Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 8

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Der Fremde

Das meiste bleibt einem erspart, solange man sich nützlich macht.

Eigentlich sollte niemand in einer Kirche wohnen, so viel hatte Hirka begriffen. Jedenfalls niemand wie sie. Sie sagten, dies sei Gottes Haus, aber er war seit Hirkas Ankunft nicht hier gewesen, darum bezweifelte sie, dass er es oft nutzte. Pater Brody hätte sie schon längst hinauswerfen oder die Polizei holen können. Was hatte Jays Mutter noch gesagt? Er hätte die Kinderfürsorge holen können.

Doch das tat er nicht. Nicht, solange Hirka Kleider wusch, auf Kinder aufpasste, Schnee schippte und Einkäufe erledigte. Er hatte sie nie darum gebeten. Sie hatte einfach damit angefangen, so wie sie es in der Teestube bei Lindri gemacht hatte. Nach ein paar Tagen stellte niemand mehr Fragen. Weder, woher sie kam, noch, was sie hier wollte.

Und dennoch, das Gefühl, nach dem sie sich sehnte, blieb aus. Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Familie zu haben. So fühlte es sich nicht an. Es gab viel zu viele Menschen und keiner davon wusste, aus welcher Familie sie stammte. Sie war immer noch eine Fremde in einer wahnsinnigen Welt.

Jedes Mal, wenn die Eindrücke sie zu überwältigen drohten, konzentrierte sie sich auf etwas, das sie kannte: auf den Einkaufszettel, den sie in der Hand hielt; das Gefühl von Papier, fast genauso wie zu Hause; winterkahle Bäume in Gärtchen in einer hektischen Stadt. Oder Dinge, die neu waren, ihr aber gefielen. Das Geräusch von Stiefeln auf pappigem Schnee. Stiefel waren eine gute Sache. Sie gingen nicht kaputt, wurden nie nass. Sie hatte ein Paar gelbe, die sie von Pater Brody bekommen hatte.

Gelbe Stiefel. Was für eine Welt.

Sie holte tief Luft und ging in das Geschäft. Das Licht stach in den Augen. Menschen hatten unfassbar viel Licht. Laternen entlang der Straßen, in den Fenstern. Sie waren umgeben von Feuer ohne Flammen.

Sie ging zum Tresen und lächelte so breit wie möglich die Frau an, die ihr beim letzten Mal geholfen hatte. Es war wichtig, fröhlich und zufrieden auszusehen. Und es war wichtig, etwas nicht zu sehr zu wollen. Nichts konnte Türen so erfolgreich schließen wie Verzweiflung.

Die Frau erwiderte das Lächeln. Sie war füllig und trug einen engen Gürtel um den Bauch, durch den sie wie eine Sanduhr aussah. Hirka hatte den Einkaufszettel auswendig gelernt, ihn zur Sicherheit aber mitgenommen. Die Frau war ihr behilflich, Kaffee, Kekse, Klopapier und andere Dinge zu finden, die sie in der Kirche brauchten. Grauenvollen Tee. Hirka hatte ihn probiert und hätte ihn nicht einmal ihrem ärgsten Feind vorgesetzt. Wurde alles so, ohne die Gabe?

Die Frau legte die Quittung in ein Buch und Hirka durfte die Waren mit nach draußen nehmen. Jetzt war es dunkler und Wind war aufgekommen. Schnee häufelte sich auf die Straßenlaternen. Sie zog die Kapuze des Regenponchos über. Es war eine Art Umhang, nicht besonders warm, aber er wog überhaupt nichts und man wurde nie nass. Und sie konnte ihn so klein zusammenrollen, dass er Platz im Mund gehabt hätte. Sie hatte es ausprobiert, nur um zu sehen, ob es ging. Zu Hause hätte ihr das niemand geglaubt.

Sie blieb plötzlich stehen. Im Café direkt vor ihr saß eine bekannte Gestalt. Sie drückte sich an die Wand und spähte durchs Fenster. Der Mann im Café hatte sie nicht gesehen. Das war derselbe Mann, der auf der Bank bei der Kirche gesessen hatte. In Lederjacke und grauem Pullover mit Kapuze. Er saß mit dem Rücken zu ihr.

Hirka schlich um die Ecke und stellte sich an ein anderes Fenster. Jetzt konnte sie ihn besser sehen. Er hielt eine Tasse in der einen und ein Telefon in der anderen Hand. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Bürstenhaarschnitt und Dreitagebart. Er saß auf einem hohen Hocker und wippte mit dem Fuß.

Sie stellte den Beutel auf dem Boden ab und beugte sich weiter vor. Von ihrem Atem beschlug die Scheibe.

Er drehte sich um und guckte sie direkt an. Hirka schnellte vom Fenster zurück. Sie bekam heiße Wangen. Kurz überlegte sie, ob sie winken oder weglaufen sollte. Sie lief weg.

Ihre Stiefel klatschten im Schneematsch, im Takt mit ihrem Herzschlag. War er der Einzige? Hatte sie nicht auch schon andere gesehen? Leute, die sie auf der Straße heimlich anstarrten? Leute, die sich an der Kirche herumtrieben, aber nicht hineingingen? Fiel sie wirklich so sehr auf, dass das ein Grund war, sie anzuglotzen?

Sie entdeckte plötzlich den Kirchturm und ihr fiel der Einkaufsbeutel wieder ein. Der war noch vor dem Café. Sie blieb stehen und erinnerte sich, dass ihr so etwas früher schon einmal passiert war.

Die Erinnerung kam. Vater im Rollstuhl. Die Hütte. Hirka hatte auf der Treppe gestanden und den Korb mit den Kräutern an der Alldjup-Schlucht vergessen. Bei der abgestürzten Tanne, von der Rime sie gerettet hatte.

Eine Kerbe für mich, wenn ich dich heraufziehe.

Die Bilder waren so lebendig, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie schluckte. Das war in einem anderen Leben. In einer anderen Zeit. In der Welt, die sie nie wiedersehen würde.

Sie machte kehrt und ging zurück zum Café, vermied, andere anzusehen, starrte auf die gelben Stiefel hinunter, für den Fall, dass sie ihm über den Weg laufen sollte. Dem Mann mit dem Kapuzenpullover.

Der Einkaufsbeutel samt Inhalt stand da, wo sie ihn abgestellt hatte, gleich vor dem Fenster. Eine dünne Schneeschicht hatte sich daraufgelegt. Hirka linste ins Café. Er war nicht mehr da. Zum Glück. Erleichtert nahm sie den Beutel und machte sich auf den Weg zurück zur Kirche.

Plötzlich packte sie jemand, zog sie mit gewaltiger Kraft rückwärts, in eine dunkle Gasse zwischen zwei Häusern. Sie wollte schreien, doch der Schrei wurde von einer Hand auf ihrem Mund erstickt. Sie wurde an die Wand gedrückt, neben einem Müllcontainer. Seine Hand schmeckte nach Tabak. Hirka war wie gelähmt. Kalt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals und sie rang nach Luft. Der Beutel glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Kekse und Äpfel rollten in den Schneematsch. Der Mann aus dem Café starrte sie wie ein wildes Tier an. Er sagte etwas, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Hirka trat nach ihm. Er schob seine Hand zu ihrem Hals hinab und drückte zu, bis sie aufhörte, sich zu wehren. Das half. Sie durfte wieder atmen.

Sie warf einen Blick auf die Straße. Sie standen in einer Nische in der Wand, soweit sie das in ihrer Lage feststellen konnte. Leute gingen vorbei. Sie sahen nicht hin, konnten nicht helfen. Hirka beugte sich vor und schrie. Der Griff um ihren Hals wurde wieder fester. Eine Frau im Pelzmantel warf ihnen einen Blick zu und hatte es eilig weiterzukommen. Als habe sie nichts gesehen. Aber das hatte sie. Hirka wusste, dass sie sie gesehen hatte. Dennoch ging sie weiter. Das Gefühl der Hoffnung verfinsterte sich zu Verzweiflung.

Der Mann zog etwas aus seinem Gürtel und presste es ihr an die Schläfe. Etwas Kaltes. Aber es war kein Messer, das war das Wichtigste. Sie war etwas erleichtert. Er knurrte wieder Worte. Es klang wie eine Frage, aber er sprach viel zu schnell, als dass sie ihn hätte verstehen können.

Hirka schluckte, spürte, wie ihre Halsmuskeln gegen seine Umklammerung kämpften. »Ich versteh nicht … Ich spreche schlecht.«

Er wirkte plötzlich verunsichert. Ihr fiel eine Narbe auf, die seine Lippe auf einer Seite etwas nach oben zog. Er ließ ihren Hals los und drückte ihr seinen Daumen auf die Lippen.

»Nein!« Hirka warf den Kopf zur Seite, aber er drehte ihn wieder zurück. Er war stark. Er schob ihre Oberlippe mit dem Daumen hoch, starrte auf ihre Zähne. Er sah jetzt weniger bedrohlich, eher verwirrt aus. Das war so seltsam, dass Hirka kurz ihre Angst vergaß. Sie kam sich wie ein Pferd auf dem Viehmarkt vor.

Sie schob die Hand in die Tasche und umklammerte die Blutsteine. Die durfte sie nicht verlieren. Dann hätte sie nichts mehr. Nichts, was sich zu Geld machen ließe. Nichts von Wert.

Die Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit. Er riss ihr die Hand wieder aus der Tasche. Hirka versuchte, eine Faust um die Steine zu machen, aber er hatte sie sich schon geschnappt. Er nahm sich nicht die Zeit, sie zu studieren, sondern steckte sie sich selbst ein. Blickte sich um, als sei er am falschen Ort.

Dann ließ er Hirka los, ging rückwärts. Dabei trat er aus Versehen auf eine Kekspackung und zuckte zusammen, als sie unter seinem Fuß zerdrückt wurde.

»Das macht nichts!«, sagte sie eilig. »Wir haben noch mehr.«

Er sah sie an, die Stirn gerunzelt, zog sich in die dunkle Gasse zurück, kehrte ihr dann den Rücken zu und verschwand draußen auf der anderen Straßenseite.

Hirka blieb gegen die Wand gelehnt stehen und atmete. Die Angst steckte ihr noch immer kalt in den Knochen, wollte nicht nachlassen. Sie erinnerte sich. An die Kerkerschächte in Eisvaldr. An den Mann, der sie mit Gewalt nehmen wollte. Damals bestand kein Zweifel, worauf er aus war. Jetzt hatte sie nicht den geringsten Schimmer, was ablief. Das war schlimmer. Sie wusste nichts. Und in einer ganz neuen Welt war alles möglich. Absolut alles.

Sie rutschte an der Wand hinab, sank auf den nassen Asphalt. Die Kekspackung lag vor ihr. An einem Ende platt getrampelt. Der Geruch von saurer Milch sickerte aus dem Container zu ihr hinunter. Sie wollte nach Hause, wollte einfach nur nach Hause. Nach Ymsland, nach Elveroa, zu Vater.

Vater ist tot. Die Hütte ist abgebrannt. Es ist vorbei.

Warum war sie hergekommen? Sie gehörte hier nicht her. Sie hasste diesen Ort. Hasste ihn. Das Licht. Die Gerüche. Die Geräusche. Den vielen Lärm. Und trotzdem war alles tot.

Ein Ort ohne Gabe. Eine kalte Welt voll fürchterlichem Leben.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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