Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 9

Оглавление

Die Versuchung

Sie waren offen gewesen. Die Tore.

Rime hatte gesehen, wie die Landschaft zwischen den Steinen durchschimmerte. Hatte das Gras gesehen, wie es sich neigte im Sog von einem unbekannten Ort. Er war von der Leere verschluckt worden, wo die Welt aufhörte zu bestehen. Und er war im Ritualsaal wieder herausgekommen.

An einer Stelle hinein, an einer anderen hinaus. Die Tore waren wach gewesen und man müsste sie wieder aufwecken können. Nur für einen kurzen, ungefährlichen Augenblick. Des Beweises wegen. Des Wissens wegen.

Ihretwegen.

Rime schritt die Regalreihen in der Bibliothek auf der Suche nach einer Antwort ab. Ihm kam der Gedanke, dass man, wollte man die Geheimnisse des Rates verstecken, nichts weiter zu tun brauchte, als sie hier unterzubringen. In aller Öffentlichkeit. Es würde dennoch Mannesalter dauern, um sie zu finden.

Gespräche wurden hier nur wenige geführt, und die auch lediglich gedämpft. Durch eine angelehnte Tür drang das Kratzen von Federn auf Papier. Er fragte sich, was da wohl niedergeschrieben wurde und ob es der Wahrheit entsprach.

Rime ging zur Galerie, die den Schacht mit Tageslicht von den Dachfenstern umkränzte. Grau gekleidete Hirten und Hirtinnen kletterten auf langen Leitern zwischen den Stockwerken umher und segelten im ganzen Rund auf Gleitschienen dahin. Er hoffte, jemand von ihnen könnte ihm den richtigen Weg weisen, zu den Büchern über die Gabe. Rime hob die Hand, um zu fragen, als ihm eine Frau im untersten Stockwerk auffiel. Sie stach durch ein feuerfarbenes Kleid hervor, schaute sich mit geschmeidigen Bewegungen um, graziös, suchend. Ihr Blick traf seinen. Sie kam ihm bekannt vor. Rime merkte, dass er sie anstarrte, und drehte sich zu einem Lesepult am Geländer um.

Dort lag das Buch des Sehers, schamlos offen. Es entblößte die Lügen, als sei nichts geschehen. Er spürte einen Stich der Enttäuschung darüber, dass immer noch Leute darin lasen. Aber selbstverständlich taten sie das.

Er ließ seine Finger den Einband entlanggleiten, der sich schon fast aufgelöst hatte. Dieses Buch war schon lange vor seiner Geburt hier gewesen. Lange vor Ilume. Ihr einziger Wunsch war es gewesen, ihn im Rat zu sehen. Zu wissen, dass er die Vergangenheit mit der Zukunft verband, indem er auf dem Stuhl saß. Aber kaum auf diese Weise. Veränderung war nie ihre Sache gewesen. Sie hätte ihn lieber enterbt, als den Seher fallen zu sehen. Diese göttliche Vorstellung, die eine ganze Welt tausend Jahre lang getragen hatte.

Wie viele falsche Götter hatte es vor dem Raben gegeben? Wie viele neue würden noch kommen?

Es reizte ihn, im Buch zu lesen. Als ob sich jetzt etwas anderes offenbaren würde als vorher. Rime erinnerte sich aus seiner Kindheit an jedes Wort.

So groß war das Herz dessen, der sah, dass er sie alle in seiner Gnade darin aufnahm. So tief war die Trauer um die Gefallenen, dass seine Tränen sie wieder reinwuschen. Frei von Schuld waren sie, als sie ihrem Seher gegenübertraten, und er sprach zu ihnen: ›Alle Macht der Erde ist mir gegeben.‹

Frei von Schuld? Was für ein Witz … Und wer nach dem Krieg die Macht bekommen hatte, stand zweifelsfrei fest. Rime blätterte um.

Und der Baum wuchs hinauf in den Himmel, blutschwarz und voller Kraft von allen, die ihre Leben geopfert hatten. Nach seinem Willen formte er ihn, nach seinem Herzen, um den Ymlingen zu dienen, und er sprach: ›Hier ist mein Thron.‹

Rime schaute sich um. Er fühlte sich beobachtet. Und unerwartet überkamen ihn Schuldgefühle. Er hatte diesen Baum zerschlagen. Den Thron des Sehers. Die Erinnerung war gnadenlos lebendig. Regen aus schwarzem Glas. Ilume, die zu Boden sank. Das Geräusch seines eigenen Herzschlags. Urd. Und Hirka …

Er schlug das Buch zu. Er hatte Lügen satt. Jetzt brauchte er Wahrheit.

Rime fand eine Hirtin, eine grauhaarige Frau mit Tintenflecken an den Fingern, und fragte sie nach Büchern über die Gabe.

»Zwei Stockwerke nach oben«, antwortete sie und zeigte ihm den Weg. »Der Bereich im Südwesten, Regal zwölf. Ich hole gern die Bücher her, die du suchst.«

»Danke, aber ich suche gern«, antwortete er. Sie lächelte herzlich, als hätten sie etwas gemeinsam.

Rime stieg die Treppen hoch. Er fand das zwölfte Regal und ging es ab. Hier standen hauptsächlich Gedichtbände. Über die Gabe, über die Natur, über die Liebe. Aber hier gab es auch andere Dinge … Er zog ein Buch mit einem grünen Einband heraus. »Ursprung« hieß es. Er spürte, wie es überall im Körper kribbelte. Erwartung. Hoffnung. Die Seiten waren so dünn, dass er fürchtete, sie könnten zwischen seinen Fingern schmelzen. Er begann zu lesen. Ungeduldig.

Die Gabe, die Quelle des Lebens … War aus alter Zeit hier … Kam mit den Ersten. Mit der Schöpferkraft … Das Gleichgewicht.

Er übersprang Wörter, Absätze, ganze Seiten. Dies hier war nichts Neues. Aber dann …

… Das Verlangen der Nábyrn nach der Gabe kostete so viele das Leben, dass daraus die Redensart ›eine Leiche für jeden Raben‹ entsprang. Ich jedoch bin der Überzeugung, dass der Tod, den sie verursachten, uns auch die Stärke verlieh, die wir brauchten, um sie zu bekämpfen. Tod bekämpfte Tod. Der Seher selbst ist ein Blinder und formt die Gabe so, wie es kein Ymling vermag. Nichtsdestotrotz ist Blindwerk in allen Winkeln von Ymsland gefürchtet und verachtet. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten – wird als Spott betrachtet. Sie wird zu sehr mit ihnen in Verbindung gebracht. Mit Verrottung und Zerstörung. Sogar mit dem Verlust unserer Seele, behauptet das Volk unter dem Eis im Norden.

Rime schloss das Buch.

Blindwerk. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten.

Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Wie rasch sie sich bewegen konnten und den Wasserfall, der zu Sand wurde. Über den Rand floss wie in einem Stundenglas. Was war es denn anderes als Blindwerk? Zauberei. War es nur Blindwerk, das die Steine aufwecken konnte? Urd hatte es getan …

Rime hörte hinter sich einen Knall und zuckte zusammen. Drehte sich um. Da stand sie. Der Frau, die er vorhin gesehen hatte, war ein Buch auf den Boden gefallen. Was war er eigentlich für ein Schwarzrock, dass er nicht mehr wusste, was im selben Raum geschah? Er reichte ihr das Buch. Sie lächelte und schaute unter schweren Augenlidern zu ihm hoch. Den Blick kannte er. Selbstsicher. Anziehend. Doch die Tändelei wirkte nicht gespielt. Schien Teil ihres Wesens zu sein. Ihre Lippen waren ungewöhnlich voll. Als forderten sie zur Berührung auf. Es war schwierig, sie nicht anzustarren.

»Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte er.

Sie nahm das Buch entgegen. Legte es oben auf die anderen, die sie trug, und schlüpfte an ihm vorbei. Ihr Arm streifte ihn. Er roch den Duft von Blumen. Sie ging zur Galerie. Ihr Schwanz schwang bei jedem Schritt hin und her. Er war mit klirrenden Ringen geschmückt. Das Haar hing ihr bis zur Mitte des Rückens herab, dicht und glatt, in der Farbe von Kohle.

Sie schaute über die Schulter zurück.

»Ich habe für dich getanzt, Rabenträger«, sagte sie so sanft, als sei das die erste Zeile eines Gedichts.

Er folgte ihr und wusste, dass sie genau das wollte. Sie legte die Bücher auf ein Lesepult, zwei Bücher über Tanz und eins, von dem er den Titel nicht erkennen konnte.

»Für mich hat niemand mehr getanzt, seitdem ich ein Junge war«, entgegnete er.

»Hast du deine eigene Weihe vergessen, Rabenträger?«

Sie hatte recht. Jetzt fiel es ihm ein: der Tag, an dem er Rabenträger wurde, das Fest, die Tänzerinnen auf der Treppe.

»Rime, mein Name ist Rime.«

»Ja, wir haben wohl keinen Raben mehr, der getragen wird …«

Ihre Worte waren befreiend direkt. Die Haare fielen ihr nach vorn über die Schulter und sie strich sie mit einer schmalen Hand wieder zurück. Diese kleine Bewegung war an sich schon ein Tanz. Alles, was sie tat, schien eine Geschichte zu erzählen. Unschwer konnte er sich vorstellen, dass Männer bereit waren, viel Geld zu bezahlen, um sie tanzen zu sehen.

Am Hals war ihre Bluse offen. Der Stoff floss über ihre Brust auf eine Weise, die unmöglich nicht ins Auge fallen konnte. Sie stapelte die Bücher neu. Das Buch, dessen Titel er nicht hatte erkennen können, lag jetzt oben. »Die Kunst der Lust« stand darauf zu lesen, über einer Zeichnung von einem Mann und einer Frau in einer unmöglichen Stellung.

Rime fühlte sich plötzlich verunsichert. Wie in einem Kampf, wie in dem Augenblick, in dem der Gegner die Oberhand gewann. Er räusperte sich, wandte sich zum Gehen. Sie hielt ihn mit einer warmen Hand auf seinem Arm auf.

»Ich bin Damayanti«, sagte sie. »Aber das weißt du ja schon.«

Er schaute sie wieder an. »Nein. Vergib mir, wenn ich es wissen sollte.«

Sie fuhr sich mit einem Finger über die Lippen, wie um in ihn hineinzubeißen. Doch das tat sie nicht. »Wirklich nicht? In dem Fall sagt das einiges über dich aus.«

Ihr Blick fiel auf das Buch, das er in der Hand hielt. »Aber ich habe von dir gehört, Rabenträger. Wonach du suchst, steht in keinem Buch. Und die es wissen, würden kaum wagen, es zu flüstern.«

Sie nahm ihre Bücher, drückte sie an die Brust und kehrte ihm den Rücken zu. »Aber das gilt nicht für alle. Komm doch mal vorbei und schau dir an, wie ich tanze. Rime.«

Sie ging. Er folgte ihr mit Blicken. Sie hatte von ihm gehört. Das hatten alle, doch er dachte nur selten darüber nach, was genau sie gehört hatten. Jetzt war unfreiwillig seine Neugier geweckt. Der Rat wollte, dass er eine Familie gründete, sich eine Frau nahm. Was würden sie sagen, wenn er mit einer Frau wie Damayanti ankam? Mit einer Tänzerin?

Sie würden die Vorstellung hassen. Sie würden toben, drohen, würden sich die wenigen Haare, die noch übrig waren, raufen.

Rime konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

Подняться наверх