Stein. Die Bauweise der Kirchen. Das war eins der wenigen Dinge, die sich hier echt anfühlten. Wie die Erinnerung an zu Hause.

Das hier ist jetzt zu Hause.

Als sie unten angekommen war, hörte sie Schritte aus der Kirche und drückte sich unwillkürlich an die Wand. Diese Angewohnheit abzulegen, würde ihr nie gelingen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, öffnete dann die Tür und kam hinter dem Altar heraus. Pater Brody lächelte ihr zu. Wenn er lächelte, sah er immer aus, als müsse er dringend pinkeln. Er hatte rote Flecken im Gesicht, trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Keinen Kittel.

»Mit Kuro stimmt was nicht«, sagte Hirka.

»Kuro?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Ach, der Vogel.«

»Er ist krank und ich habe nichts, womit ich ihm helfen kann.«

»Ich verstehe. Ich verstehe.«

Hirka wusste, dass er überhaupt nichts verstand, aber immer sagte, dass er es tue.

»Hast du?«, fragte sie.

»Habe ich was?«

»Etwas, das ihm helfen kann?« Hirka versuchte, ihre Angst nicht durchscheinen zu lassen, aber sie schien nur noch größer zu werden, wenn sie darüber sprach.

»Nein. Nein, ich glaube nicht. Was fehlt ihm denn?«

»Er rührt sich nicht, isst nicht. Wir müssen was tun.«

Pater Brody nickte. Er hatte blaue Augen. Die sahen jünger aus als der Rest von ihm. »Ich kann jemanden fragen. Einen Veterinär. Das ist ein Arzt für Tiere. Wir können anrufen, nachdem … Ich wollte dich gerade holen. Es kommt gleich jemand, der mit dir sprechen will.«

Er sagte das, als sei es die alltäglichste Sache der Welt, doch sofort überkam sie Unruhe. Warum sollte jemand mit ihr reden wollen? Sie kannte fast niemanden von denen, die hier herumliefen. Außer Jay.

Und ihre Mutter. Dilipa, die dich am liebsten von hier weghaben will.

Hirka nickte. Sie musste das Wichtigste zuerst anpacken. »Kannst du jetzt anrufen? Diesen Arzt für Tiere?«

Pater Brody wurde noch etwas röter im Gesicht. Er sah aus, als dächte er über ein Nein nach, aber sie glaubte nicht, dass er das Wort überhaupt aussprechen konnte. »Selbstverständlich, selbstverständlich.«

Er holte das Telefon heraus und wählte. Hirka biss sich auf die Unterlippe. Es musste hier jemanden geben, der helfen konnte. Doch dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Der Mann in der dunklen Gasse. Die Frau im Pelzmantel, die sie gesehen hatte, aber schleunigst weitergegangen war, als wäre nichts passiert, als ginge sie das nichts an. Es war nur ein flüchtiger Augenblick gewesen, aber der leere Blick der Frau allzu deutlich. Der Schmerz, als Hirka erkannt hatte, dass sie nicht eingreifen, nicht einmal etwas sagen würde.

Hirka wusste es jetzt. Sie konnte so vielen helfen, wie sie wollte, aber wenn es darauf ankam, dann stand sie trotzdem allein da.

Wo Leute sind, ist auch Gefahr.

»Ja, es ist ein Rabe, das stimmt doch, oder, Hirka?« Ihr Name riss sie aus ihren Gedanken. Pater Brody schaute sie an, während er telefonierte. »Entweder ein Rabe oder wahrscheinlich eher ein großer Krähenvogel.«

»Es ist ein Rabe«, sagte Hirka.

»Ja, sicher? Ja, sicher?« Pater Brody nickte vor sich hin. »Wirklich? Danke, danke. Nein, ich verstehe. Danke trotzdem.« Er steckte das Telefon wieder in die Tasche.

»Was sagen sie?« Hirka trat einen Schritt näher.

»Sie sagte, sie behandeln keine Schädlinge.«

»Schädlinge?« Hirka verstand das Wort nicht.

»Ja, also … solche Tiere. Tiere, die man nicht in seiner Nähe haben will. Tiere, die Schaden anrichten können.«

»Sie wollen ihn also sterben lassen?«

»Sie schläfern sie normalerweise ein. Man soll sie nicht im Haus halten, das ist nicht erlaubt, aber ich habe gesagt, du hast ihn draußen gefunden.«

»Du hast gelogen, für mich?«

»Nein, nein, nein, soweit ich weiß, ist es wahr!« Pater Brody versuchte, wieder zu lächeln. Er sah immer noch so aus, als müsste er dringend pinkeln.

Hirka setzte sich ganz außen auf die Kirchenbank.

Schädlinge. Tiere, die man nicht haben wollte. Mochten sie doch alle im Draumheim verfaulen, jeder einzelne Mensch.

Die Kirchentür hinter ihnen knarrte.

»Pater Brody?« Eine dunkelhäutige Frau kam herein. Sie hatte einen engen, karierten Rock an und trug einen Ordner, den sie an ihre Brust drückte.

»Oh, ja. Trudy …« Pater Brody sah Hirka an. »Das ist Trudy, sie will dir nur ein paar Fragen stellen. Das ist nicht gefährlich und ich hätte nie … aber die Leute fangen an, Fragen zu stellen, und wir müssen …«

»Leute?« Hirka wusste, wer mit Leute gemeint war. Dilipa, Jays Mutter. Für sie war Hirka ein Schädling. Etwas, was man nicht haben wollte. Hirka wartete auf einen Stich von Trauer, aber der kam nicht. So war das hier eben. Das hatte sie jetzt gelernt.

Die Frau mit dem karierten Rock reichte ihr die Hand. »Ich bin Trudy. Können wir kurz miteinander sprechen?«

»Ich spreche nicht gut Englisch. Noch nicht«, antwortete Hirka und rutschte noch weiter ans Ende der Bank. Von dort konnte sie leichter weglaufen, wenn es nötig werden sollte. Die Frau sagte, woher sie kam, aber das klang in Hirkas Ohren nur wie zufällig aneinandergereihte Laute. Trudy setzte sich neben sie und sagte etwas in mehreren Sprachen.

»Kennst du keine dieser Sprachen, Hirka?« Die Frau guckte sie an, als sei Hirka ein kleines Kind. Hirka schüttelte den Kopf. »Ich wohne hier. Ich spreche Englisch.«

Trudy warf Pater Brody einen besorgten Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben alles versucht. Niemand konnte ein Land nennen, von dem sie wenigstens schon einmal gehört hat. Am Anfang hat sie ihre eigene Sprache gesprochen, aber dazu haben wir sie danach nicht mehr ermuntern können.«

Hirka blickte sich um und tat, als verstünde sie das Gespräch nicht. Es gab einen guten Grund, warum sie ihre eigene Sprache nicht mehr sprach. Denn das veranlasste alle zu fragen, woher sie kam, und wenn sie die Wahrheit sagte, hielt man sie für verrückt oder für ein bisschen gestört. Wie Vetle. Mit dem Gedanken an Vetle überkam sie eine Lawine aus Erinnerungen: Ramoja, Eirik, das Rauschen von Flügelschlägen, wenn die Raben jeden Morgen über Ravnhov flogen.

Sie schaute hinaus in den Himmel, aber er war hier kahl. Leer. Rabenlos.

Pater Brody sprach weiter: »Wir hatten mal einen Norweger mit Verwandtschaft auf Island hier. Er sagte, da gebe es gewisse Ähnlichkeiten, aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Wir sind ziemlich sicher, dass sie das Gedächtnis verloren hat. Kann sein, dass sie eine eigene Sprache erfunden hat. Das ist doch möglich, oder?«

Trudy blätterte in ihren Papieren. »Wie heißt das da, woher du kommst?«

Hirka presste die Lippen aufeinander. Sie hatte sich früher schon einmal hereinlegen lassen. Aber diese Frau hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. »Wie alt bist du?« Die Frage hatte etwas Bedrohliches, aber sie konnte nicht mehr so tun, als verstünde sie kein Wort. Pater Brody antwortete für sie. »Sie sagt, sie sei sechzehn.«

Die Frau sah – falls überhaupt möglich – noch besorgter aus. Trotzdem lächelte sie breit. Davon lief es Hirka kalt den Rücken hinunter. »Deine Eltern, Hirka. Wo sind sie?«

Endlich konnte Hirka ehrlich sein. »Ich dachte, sie wären hier.«

Das ermutigte Trudy. »Haben deine Mutter und dein Vater gesagt, dass sie hier wären?« Hirka schüttelte den Kopf.

»Wie heißen sie?«

»Ich weiß nicht.«

Trudy seufzte und stand auf. »Kann ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Pater? Ich weiß nicht, was ihr zugestoßen ist, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass es zu einer Art Trauma geführt hat.« Sie gingen den Mittelgang entlang, während sie sich miteinander unterhielten. Hirka saß unbeweglich da und lauschte den Stimmen, die sich in den Neubau entfernten. Sie hörte, wie die Tür hinter ihnen zuschlug, und stand auf. Lief zur Turmtür. Sie nahm drei Stufen auf einmal bis ganz nach oben ins Turmzimmer. Sie schaute sich fieberhaft um nach etwas, womit sie die Treppe versperren konnte, aber das war ein dummer Gedanke, natürlich. Sie lehnte sich an die Wand.

Alles war vorbei. Sie war hergekommen, weil sie glaubte, sie gehöre hierher. Weil sie ein Mensch war. Eine von ihnen. Aber hier war es genauso wie in Ymsland. Sie wurde auch hier gejagt, war auch hier eine Fremde. Und diese Frau saß nun unten im Café und erklärte Pater Brody, dass sie hier nicht wohnen konnte, dass die Polizei kommen würde, um sie zu holen. Dann würden sie sie wohl auch einschläfern. Wie einen Schädling.

Der Beutel? Wo war ihr Beutel? Der stand neben der Kommode. Hirka riss ihn an sich. Stopfte die Kleider, das Notizbuch, die Lederbeutel mit den Kräutern hinein. Was noch? Die Tasse. Den Spiralstein, den Hlosnian ihr geschenkt hatte, in Elveroa. Bevor alles zum Draumheim ging. Bevor Vater starb. Sie fuhr mit dem Finger die Rillen entlang. Der Steinflüsterer hatte gesagt, die Gabe selbst habe ihn gemacht. Lange bevor es Leute gab. Sie ließ ihn in einen Beutel plumpsen. Die Pflänzchen auf dem Fensterbrett mussten zurückbleiben. Sie konnte sie nicht mitnehmen.

Dann nahm sie Kuro auf den Arm. Er war schlapp. Wärmer, als er sonst war. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Du kannst jetzt nicht krank werden. Wir können nicht hierbleiben. Verstehst du?« Sie schüttelte ihn vorsichtig, aber er schloss nur die Augen. Sie glichen bleichen Würmern auf dem Kohlschwarzen. Sie legte ihn zurück in die Schublade, lehnte den Kopf an die Kommode. Sie musste warten, bis es Nacht war. Sie konnte ihn in einem Karton aus dem Café mitnehmen. Bis dahin musste sie den Schein wahren, Pater Brody überzeugen, dass alles in Ordnung war. Sie schloss die Augen und holte so tief sie konnte Luft. Wenn sie nicht nach unten ging, würde Pater Brody hochkommen. Ihr blieb keine andere Wahl.

Sie stieg die Treppe wieder hinab. Draußen war es windig. Es hörte sich an, als schwebe ein Gespenst heulend im Turm hoch. Das machte nichts. Hirka hatte keine Angst vor Gespenstern. Sie war selbst eins.

Pater Brody saß auf der Bank, auf der Hirka vor Kurzem gesessen hatte. Er starrte zum Altar hinauf. Das bedeutete, dass er nicht wusste, was er tun sollte, oder dass ihm nicht gefiel, was er tun musste. Hirka setzte sich neben ihn und zog die Füße unter sich.

»Hmm, hmm«, sagte er und nickte ihr zu, als hätte sie etwas gesagt. Eine Weile war es still. Das Dach knarrte bei jedem Windstoß.

»Es gibt viel, was wir nicht über dich wissen, Hirka«, begann Pater Brody und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Eine Geste, die sie an Vater erinnerte. Das gab ihr einen Stich ins Herz und sie hätte sich am liebsten an ihn gekuschelt, aber sie konnte ihren Gefühlen jetzt nicht freien Lauf lassen. Außerdem käme es ihr wie ein Betrug vor, weil sie trotzdem weglaufen wollte, sobald es Nacht war.

»Genauso viel, wie ich nicht von euch weiß.« Hirka presste ein Grinsen hervor. Das war selten verkehrt. Wenn sonst nichts blieb, konnte ihr ein Lächeln dabei helfen, zu überleben. Pater Brodys Wangen röteten sich noch mehr. Er war für viele Monate ein sicherer Hafen gewesen. Er war ein guter Mann. Sie warf ihm nicht vor, was jetzt geschehen war.

»Du weißt, dass hier kein Ort ist, an dem Leute wohnen«, sagte er. »Das hier ist eine Kirche. Das ist Gottes Haus. Verstehst du, was das ist, Hirka? Was Gott ist?« Er sah beinahe hilflos aus. Hirka wusste nicht, wie sie ihn trösten könnte. Aber sie nickte. Sie hatte früher schon Leute mit Göttern kämpfen sehen. Sie war dabei gewesen, als Rime seinen verloren hatte.

Sein Blick ruhte auf dem Gemälde hinter dem Altar. Ein junger Mann in einem roten Kittel. Er war halb ausgezogen und hatte eine Wunde an der Seite. Ein Mann saß bei ihm und hatte den Finger in die Wunde gelegt. Vielleicht versuchte er, ihn zu heilen. Sie wusste es nicht. Über den Männern schwebte eine weiße Taube.

Hirka schaute Pater Brody an. Er hielt sich an der Rückenlehne der Bank vor ihnen fest und starrte das Bild an, als erwarte er von dort eine Antwort, die nicht kam. Sie legte ihm eine Hand auf den Rücken.

»Pater Brody, ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine ganz normale Taube ist.«

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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