Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 13

Das Gewächshaus

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Hirka saß mit dem Rücken an der Wand und starrte auf die Glocken im Stockwerk über ihr. Sie waren wie schwarze Löcher, groß genug, um sie zu verschlucken, falls sie herunterfielen. Aber sie hingen dort schon lange, umgeben von Zahnrädern und Gebälk und Tauen, die ganz bis auf den Boden reichten, sodass Leute daran ziehen konnten und einen Lärm machten, der alle im Draumheim aufwecken würde. Vielleicht auch Vater.

Sie wollte wieder weglaufen. Das Einzige, was sie wirklich gut konnte: abhauen. Kam es am Ende nicht immer so?

Sie war von zu Hause weggelaufen. Aus der Hütte, aus Lindris Teestube. Sie war aus dem Fenster geklettert und über die Dächer von Mannfalla getürmt. Und in der Nacht, als der Baum des Sehers zerbrach. In der Schicksalsnacht, die alles verändert hatte. Sie erinnerte sich an Rimes Blick, als sie ihn gebeten hatte, ihren Beutel zu holen, ihn gebeten hatte, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um ihn aus den Kerkerschächten von Eisvaldr zu bekommen.

Sie hörte sich selbst lachen. Es wurde zu einem erstickten Schluchzen. Sie rollte sich zusammen, umklammerte den Beutel, um den Schmerz zu betäuben. Die Gedanken brannten. Es war, wie wenn man den Schorf von einer Wunde abreißt, aber sie konnte es nicht bleiben lassen.

Rime. Das weiße Haar. Die Wolfsaugen. Der Kuss.

Sie hatte gewusst, dass es keinen Weg zurück geben, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Aber nie war damals nur ein Wort gewesen. Jetzt war es mehr. Es waren Stunden, Tage, Monate. Nie hatte eine Bedeutung bekommen.

Er war jetzt Rabenträger. In einer Welt, in die sie nicht gehörte. Aber in diese Welt gehörte sie offenbar auch nicht. Vielleicht fühlte es sich aus dem Grund so ungerecht, so schmerzhaft, so unsicher an.

Der Mann mit dem Kapuzenpullover.

Dieser Überfall war kein Zufall gewesen. Er hatte sie beobachtet, auf sie gewartet. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht der Einzige war. Da draußen war es gefährlich. Und sie hatte keinen Zufluchtsort. Dennoch … Sie konnte nicht warten, bis die Polizei sie abholte. Die Polizisten waren in dieser Welt die Gardisten und sie war früher schon einmal in die Hände der Gardisten geraten. Sie hatte nicht auf ihre Instinkte gehört und war geradewegs in den Ritualsaal gegangen, geradewegs in die Höhle des Löwen. Das würde sie nie wieder machen.

Kuro war jetzt kurzatmig. Er lag bewegungslos auf einem Handtuch in einem Pappkarton. Etwas stimmte nicht. Das konnte sie riechen. Hirka erstickte die Gewissheit und packte ihre übrigen Sachen ein. Etwas Geld von Pater Brody für ihre Hilfe. Den Rest an Tee und Kräutern, die sie noch hatte. Viel war es nicht mehr. Sie musste sparsam sein. Was, wenn sie krank wurde? Nicht dass sie sich entsinnen konnte, je krank gewesen zu sein. Das war der Vorteil, wenn man bei einem heilkundigen Vater aufwuchs.

Widerwillig packte sie auch den unsterblichen Apfel ein. Er war wohl besser, als zu verhungern. Sie zog ihr grünes Strickhemd an. In dem hatte sie alle Abenteuer bestanden und das war dem Stück deutlich anzusehen. Aber es erinnerte sie daran, wer sie war. Das Messer steckte sie so in die Wollsocke, dass es am Stiefelschaft festgeklemmt war. Sie konnte das Messer herausziehen, ohne dass sich das Futteral löste. Sie probierte es mehrmals aus, bis sie sicher war, dass es funktionierte.

Hirka zog den Regenponcho über, setzte die Kapuze auf und schulterte den Beutel. Dann hob sie den Karton mit Kuro hoch, warf einen letzten Blick auf das schöne Fenster und ging die Treppe hinunter.

Es war Nacht und niemand würde sie hören. Trotzdem öffnete sie unten die Tür so leise wie möglich. Die Kirche war ein leerer grauer Raum. Es rauschte da drinnen, als sei das Echo aller Besucher im Lauf der Jahrhunderte dort hängen geblieben. Die Dunkelheit lag zwischen den Bankreihen wie schwarze Abgründe. Die Glasmalereien waren in der Nacht verblasst, hatten die Farben ausgemacht, waren eingeschlafen.

Sie ging den Mittelgang entlang. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwand erst, als sie die Ausgangstür erreicht hatte. Sie drehte den Schlüssel um, der im Schloss steckte. Dann wandte sie sich zum Altar um, zu dem Gemälde von der verletzten Gestalt und der Taube, die sie für Odin gehalten hatte. Für den Gott der Menschen. Aber das Ganze war komplizierter, das hatte sie begriffen. Egal, wer der Vogel war, er blieb stumm.

»So … Jetzt hast du dein Haus wieder für dich«, flüsterte sie und schlüpfte hinaus in die Winternacht.


Nachts war die Stadt erträglicher. Ruhiger. Keine Autos. Und die Geräusche, die da waren, verstand man besser. Betrunkene waren Betrunkene, egal, in welcher Welt man sich aufhielt. Das war immerhin etwas. Wenn sie blinzelte, konnte sie sich beinahe vorstellen, sie ginge die Daukattgata entlang zu Lindris Teestube. Bis ein leerer Nachtbus vorbeifuhr und die Illusion zerstörte.

Hirka ließ die Kirche hinter sich und folgte den Straßenlaternen nach Osten. Hielt sich von allen Gassen und Hinterhöfen fern. Versuchte sich selbst immer wieder daran zu erinnern, die Schultern zu entspannen. Sie war allein. Hier war niemand, der hinter ihr her war.

Hirka hatte sich ihre Zeichnung im Buch angeschaut. Die Karte. Sie glaubte, sie würde Jays Haus finden. Sie wusste, dass sie dort nicht bleiben konnte, aber sie musste ihr Bescheid sagen. Jay war nicht so taff, wie sie immer tat. Und Hirka glaubte nicht, dass sie noch viele andere Freunde hatte. Hirka konnte nicht einfach ohne eine Erklärung abhauen. Außerdem hatte Jay vielleicht gute Tipps, wohin sie gehen konnte. Das war ihre einzige Hoffnung.

Die Luft fühlte sich schwer an. Bald würde es anfangen zu schneien. Der Weg gabelte sich und sie wollte zu dem alten Haus, das sich über die Straße neigte. Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Hob den Blick. Was war das? Hatte sie jemanden auf dem Dach gesehen? Hirka hatte im Dunkeln schon immer gut gesehen, aber auch sie konnte sich täuschen. Die Leute hier trieben sich nicht auf den Dächern herum, so viel hatte sie schon mitbekommen. Sie kniff die Augen zusammen, doch der Schatten war fort.

Ob er das war? Der mit dem Kapuzenpulli?

Sie schaute hinunter zu Kuro. Er lag im Karton unter dem Handtuch versteckt und war keine Hilfe. Hirka biss sich auf die Unterlippe, versuchte, die zunehmende Sorge in ihrer Brust zu dämpfen. Sie guckte sich um. Fremde Straßen und Häuser. Eine unbekannte Stadt in einer unbekannten Welt. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zu Jay und ihrer Mutter nach Hause gehen, wenn sie von jemandem verfolgt wurde.

Warum sollte mich jemand verfolgen? Du bist ein Niemand!

Hirka lief die Straße entlang. Zurück in dieselbe Richtung, aus der sie gekommen war. Sie hörte, wie Kuro im Pappkarton kratzte. Er hatte Angst, aber sie traute sich nicht, stehen zu bleiben. Vom Laufen wuchs die Angst. Sie linste zu den Dächern hoch, konnte aber niemanden sehen. Sie entdeckte den Kirchturm wieder. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Bis sie die Gestalt auf der anderen Straßenseite sah. Der Mann verzog sich schnell in die Schatten, aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie wurde verfolgt.

Du bist früher schon gejagt worden. Streng deinen Kopf an!

Was würde sie tun, wenn sie hier die Gabe hätte? Sie würde die Angst auseinandernehmen, daraus Stärke ziehen, sie als das sehen, was sie war, und eine Lösung finden.

Sie überquerte den Friedhof, zwischen den Steinen der Toten hindurch, und schlich auf die Rückseite der Kirche. Wer sie verfolgte, würde glauben, sie sei wieder hineingegangen. Hoffte sie.

Sie schob den Karton oben auf die Friedhofsmauer und zog sich danach an den vereisten Kletterranken hoch. Sie knarrten und drohten von der Mauer abzubrechen, doch sie hielten. Sie sprang auf der anderen Seite hinab und zog den Karton herunter. Sie musste einen anderen Ort finden. Jetzt. Sie versuchte still zu sein, doch beim Ein- und Ausatmen zischte ihre Lunge. Wohin sollte sie gehen? Wohin?

Das Gewächshaus …

Wo Pater Brody ihr die Pflanzen gekauft hatte. Wo man Kräuter anbaute. Auch im Winter. In Gewächshäusern, in denen keine Menschen wohnten. Dorthin konnte sie gehen. Dort wäre es sicher. Erinnerte sie sich noch, wo das war? Sie glaubte schon.

Hirka drückte den Karton fester an sich und begann wieder zu laufen. Sie folgte der Kälte bis hinunter zum vereisten Fluss. Die Bäume zeichneten sich weiß vor dem schwarzen Himmel ab. Die Zeit des Todes. Wäre alles anders gewesen, wenn sie im Frühling hierhergekommen wäre? Wenn alles lebte, spross und sang?

Sie nahm den Pfad am Flussufer entlang, bis sie sich direkt unterhalb des Gartens mit dem Gewächshaus befand. Alles war mit Eis und Schnee bedeckt. Kleine Wasserpfützen waren zu Spiegeln gefroren. Sie zerknackten unter ihren Stiefeln, den ganzen Weg hinauf zum Gewächshaus. Es war durchsichtig gewesen, als sie das letzte Mal hier gewesen war, doch jetzt war das Glas beschlagen. Draußen war keine Menschenseele zu sehen, deshalb musste sie darauf vertrauen, dass auch niemand drinnen war. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste sich verstecken.

Hirka lauschte. Eine Sirene heulte in der Ferne. Und da war auch noch etwas anderes, ein Surren. Aber das konnte alles Mögliche sein. Alles dröhnte oder rauschte hier. Sie ging an der Glaswand entlang, bis sie die Tür fand. Kuros Kopf lugte unter dem Handtuch im Karton hervor. Sein Schnabel war halb offen. Bewegungslos. Hoffnungslosigkeit hüllte sie ein. Sie konnte ihm nicht helfen. Die Kräuter in ihren Beuteln waren fast aufgebraucht und hier gab es keine neuen Pflanzen, die sie hätte pflücken können. Jedenfalls keine, mit denen sie sich auskannte. Keine, die Kuro helfen konnten. Und Rabner gab es hier auch nicht.

»Alles wird gut. Versprochen«, flüsterte sie.

Sie schob die Tür auf und schlüpfte hinein. Dort war es warm. Ein Weg aus Steinplatten führte durch die Reihen mit den fremden Pflanzen. Alle waren im Dunkeln farblos. Einige glichen Gewächsen zu Hause, aber immer gab es etwas, das anders war. Wie sollte sie etwas von denen hier verwenden? Sie konnten ebenso gut töten wie heilen. Eine ganze Welt von neuen Pflanzen zu bestimmen … Das würde bis zum Ende ihres Lebens dauern.

Bei dem Gedanken überkam sie unerwartete Ruhe. Das wäre zumindest eine sinnvolle Aufgabe.

Sie lief den Weg weiter bis zu einer kleinen Abseite in der hintersten Ecke, wo es noch wärmer war, stickig. Das Surren, das sie gehört hatte, kam von einem Ventilator, der dort über der Tür angebracht war. Die Fenster waren beschlagen, doch den Sternenhimmel konnte sie durchs Dach sehen.

Kuro gab einen Laut von sich, einen halb erstickten Schrei.

»Nein! Hör mal!« Hirka stellte den Karton ab und hob den Vogel heraus. Sein Kopf hing herab, er atmete schnell und stoßweise. Sie drehte ihn um. Tastete den warmen Vogelkörper nach Verletzungen ab, aber das war, wie im Dunkeln zu tappen. Was wusste sie eigentlich über Raben? Nichts.

»Du brauchst nur eine bessere Stelle zum Liegen«, sagte sie mit belegter Stimme. Die Verzweiflung ließ sich nicht länger unterdrücken. Der Rabe auf ihrem Arm fühlte sich immer schwerer an.

Sie entdeckte eine Holzkiste unter einem Arbeitstisch. Sie drückte Kuro mit der einen Hand an ihre Brust, während sie mit der anderen die Kiste hervorzog und umkippte. Gartenwerkzeug, das darin gelegen hatte, fiel scheppernd auf den Steinboden. Es war ihr egal, ob es jemand hörte. Sollten sie doch kommen, wenn sie wollten.

»So, die ist größer. Hier kannst du liegen. Bis du gesund bist.« Sie breitete das Handtuch auf dem Boden aus und legte Kuro vorsichtig darauf. Er sah aus wie ein Haufen Federn. Schwarze Federn auf einem weißen Handtuch. Sein Kopf fiel zur Seite.

»Nein, Kuro! Das darfst du nicht!« Sie fiel auf die Knie, hob ihn wieder heraus. Schüttelte ihn. Sein Kopf sah viel zu schlaff aus, als habe er sich das Genick gebrochen. Irgendetwas musste sie doch tun können! Sie musste ihm helfen. Ihre Aufgabe war es, Kranken zu helfen. Leute gesund zu machen, Dinge zu richten. Sie starrte dem Raben in die Augen und erinnerte sich an alle, die sie hatte sterben sehen. An alle, denen sie nie hatte helfen können. An alle, die die Hütte verlassen hatten, ohne dass Vater oder sie etwas anderes getan hatten, als das Unausweichliche aufzuschieben. Das war nicht gerecht! So sollte es nicht sein!

Vom Weinen lief ihr die Nase und sie wischte sie sich mit dem Pulloverärmel ab. »Das werde ich dir nie verzeihen! Hörst du das?« Kuros ganzer Vogelkörper durchlief ein Zucken und er fiel ihr aus der Hand, sodass er wieder in die Kiste plumpste. Er stieß einen langen Schmerzensschrei aus und flatterte ein bisschen mit den Flügeln, als versuche er sich aufzurappeln. Die Klauen spreizten sich und sein Schnabel öffnete sich zu einem erstarrten roten Schlund. Sein Brustkorb schwoll an, blähte sich wie ein Wasserbeutel. Das hier ging schief! Das hier ging ganz schrecklich schief!

»Kuro …« Sie streckte die Hand nach ihm aus, konnte aber den Arm nicht hochhalten. Alle Kraft im Körper war weg.

Da platzte die Vogelbrust.

Hirka schrie und wich zurück. Sie sah Blut, Knochen.

Kuro zischte. Etwas glänzend Weißes zwängte sich aus seiner Brust. Der Vogelkörper wurde bis zur Unkenntlichkeit gedehnt. Noppige Haut war zwischen den Federn zu sehen, aufgesprungen, kaputt. Hirka schlug sich die Hand vor den Mund, konnte aber ihre hemmungslosen Schluchzer nicht unterdrücken.

So hatte der Tod noch nie ausgesehen. Das hier war ein Parasit. Ein hässlicher Wurm, der in Ymsland nicht vorkam, sondern nur hier. In dieser verhassten Welt. Die hatte ihr den einzigen Freund genommen. Alles, was sie hatte.

Von Kuro blieb in der Kiste nur noch Aas, während sich das Wesen aus ihm wälzte.

Hirka kroch rückwärts, ohne den Blick von dem abwenden zu können, was da passierte. Sie zog sich zwischen die Tische mit den Sprösslingen zurück, drückte sich an die Glaswand. Die war kalt und feucht am Rücken.

Die Kiste flog mit einem Knall auseinander. Holzsplitter wirbelten durch die Luft. Irgendetwas klatschte gleich neben ihrer Wange ans Fenster. Es hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Darm. Es rutschte allmählich abwärts und hinterließ eine Blutspur. Sie hielt sich den Arm vors Gesicht. Sie wollte nicht hinsehen. Sie dachte an Vetle, wie er damals auf der Tanne über der Alldjup-Schlucht gesessen hatte, sein Gesicht hinter dem Arm versteckt. Als würde ihm das mehr Sicherheit bringen. Jetzt machte sie es auch so. Sie hatte den Verstand verloren.

Das träume ich nur! Das passiert nicht wirklich!

Doch das Donnern ihres Pulses im Hals war echt. Sie hörte ein Geräusch wie von jemandem, der erstickt. War sie das? War das Kuro?

Sie lugte hinter dem Arm hervor. Etwas lag auf dem Steinboden, dort, wo die Kiste gestanden hatte. Ein blasses Untier. Es hatte Füße, Arme. Es war ein Mann. Ein nackter Mann auf dem Boden. Eingesaut mit Blut und Federn. Sein Gesicht war unter glänzend schwarzem Haar verborgen. Er atmete.

Da lag ein Mann auf dem Boden. Kein Rabe. Ein Mann.

Hirka konnte sich nicht rühren. Allein schon der Gedanke daran, sich zu bewegen, war unmöglich. Sie war schwer wie ein Stein. Festgefroren. Der Mann versuchte, sich mit einem Arm aufzustützen, doch er rutschte im Rabenblut aus und fiel wieder hin. Krümmte sich vor Schmerzen. Er streckte den einen Arm aus, zog sich etwas vorwärts. Gab aber auf. Blieb mit angezogenen Knien auf dem Boden liegen.

Nie hatte sie gesehen … oder gehört, dass …

Ich muss weg von hier!

Das unfassbare Etwas, das da vor ihr lag, konnte alles Mögliche sein. Etwas so Schreckliches, dass die Menschen nicht gewagt hatten, ihr davon zu erzählen. Ein Untier, das Raben tötete und Menschen fraß.

Der Mann hatte sie nicht gesehen. Wenn sie doch nur an ihm vorbeirobben könnte und raus …

Hirka zwang ihre Gliedmaßen, ihr zu gehorchen. Sie beugte sich vor und kroch auf allen vieren unter den Tisch. Ihr Regenponcho knisterte bei jeder Bewegung. Sie versuchte, so leise wie möglich zu sein, indem sie nur kleine Schritte machte und sich Stück für Stück vorarbeitete. Ihre Arme zitterten. Die Ellenbogen drohten nachzugeben. Sie wagte es nicht zu blinzeln. Still. Sie musste still sein. Sie hörte ihn atmen. Zischend. Er war viel zu nah, aber bis zur Tür war es jetzt nicht mehr weit. Sie musste es schaffen. Würde es schaffen. Sie konnte hier nicht sterben.

Sie hob die Hand, um sie noch ein Stückchen vorwärtszubewegen. Doch plötzlich packte er ihr Handgelenk. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie wollte sich losreißen, aber alles hatte sie im Stich gelassen. Die Instinkte. Der Körper. Die Gedanken.

Seine Hand war groß und stark. Blass, fast weiß auf ihrer Haut. Und die Finger … Die kannte sie nur allzu gut. Klauen, von denen sie gehofft hatte, sie würde sie nie wieder sehen.

Er war ein Blinder. Nábyrn. Ein Totgeborener.

Hier. In der Welt der Menschen.

Sie ließ das Kämpfen, stellte das Denken ein. Wenn sie sich bewegte, würde die Wirklichkeit zerspringen wie Glas. Die Angst steckte ihr wie ein kalter Pfahl im Körper. Ohne den sie zusammenbrechen würde.

Er stemmte sich hoch, schaffte es mit Mühe und Not, den Oberkörper vom Boden zu hieven. Er stützte sich mit dem Arm ab. Starrte sie aus weißen, blinden Augen an.

»Kroyo ozá désel?« Das klang wie ein Geräusch aus Draumheim. Eine heisere Stimme, die es nicht geben durfte.

»Kroyo ozá désel?«, wiederholte er und es gab keinen Zweifel, dass er sie direkt ansah, egal, ob er blind war oder nicht. Hirka hob die Hand und legte sich zwei zitternde Finger an den Hals, ohne den geringsten Schimmer zu haben, woher dieser Instinkt kam.

Er knurrte wie ein Tier und brach wieder auf dem Boden zusammen.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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