Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 16

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Rabenblut

Der Turm des Sehers stand verwaist da. Er war sonst immer durch eine schmale Brücke mit dem Ritualsaal verbunden gewesen, doch jetzt, da es weder Saal noch Brücke gab, ragte der Turm wie ein Warnsignal der Götter aus der Landschaft. Letzter Halt vor Blindból.

Das gelbe Glas hatte man aus den Fenstern entfernt und wollte es im neuen Ratssaal wiederverwenden. Nur das schwarze Skelett stand noch wie ein kaputter Leuchtturm ganz oben auf der Klippe.

Rime wusste, wenn er dort hinaufging, würde er Bruchstücke des Baumes finden. Vermutlich würden sie noch genau an derselben Stelle liegen wie in der Nacht, als er ihn zerschlagen hatte. Alles war wie immer. Und nichts war wie immer.

Die Gärten hinter Eisvaldr lagen unter einer Schneedecke. Zu beiden Seiten des Weges lugten weiße Blumen hervor, die der Wintereinbruch überrascht hatte. Das Wasser im Vogelbecken vor ihm war gefroren. Eiszapfen funkelten an seinem Rand wie Wolfszähne.

Rime blieb stehen. Hlosnian ging hinter ihm. Hier war der beste Ort für Gespräche. Sogar in großen Sälen konnte die Gabe den Klang weit tragen und dieses Gespräch war nicht für die Ohren des Rates bestimmt.

Er fischte die Ampulle aus der Tasche und reichte sie Hlosnian. »Ich wollte dich schon längst fragen, aber die wissen, wie sie mich beschäftigt halten.« Hlosnian nahm die Ampulle entgegen, zog den Korken heraus und roch daran. »Du willst sie also vergiften?«

Rime konnte einfach nicht anders und musste lachen. »Das Risiko besteht früher oder später. Aber das da ist kein Gift, soweit ich weiß. Das da ist die Tinte, die sie während des Rituals verwenden. Sie machen damit den Jugendlichen ein Zeichen auf die Stirn, wenn sie fertig sind. Nach ein paar Tagen verblasst es.«

Hlosnian verschloss die Ampulle und gab sie ihm zurück. »Ja, auf meine alten Tage habe ich schon einige Rituale gesehen, junger Mann.«

»Nun, alter Mann, ich könnte jedenfalls wetten, dass du nicht wusstest, dass sie damit bei ihnen die Gabe schwächen.«

Hlosnian zog eine buschige Augenbraue hoch. »Mit Tinte? Wie … Aaah … Rabenblut.«

Rime nickte. Jetzt galt es, Hlosnian auf die richtige Fährte zu setzen. Ein Gespräch mit ihm kam einem oft so vor wie drei Gespräche gleichzeitig, vor allem, wenn es um etwas Wichtiges ging.

»Sie sagen, es sei eine Mischung aus Kräutern, Tinte und Rabenblut. Wusstest du das?«

Der Steinflüsterer antwortete nicht gleich. Der Wind erfasste seinen roten Umhang, sodass er seine Füße umspielte.

»Blut, Rime. Geht es nicht immer darum? Wir leben dadurch. Wir sterben daran. Es entscheidet, wer wir sind. Wann wir sind. Man erzählt sich, die Gabe sei daraus geschaffen. Aus Blut der Erde. Der Erde, die wiederum unser Blut färbt. Der Kreislauf ist geschlossen.«

»Du klingst wie ein Schriftgelehrter.«

Der Steinflüsterer rümpfte die Nase. »Schriftgelehrte. Was wissen die schon über die Gabe? Die Gabe liebt Blut. Du hast es auf dem Bromfjell gesehen. Urd zwang die Steine empor. Blut von Raben. Feuer aus Stein. Blut verändert Leute. Es verändert auch dich.«

»Alle verändern sich, Hlosnian.«

»Oh, na … Manche mehr, manche weniger.« Hlosnian fegte den Schnee vom Vogelbecken und zeigte auf das gefrorene Wasser. »Schau runter und sag mir, dass du jetzt dasselbe siehst wie vor ihr.«

Rime schaute weg. Es dürfte nicht so schwer sein, zu tun, was der Steinflüsterer sagte. Dennoch wollten die Beine ihn nicht näher tragen.

»Blut ist Blindwerk, Rime. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Die Zunft hat in den letzten Tagen mehr über die Rabenringe geredet als in den letzten zehn Wintern zusammen, aber eine klare Antwort bekommst du nicht. Es gibt so viele Ansichten wie Steinflüsterer, aber wenn du mich fragst, dann hat der Seher so die Tore geschlossen. Er zog die Gabe aus allen Männern und Frauen. Toten wie lebenden.«

Rime lächelte schief. »Der Seher? Glaubst du immer noch an ihn, Hlosnian?«

»Die Frage ist, ob du immer noch zweifelst. Du hast den Baum gesehen. Du hast ihn zerstört. Du solltest es besser wissen.«

Rime hatte den Gesprächsfaden verloren. Er konnte nicht zulassen, dass sich Hlosnian durch Reden um die Sache drückte. »Was hat der Baum damit zu tun?«

»Was nichts mit dem Baum zu tun hat, ist ein Gespräch überhaupt nicht wert.«

»Hlosnian …«

»Du musst aufpassen, wenn ich spreche! Ich sage doch, wie es ist. Der Baum entstand nicht aus sich selbst heraus. Er wurde von jemandem erschaffen. Von der Gabe erschaffen. Die Kraft sprengte das Gebirge in Blindból. Schuf die Kluft durch Ravnhov bis ganz zur Alldjup-Schlucht, erzählt man sich. Glaubst du, so was kommt aus dem Nichts?« Hlosnian schlug gegen die Kälte die Hände zusammen. Der Schnee stob von seinen fingerlosen Handschuhen auf.

Rime seufzte. »Du hast keine Ahnung, oder?«

Hlosnian hob die Brust wie einen Blasebalg. »Natürlich nicht, aber das hat auch niemand sonst!«

Rime hielt ein Lächeln zurück. Der Steinflüsterer bürstete den Schnee von den langen Blumenstielen neben ihnen. »Schau sie dir an, Junge, und stell dir vor, das Wasser, durch das sie leben, sei die Gabe. Was würde passieren, wenn du aus ihnen mit einem kräftigen Saugen jeden Tropfen herausziehen würdest? Sie würden verwelken und absterben. Oder stell dir das Gegenteil vor! Was wäre, wenn du mehr Wasser in sie hineinzwängen würdest, als sie trinken könnten? Dann wären sie genauso tot, stimmts? Und das ist es, was ich sagen will: Die Tore starben, weil alles, was an Gabe vorhanden war, in die Erschaffung des Baumes ging. Die Adern verwelkten. Die Steine sanken in einen Dämmerschlaf.«

Rime versuchte, die Erinnerungsbruchstücke zusammenzusetzen. Er wusste genau, was ein Zuviel des Guten bedeutete, wenn es um die Gabe ging. Er hatte mehr als jemand sonst davon aufgesogen. Durch Hirka. Was wäre geschehen, wenn der Strom seine Kraft verdoppelt hätte, als er vor dem Rat geschwebt hatte, umgeben von den Raben? Hätte er es überstanden? Oder hätte es seinen Körper gesprengt?

War es das, was Urd Vetle angetan hatte? Hatte er durch seinen eigenen Sohn mehr Gabe gezwungen, als auszuhalten möglich war? Es hatte den Jungen jedenfalls zerstört, ihn in der Kindheit eingefroren.

Rime lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es fühlte sich wie ein Vorgeschmack auf Draumheim an. Eine kohlrabenschwarze Dunkelheit, die ihn gesehen hatte und nicht wieder loslassen wollte.

Er schaute Hlosnian an. »Wenn sie also die Gabe während des Rituals durch die Leute ziehen und sie mit Rabenblut markieren …«

Hlosnian tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Dann können sie die Gabe in eine andere Richtung zwingen. Obwohl ich glaube, dass du die Wirkung überschätzt. Aber die Wege können verkümmern. Oder gesprengt werden. Zu viel oder zu wenig ist beides gleich schlecht.«

»Und das war es, was Urd auf Bromfjell getan hat? Die Gabe hervorziehen mit Rabenblut?«

»Ach was!«, schnaubte Hlosnian. »Unsinn! Das hieße, die Türen einzureißen, während man sie öffnet. Es vernichtet dich. Vernichtet andere. Blindwerk, Rime. So was macht man nicht.«

»Das hat dem Rat aber nie jemand erzählt«, sagte Rime und schaute weg. Er wollte nicht, dass der Steinflüsterer ihm die Enttäuschung ansah. Oder erkannte, wie wichtig es für ihn war, die Rabenringe zu öffnen.

»Du redest so, als hätten sie gewusst, was sie tun.« Hlosnian lächelte.

»Alle wissen, was sie tun. Die Frage ist nur, ob sie damit leben können oder nicht.«

Rime steckte die Ampulle in die Tasche, doch er wusste, dass Hlosnian recht hatte. Nicht einmal Jarladin kannte eine Antwort auf die Frage, ob die Zeichen auf der Stirn eine Wirkung hatten. Sie hatten jahrhundertelang eine Vorschrift befolgt. Unter dem Vorwand, das Volk für die Blinden weniger anziehend zu machen. Und um die Gabenreichen ganz heimlich zu schwächen.

Aber es spielte keine Rolle, ob es funktionierte oder nicht. Es würde nicht noch einmal passieren, dafür hatte Rime gesorgt.

Hlosnian starrte auf das Eis, auf sein Spiegelbild. Ihn schien etwas zu bedrücken.

»Ich habe es selbst genommen, Rime.«

»Was hast du genommen?«

»Rabenblut.«

Rime trat einen Schritt näher. Der Steinflüsterer krümmte den Rücken wie ein Hund. »Ich habe es genommen, nur ein Mal. Und ich bin nicht der Einzige. Es wird vor den Zunfttreffen verkauft. Ich weiß es. Du weißt es. Es steckt Kraft im Blut. Steinflüsterer nehmen es, um die Stimmen besser zu hören, aber das endet immer in einer Katastrophe. Immer.«

»Was ist also geschehen? Hast du die Quelle der Gabe gefunden? Den Sinn des Lebens?« Rime lächelte, um die Missbilligung in seiner Stimme abzumildern. Es war nichts Neues, dass Leute im Rausch alles Mögliche taten.

Der Steinflüsterer schaute zu ihm hoch. »Ich wurde nie wieder ganz der Alte. Das ist nichts für uns.«

»Das ist Opia auch nicht, aber die Leute nehmen es trotzdem«, entgegnete Rime.

Hlosnian schlug gegen die Kälte die Arme um sich. Blickte über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als bereue er es, dass er so weit gegangen war. »Du siehst mich jetzt mit anderen Augen, stimmts?«

Die Frage überraschte Rime. Hlosnian kümmerte es sonst wenig, was andere von ihm hielten. Das war fast wie ein Markenzeichen des eigensinnigen Steinflüsterers.

»Nein«, antwortete Rime und lächelte. »Dass du auf die eine oder andere Weise bekloppt bist, ist schon immer offensichtlich gewesen.«

»Ach was! Alle sind auf ihre ganz eigene Art bekloppt, Junge.«

Hlosnian legte Rime eine Hand auf die Schulter. »Rabenblut öffnet die Wege. In dir selbst, aber nicht in den Steinen. Es ist kein Reiseblut«, erklärte er. »Das hat niemand von uns. Ich habe es nicht. Du hast es nicht. Ich bezweifle, dass überhaupt irgendein Lebewesen es hat. Also kommen wir nirgendshin. Aber sie hatte es. Älter als die Sünde, stärker als Rabenblut.«

»Das stimmt nicht, Hlosnian. Wir sind durch die Tore gekommen, genauso gut wie sie. Es geht nicht um Blut.«

»Es geht immer um Blut. Wir sind von dieser Welt in diese Welt gereist. Das ist keine lange Strecke. Es ging gut, weil wir hier zu Hause sind. Aber sie … Sie lässt mich vieles hinterfragen.«

Rime spürte, dass die Luft kälter wurde. Hatte er das Problem von der falschen Seite betrachtet? Vielleicht gab es nichts, was die Gabe bei den Steinen stärker machen konnte. Musste er sich selbst vielleicht stärker machen?

Er sah den Steinflüsterer an. »Du irrst dich in einem Punkt, Hlosnian.«

»In den meisten Dingen, hoffe ich. Woran denkst du?«

»Wenn es so was wie Reiseblut gibt, dann ist sie nicht die Einzige, die es hat. Die Blinden hatten es auch.«

»Du grübelst zu viel, Junge. Können wir jetzt zurückgehen, bevor ich mir den Schwanz abfriere?«

Hlosnian wandte sich zum Gehen. Sein Umhang schleifte durch den Schnee. Die Schneekristalle funkelten auf dem schäbigen Saum.

Rime guckte ins Vogelbecken und sah sein eigenes Gesicht, im Eis eingefroren. Er war blass wie ein Blinder.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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