Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 21

Der Jäger

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Ich habe getötet.

Der Gedanke kam, ehe sie überhaupt wusste, dass sie wach war. Blut hatte ihre Hand gewärmt, als sie das Messer hielt. Sie hatte getötet. Sie war gefallen. »Du sollst nicht töten«, hatte Pater Brody gesagt. Hirka wünschte, er hätte stattdessen gesagt: »Du sollst nicht sterben.« Würde er dann vielleicht noch leben?

Ihre Augen fühlten sich geschwollen an und sie erinnerte sich, dass sie geweint hatte. Das war nicht gerecht. Das Aufwachen sollte unbeschwert, erinnerungslos sein, zumindest für eine Weile. Das hatte sie früher auch schon oft gedacht. In einer anderen Welt. In einer anderen Zeit. In der Hütte in Elveroa, als die Möwen vor dem Fenster schrien und Vater draußen im Zimmer saß und getrocknete Sonnenträne zerstieß. Sie war damals aufgewacht und ein normales Mädchen gewesen. Bis sie sich erinnerte.

Odinskind. Fäulnis. Was bin ich jetzt?

Sobald sie die Augen aufmachte, wäre alles weg. Keine Hütte. Keine Läden vor dem Fenster. Nicht einmal richtige Holzwände. Bloß ein kahles Zimmer in einem Hotel. Ein hohes Wirtshaus, wo niemand jemand anderen kannte. Sie hörte das Rauschen der Stadt. Das war da beim Aufwachen und es war da beim Einschlafen. Dass die Leute hier nicht verrückt wurden, war nicht zu verstehen. Dann fiel ihr wieder ein, was passiert war. Und sie begriff, dass sie genau das waren: verrückt. Alle. Sie hätte nie herkommen dürfen.

Wäre sie in Ymsland geblieben, dann wären sie immer noch am Leben. Pater Brody, Jay und ihre Mutter. Die kleine Schwester. Der Schmerz schwoll in ihrer Brust an. Eine vielschichtige Trauer um alles, was sie verloren hatte, und alle, die sie nicht behalten durfte. Sie war geboren, um ständig auf der Flucht zu sein.

Vorher war sie wenigstens nicht ganz allein gewesen. Sie hatte Kuro gehabt. Einen Freund, der wusste, dass sie die Wahrheit sagte, weil sie zusammen hergekommen waren. Sie hatten ein ›Wir‹ gebildet. Jetzt gab es nur noch sie.

Und den Blinden …

Sie musste hier weg. Sie musste zurück zum Gewächshaus, bevor ihn jemand fand. Bevor er allein herumlief. Nackt. Und ohne etwas über diesen Ort zu wissen, so wie sie bei ihrer Ankunft.

Hirka öffnete die Augen. Eine Lampe mit grünem Schirm summte auf dem Nachttisch. Sie hatte immer noch ihre Kleider an, aber jemand hatte sie zugedeckt. Das musste er gewesen sein. Der Mann, der sie überfallen hatte. Und sie gerettet hatte. Der Mann mit dem Kapuzenpullover. Es roch nach Rauch. Hirka drehte sich vorsichtig um. Er saß auf einem Stuhl beim Fenster und starrte in den grauen Himmel. Die Kapuze war heruntergezogen und sein braunes Haar stand vom Kopf ab wie dickes Gras. Die Spitzen waren von der Sonne gebleicht. Er sah jetzt wie ein anderer aus. Jetzt, da sie wusste, dass er ihr nichts tun würde.

Seine Hand trommelte auf der Armlehne. Zwischen den Fingern steckte eine brennende Zigarette. Jay hatte auch geraucht, aber heimlich, damit ihre Mutter es nicht herausfand. Davon starben Leute, hatte sie gesagt. Aber das hatte Jay nicht umgebracht.

Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu und zuckte zusammen, als er sah, dass sie wach war. Er drückte auf seinem Mobiltelefon herum. »Es ist vier Uhr nachmittags«, erklärte er. »Du hast ein paar Stunden geschlafen.«

Hirka setzte sich im Bett auf. Die Leute hier waren von Zeit wie besessen. Als gebe es nie genug davon. Sie musste nur aus dem Fenster gucken. Der Himmel zeigte an, wie lange sie geschlafen hatte. Sie brauchte die Zeit nicht in noch kleineren Stücken.

Sie stand auf und trat ans Fenster. Sie war hoch oben. Ein Stück entfernt sah sie die Kirche, umgeben von Autos und blinkenden Lichtern. Sie konnte nicht erkennen, wie viel davon noch übrig war, aber der Turm stand noch. Schwarz vor Ruß. Leute hatten sich in Gruppen vor dem Portal versammelt. Lagen sie immer noch da drinnen? Pater Brody und die anderen?

»Setz dich«, sagte der Mann und zeigte auf den anderen Stuhl. Hirka tat, was er sagte. Sie hatte ihn schon genug geärgert, weil sie ihn gezwungen hatte, in der Stadt zu bleiben, nicht wegzufahren. Sie hatte ihm nicht einmal erzählen können, warum es so wichtig war. Aber er hatte sich darauf eingelassen. Aus Gründen, die bestimmt keiner von ihnen verstand.

Er holte seine Waffe heraus. Ein schwarzes, abgewinkeltes Metallstück, das jetzt viel hässlicher war, seit sie wusste, wozu man es benutzte. Er legte es auf den Glastisch zwischen ihnen.

»Ich gehe davon aus, dass du nicht die geringste Ahnung hast, was das hier ist, oder?«, fragte er. Hirka gab keine Antwort. Sie wusste es und wusste es auch wieder nicht.

Seine Füße wippten nervös auf und ab. Er trug eine blaue Hose aus dickem Stoff. Die hatte einen besonderen Namen, an den sie sich aber nicht mehr erinnern konnte. Von denen kamen im Armenhaus viele an und die meisten waren in besserem Zustand als seine, die Löcher an den Knien hatte und unter den Taschen dünn gescheuert war. Er beugte sich auf dem Stuhl vor.

»Kein Mensch reagiert nicht auf eine Glock an der Schläfe. Keiner.«

Er zog an der Zigarette und drückte sie danach in einem Glas aus, obwohl sie noch nicht zu Ende geraucht war. »Aber du«, sagte er und musterte sie. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Seine Augen waren braun wie das Haar. Sie erkannte den blassen Streifen an der Lippe wieder, eine Narbe, die sie etwas nach oben zog. Unter den Bartstoppeln fast nicht zu sehen.

»Wie kommt es also, dass sich eine Jugendliche mit der Mündung am Kopf nichts anmerken lässt? Das frage ich mich. Und weißt du, was? Mir fallen nur zwei mögliche Antworten ein.« Er lehnte sich wieder zurück. »Entweder hat sie so eine Situation schon so oft erlebt, dass sie sich beherrschen kann und nicht um ihr Leben bettelt. Was unwahrscheinlich ist. Oder aber sie kapiert ganz einfach nicht, was los ist. Also: Das hier ist eine Glock 19. Eine Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe. Eine Pistole. Aber du hast keine Ahnung, was das ist, oder?«

Hirka glaubte, dass sie verstand, was er sagte, obwohl die Hälfte der Wörter für sie neu war. Glock? Pistole? Sie schaute die Waffe auf dem Tisch an. »Das ist eine Waffe. Die tötet Leute«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern in dem Versuch, sich den Anschein zu geben, als spreche sie schon ihr Leben lang über solche Dinge.

»Ja, das weißt du jetzt. Aber das wusstest du vorher noch nicht, oder?«

Hirka schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, so zu tun, als wüsste sie Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Der Mann hatte ihr trotzdem geholfen, wenn auch offenbar widerwillig.

»Genau. Und du bist vorher noch nie Fahrstuhl gefahren?«

»Fahrstuhl?«

»Hotelfahrstuhl. In dem wir rauffuhren, als wir hier ankamen.«

»Aha … nein.«

»Und du hast auch keine Ahnung, was die hier wert sind?«

Er ließ drei Steine auf den Tisch rollen. Es waren ihre. Die hatte er ihr weggenommen. »Das sind meine!« Hirka griff nach ihnen. »Sie waren ein Geschenk«, fügte sie hinzu und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er war hier der Dieb. Nicht sie.

»Das heißt also nein? Du hast keine Ahnung, was sie wert sind?«

»Doch. Oder … nein, nicht hier.«

»Genau. Und das ist ja das Interessante, oder? Du weißt, was sie woanders wert sind, aber nicht hier. Dann habe ich da noch eine andere Frage.« Er beugte sich wieder vor. »Wo zum Henker kommst du her?«

Hirka biss sich auf die Lippe. Zu erzählen, woher sie kam, brachte nie etwas Gutes.

»Hast du was zu trinken?«, fragte sie.

Kurz machte er ein ratloses Gesicht. Als habe ihn noch nie jemand um so etwas Einfaches gebeten. Doch er stand auf und ging ins Badezimmer. Hirka warf einen Blick auf die Ausgangstür. Sollte sie versuchen zu fliehen? Das hier war vielleicht die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten würde … Sie spannte sich auf dem Stuhl an, hatte aber schon zu lange gewartet.

Er kehrte zurück und stellte ein Glas Wasser vor sie hin. Hirka trank es bis auf den letzten Tropfen aus. Er fragte nicht, ob sie mehr haben wollte.

»Hast du die jemandem gezeigt?«, fragte er. »Die Steine?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber ich habe das getan. Und ich würde gut auf sie aufpassen, wenn ich du wäre. Fuck, was für eine Verschwendung. Mit denen da könnte ich in Rente gehen und du hast keinen blassen Dunst. Ich sollte sie mir nehmen, das sollte ich machen.«

»Das hast du doch auch.«

»Fuck …« Er schaute hinaus auf die Lichter, die weiter weg bei der Kirche blinkten. »Ich dachte, die gehören denen. Ich dachte, du hättest was mit denen zu tun. Aber du hast auch keine Ahnung, wer die sind, oder? Du hast noch nie was von Vardar gehört? Oder von den Vergessenen?«

Sie schüttelte den Kopf. Er rieb sich das Gesicht mit der einen Hand. Er sah müde aus.

»Wie heißt du?«, fragte Hirka und zog auf dem Stuhl die Füße unter sich hoch. Sie wäre am liebsten irgendwo hochgeklettert, doch es gab nichts, worauf sie hätte klettern können. Er lächelte schief. Dadurch sah er anders, fast freundlich aus. Das hatte sie nur nicht sehen können, solange er ein gefährlicher Feind war. Was er vielleicht auch immer noch war. Sie wusste es nicht. Jedenfalls war er alles andere als ein Freund.

»Stefan. Ich heiße Stefan Barone.« Er sah aus, als sei er über seine eigene Antwort erstaunt. Sie hoffte, dass es daran lag, dass er die Wahrheit sagte.

»Ich bin Hirka.«

»Komischer Name, aber das ist wohl kein Wunder. Woher kommst du, Hirka?«

»Woher kommst du

Sein Blick glitt über sie, als suche er etwas, woran er sich heften konnte. Etwas, das ihm helfen konnte, sich zu entscheiden, ob er antworten sollte oder nicht.

»Mein Vater war Schwede, meine Mutter war Italienerin. Zu Hause kann man an tausend verschiedenen Orten sein, solange es dort Hotels und Bekannte gibt. Das letzte halbe Jahr habe ich in etwa zehn Ländern in Europa gewohnt. Aber das sagt dir nichts, oder?«

»Mein Vater war aus Ulvheim, meine Mutter kenne ich nicht. Bevor ich zehn war, hatte ich das meiste von Ymsland von einem Wagen aus gesehen, und ich bin zu Fuß durch Blindból gelaufen. Aber das sagt dir bestimmt auch nichts.«

Stefan lachte und massierte sich den Nacken. Er war ein erwachsener Mann, hatte aber trotzdem etwas Verlorenes. Hirka grinste kurz und merkte, dass sie schon lange nicht mehr richtig gelächelt hatte. Der Raum fühlte sich gleich wärmer an. Sie wusste nicht, woran das lag, doch sie konnte plötzlich die Schultern etwas entspannen. Steckte so viel Kraft darin, jemandem seinen Namen zu nennen? Vielleicht war es ihr gelungen, das Eis so weit zu brechen, um wegzukommen. Zurück zu dem Blinden.

Und was wollte sie dort machen? Rumsitzen, bis noch mehr Männer kamen?

»Was ist mit deiner Lippe passiert?« Hirka zeigte auf ihre eigene Lippe, für den Fall, dass sie die falschen Wörter verwendet hatte.

»Ich bin so geboren. Und es ist nicht schön, wenn man da hinstarrt.«

»Ich finde es schön«, sagte Hirka. »Ja, also nicht hinstarren. Aber deinen Mund.«

Stefan lachte und drückte wieder auf seinem Telefon herum. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe: Du bist gerade einem Kidnappingversuch durch ein paar Kranke entkommen. Du hast keine Ahnung, wer die waren oder was die von dir wollten. Jeder Cop in York schiebt Überstunden, um uns zu finden. Ein fremder, bewaffneter Mann sitzt einen Meter von dir weg. Und du redest über meinen Mund?«

Hirka zuckte die Achseln und starrte zu Boden. »Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich weiß nicht, warum das so gekommen ist.«

Stefan legte das Telefon wieder aus der Hand und stand auf. Sie sah, dass er um den Hals eine Kette trug. Die verschwand unter dem Pullover.

»Kanntest du mal jemanden, der richtig krank war, Hirka?«

Hirka unterdrückte ein Lächeln. Sie bezweifelte, dass Stefan genauso viele Kranke gesehen hatte wie sie, doch sie antwortete nicht.

»Ich meine richtig krank, Hirka. Jemand, der weiß, dass er bald sterben muss? Stell dir vor, du siehst eine todgeweihte Person ein Jahr später quicklebendig wieder. Und drei Jahre später. Und dreißig Jahre später.« Er schaute Hirka an. »Und nicht nur am Leben, sondern auch keinen Tag älter. Was würdest du dann denken?« Er zündete sich eine neue Zigarette an, machte aber nicht den Eindruck, als würde er sie genießen.

»Ich kann dir sagen, wer die waren, Hirka. Einer davon war ein gedungener Gewohnheitsverbrecher, vor dem nun niemand mehr Angst haben muss. Bei dem anderen bin ich mir nicht sicher, aber das wird sich noch herausstellen. Der Dritte …« Er sah Hirka fast flehend an, als hätte sie ihn zum Reden gezwungen. »Er war früher auch einmal ein Mann. Bevor er ein Raubtier wurde. Ein Blutsklave. Krank.«

Isac.

Hirka brauchte nicht zu fragen. Es gab keinen Zweifel, wen er meinte.

»Er hatte sich mit etwas angesteckt. Etwas, das sich über Generationen verbreitet hat. Die Bescheid wissen, halten die Klappe, denn das ist eins dieser Dinge, von denen wir nichts wissen sollen, verstehst du? Man macht das, was man kann, oder? Ich jage sie, schon seitdem ich ein Teenager war.«

Er lief jetzt im Zimmer auf und ab. Hob Gegenstände an und stellte sie wieder hin. Suchte nach Worten. »Sie nennen sich Vardar. Ich habe sie bis hierher verfolgt und sie verfolgen dich. Zuerst dachte ich, du gehörst zu ihnen, aber du bist gesund, oder? Und trotzdem sind sie hinter dir her. Ich kapiere nur nicht, warum.«

Er redete zu schnell und benutzte zu viele neue Wörter, als dass sie alles verstand.

»Was ist ein Blutsklave?«, fragte sie.

Er blieb stehen und schaute sie wieder an. »Einer, der schon längst hätte tot sein müssen, aber immer noch lebt, weil jemand das so will.«

»Wer will das so?«

»Das rauszufinden versuche ich schon mein ganzes Leben. Würde ich die Quelle kennen, dann würde ich hier nicht meine Zeit vergeuden. Ich weiß nur eins mit Sicherheit, nämlich dass er kein Mensch ist.« Stefan setzte sich wieder hin. »Und es macht mir Sorgen, dass du jetzt nicht lachst oder mich anguckst, als wäre ich aus einer Anstalt getürmt. Was sagt das eigentlich über dich aus? Dass du keine Angst vor dem Unmenschlichen hast?«

Sie konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Er schaute sie forschend an. Es war schwierig, in Worte zu fassen, wie sehr alles auf den Kopf gestellt war, aber sie gab sich Mühe. »Ich bin es gewohnt, Menschen zu fürchten. Kein Mensch zu sein, ist sehr gut da, wo ich herkomme. Glaub mir.«

Er betrachtete sie genau. »Und wenn das stimmt, was du sagst … Warum hast du das niemandem erzählt?«

Sie schloss die Augen. Er hatte wirklich leicht reden. Er war einer von den Glücklichen, die nie erklären mussten, wer oder was sie waren. Hirka wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.

»Weißt du, ich dachte, ich käme nach Hause. Ich dachte, sobald ich hier bin, würden alle sehen, dass ich so bin wie ihr. Ein Odinskind. Ihr würdet mich mit offenen Armen empfangen. Das dachte ich.«

Hirka wusste, dass sie den Mund halten sollte, aber die Worte hatten einen Funken entzündet. Sie brannte. Sie musste reden. Musste ihm begreiflich machen, was alles mit dieser Welt nicht stimmte. Wie schlecht sie schien.

»Zuerst, als ich hier ankam, begriff ich nichts! Ich lief. Ich lief am Tag und in der Nacht. Das Wasser war sauer, aber ich habe es trotzdem getrunken. Und obwohl die Bäume verwelkt waren, habe ich mich gefreut, sie zu sehen. Weil ich weiß, was Bäume sind, sie sind etwas Vertrautes. Etwas Echtes. Und dann sah ich diese …« Sie war jetzt gestresst und vergaß die Worte. »Autos! Und die rasten und ich … Am Anfang versteckte ich mich. In toten Wäldern ohne Tiere. Da gab es nichts zum Leben. Darum habe ich mich an die Straße gestellt und gewunken, aber niemand hielt an. Dann warf ich einen Stein. Und dann hielt einer an. Er kam raus und ich war froh, weil er mich gesehen hatte. Weil ihr jetzt wusstet, dass ich hier war. Ich dachte, er würde mich in eine Stadt bringen. Irgendwohin, wo ich wohnen konnte. An einen Ort wie Ravnhov. Und dass ich dort dann Tee trinken und abends Geschichten aus Ymsland erzählen würde und …«

Hirka stand auf. »Aber er schüttelte mich. Schrie, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Da biss ich ihn in den Arm und lief weg. Danach traf ich andere und ich versuchte zu erklären, zu sagen, dass ich durch Stein gekommen war, aber sie verstanden nicht, was ich sagte. Dann fing ich an, auf Dinge zu zeigen und zu fragen, wie sie hießen. Aber es war schwierig. Ich … ich habe Essen gestohlen.« Sie schluckte.

»Pater Brody war der Erste, der mir zuhören wollte. Ich sah all die Menschen, die zu ihm hineingingen, und ich dachte, da wäre so was wie ein großer Sehersaal. Ich folgte den anderen. Ich legte mich auf einen … Stuhl. Wie heißt das noch? … Auf eine Bank. Und Pater Brody hat mich nicht weggejagt. Ich durfte bleiben. Er fragte mich jeden Tag immer dasselbe, bis ich zu verstehen anfing. Er kannte viele und ich erzählte, wer ich war, und weißt du, was? Das spielte für sie keine Rolle! Sie sagten, ich würde nicht begreifen, was ich da redete. Dass ich mir das ausdachte. Einige guckten mich an, als wäre ich mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Eine alte Frau hat mir das ins Gesicht gesagt. Über andere Welten spricht man nicht, sagte sie.« Hirka hatte immer schneller gesprochen und jetzt musste sie Luft holen. »Ich bin nicht dumm. Und ich bin nicht verrückt. Also: Ja, ich habe Leuten erzählt, wer ich bin. Hast du noch mehr gute Ratschläge?«

Sie nahm ihren Beutel. »Außerdem ist es egal, was ich sage. Ich bin trotzdem eine Fremde. Es hat für euch keine Bedeutung, dass wir aus derselben Sippe kommen. Dass auch ich ein Mensch bin.«

Stefan hielt sie am Arm fest. »Du kommst also aus einem Disney-Traumland, oder was? Einem Ort, wo keiner tötet, stiehlt oder lügt? Ist das da so? Sind dort alle gleich, wo du herkommst?«

Sie riss sich los. »Nein! Aber da, wo ich herkomme, wissen alle, dass es so ist. Keiner tut so, als sei es besser, als es ist. Es gibt Mörder und Heilkundige. Arme und Reiche. Hier glaubt ihr, alle haben, was sie zum Überleben brauchen, aber das stimmt nicht. Ihr seid alle blind. Blind …« Ihre Stimme brach ab. »Aber das macht es wenigstens leichter, unsichtbar zu sein.«

Er stand auf. Sie wich einen Schritt zurück. Stefan war mindestens einen Kopf größer als sie und breitschultrig. Er nahm eine Strähne ihrer Locken und zwirbelte sie zwischen den Fingern.

»Wenn du hättest unsichtbar sein wollen, dann hättest du dir eine andere Farbe aussuchen müssen.«

»Die habe ich mir nicht ausgesucht. Mit der bin ich geboren.«

»Wirklich? Du bist mit so roten Haaren geboren?«

»Genauso wie du mit dieser Lippe geboren bist. Verstehst du das Problem? So, jetzt gehe ich. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe einiges zu tun. Kann ich die hier mitnehmen?« Hirka zeigte auf eine Packung Kekse, die auf dem Tisch lag. Sie hatte jetzt keine Ruhe mehr. Fühlte sich verwundbar und nackt. Wie der Totgeborene, der auf sie wartete.

»Bitte sehr. Wenn du meinst, dass du es noch schaffst, etwas zu essen, bevor sie dich finden, greif zu.« Stefan schob die Hände in die Taschen, davon überzeugt, dass seine Worte sie zum Bleiben veranlassen würden.

»Lass sie kommen. Du hast mich doch zuerst gejagt.« Sie steckte die Kekspackung in den Beutel.

Er seufzte. »Du, es tut mir leid. Ich habe viel mehr gesagt, als ich sollte, aber ich musste rausfinden, ob du eine von denen bist. Von den Kranken. Jetzt weiß ich, dass du nicht zu denen gehörst, aber sie jagen dich. Und sie sind nicht wie andere Menschen. Die Krankheit macht was mit ihnen. Mit dem Kopf. Das ist eine Infektion. Der Körper kämpft gegen das Fremde, verliert aber immer. Früher oder später. Du bist nicht sicher, Hirka.«

»Das bin ich noch nie gewesen. Außerdem sind sie tot.«

»Es kommen andere.«

»Dann muss ich wohl in Bewegung bleiben. Darin bin ich ziemlich gut.«

Hirka zog sich die Stiefel an. Ihr Messer lag auf dem Boden. Sie zögerte kurz, bevor sie es wieder in die Wollsocke steckte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wofür sie es benutzt hatte.

»Wo ist mein Regenponcho?«

»Er hängt in der Dusche«, sagte er. »Wenn ich du wäre, würde ich ihn verbrennen. Da war Blut dran. Und dadurch finden sie dich.«

Sie biss die Zähne zusammen, unterdrückte die Schuldgefühle. Es war nicht mehr zu ändern. Sie lebte, weil sie getötet hatte.

Sie holte den Regenponcho, streifte ihn über und öffnete die Tür. Das fiel ihr schwerer, als sie gedacht hätte. Sie hatte keinen festen Bezugspunkt mehr. Stefan war der einzige. Er war nicht ungefährlich, das war offensichtlich, aber sie vertraute ihm. Er hatte nicht vor, ihr zu schaden. Er verfolgte Leute, die sich angesteckt hatten. Aber da, wo sie sich fürs Heilen entschieden hätte, hatte er sich fürs Töten entschieden.

Wie dem auch sei, sie konnte nicht bleiben. Sie hinterließ eine Blutspur, wohin auch immer sie ging. Sowohl hier als auch in Ymsland. Bei Stefan zu bleiben, hieße, ihn zu töten.

»Danke für die Hilfe«, sagte sie.

»Nicht, dass es mich was anginge, aber du rennst in den Tod, Mädchen! Willst du, dass ich dich gegen deinen eigenen Willen hierbehalte? Ich kann dich dazu zwingen, wenn ich muss.«

»Das wirst du nicht tun.«

»Weil?«

»Weil ich glaube, dass du keinen Platz für andere außer dich selbst hast, Stefan Barone«, antwortete sie und ging.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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