Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 22

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Umpiri

Lass ihn bitte in Sicherheit sein. Lass ihn in Sicherheit sein.

Hirka war den ganzen Weg vom Hotel gerannt. Die Frau hinter dem Tresen hatte nur gewinkt, als sie vorbeigesaust war. Ohne Fragen zu stellen. Ohne sie zu verfolgen. Aber Hirka rannte trotzdem.

Es wurde langsam dunkel. Sie war mehrmals im Schnee stecken geblieben, hatte die Stiefel herausziehen müssen und jetzt waren sie voller Schmelzwasser, aber sie konnte nicht stehen bleiben. Und sie konnte auch nicht auf direktem Weg zum Gewächshaus laufen. Zuerst musste sie sich vergewissern, dass ihr niemand gefolgt war.

Sie durchquerte den Park, wo der Schnee unberührt lag. Folgte dem Verlauf der Straßen in einem Kreis, sodass sie wieder beim Ausgangspunkt ankam. An der Ecke desselben Parks. Ihre eigenen Spuren waren die einzigen, die sie entdecken konnte. Gut. Dann war Stefan nicht hinterhergekommen. Auch niemand anders.

Sie lief auf kürzestem Weg zum Gewächshaus. Sie hatte keine Zeit, am Fluss entlangzurennen, also kletterte sie über den Zaun und sprang auf der anderen Seite hinab. Der Schnee um das Gewächshaus lag nach wie vor unberührt da, zum Glück. Er war nicht weggegangen. Und niemand hatte ihn gefunden. Aber das würde nicht lange auf sich warten lassen. Sie mussten sich vor Sonnenaufgang einen anderen Unterschlupf suchen.

Hirka schlich ins Gewächshaus, vorsichtig zwischen all den Pflanzen hindurch bis zur Abseite in der hintersten Ecke. Er war nicht da. Das Rabenblut auf den Steinplatten war getrocknet, aber dort lag kein Totgeborener. Ihr war übel. Sie hob die Säcke mit Pflanzenerde hoch, als würde er plötzlich darunter auftauchen. Sie schaute sich um, mit einem Mal sicher, dass er dort irgendwo war. Sie blickte nach oben.

Und da saß er. Wie ein Vogel, auf einem Balken unter dem Dach. Die Knie ragten zu je einer Seite und er hielt die Arme vor sich. Er legte den Kopf schräg. Blinzelte aus weißen Augen. Hirka setzte den Beutel ab.

»Ich sehe, dass es dir besser geht«, stellte sie trocken fest, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie kam sich blöd vor, weil sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte.

Er streckte die Füße zum Dach, bis er auf den Händen dort auf dem Balken stand. An seinem Körper war kein Gramm Fett zu viel und sie konnte jeden einzelnen Muskel arbeiten sehen. Bei einigen war sie sich sicher, dass sie sie noch nie gesehen hatte. Weder bei Ymlingen noch bei Menschen. Die dünnen, die die Wirbelsäule entlangliefen, und die Wölbungen um die Schulterblätter … Er schwang sich herum. Langsam, wie um zu zeigen, was er konnte. Dann sprang er geschmeidig auf den Boden und lächelte sie an.

Sie machte einen Schritt zurück. Er stand unheimlich dicht vor ihr. Und es gab an ihm nichts Schwaches mehr. Er war mehr Nábyrn, als sie in Erinnerung hatte.

Sie öffnete den Beutel und gab ihm den Apfel und die Kekse. »So kannst du hier nicht rumlaufen«, sagte sie und nickte zu seinem Schritt. »Normale Leute laufen nicht nackt rum.« Es tat gut, wieder ihre eigene Sprache zu sprechen, obwohl sie nicht wusste, wie viel er verstand. Er nahm das Essen und sie zog schnell die Hand zurück. Seine Krallen waren eklig und sie erinnerte sich daran, wie er ihre Hand festgehalten hatte.

Er umkreiste sie ein paarmal. Einen Augenblick erwog sie, wegzulaufen, aber dann setzte er sich auf die Säcke mit der Erde und bohrte die Krallen in den Apfel. Die Schale begann zu schrumpeln, sich zusammenzuziehen, zu verfaulen, während sie zuschaute. Hirka blieb der Mund offen stehen.

»Du isst mit den Krallen …«, flüsterte sie und schloss den Mund wieder, damit sie nicht wie ein Schwachkopf aussah.

»Das würdest du auch tun, wenn dir die Entwicklung größere Gnade erwiesen hätte.«

Hirka schlug ihre Hand auf den Mund und wich zurück. Seine Stimme war tief und rau. Aber er sprach feineres Ymsländisch als sie.

»Siehst du?«, fragte er. »Von genau diesen Dingen spreche ich. Überhaupt keine Körperbeherrschung. Es grenzt an ein Wunder, dass du überhaupt am Leben bist.« Er schüttelte den Apfelrest von den Krallen. »Hast du noch etwas Nahrhafteres als das?«

Langsam dämmerte ihr, dass ihr weder Dank noch Lob winkten. Nicht, dass sie dergleichen erwartet hätte. Sie hatte nicht einmal damit gerechnet, sich mit ihm unterhalten zu können. Sie war darauf vorbereitet gewesen, um ihr Leben zu rennen.

Sie ging zu ihm. Es war kaum vorstellbar, dass es ihn gab. »Du bist einer von den Blinden. Nábyrn.«

Etwas in seinen Augen regte sich wieder. Er stand auf. Beugte sich mit gebleckten Reißzähnen über sie. Sein langes Haar streifte ihr Gesicht. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Furcht und Faszination hielten sie gefangen.

Er fauchte: »Totgeboren? Du nennst mich totgeboren? Ich bin Naiell. Ich bin Dreyri. Ich bin Umpiri, in mir fließt das Blut der Ersten. Ich lebe seit drei Mal tausend Jahren. Ihr seid in Massen geboren worden von Müttern, die im Sterben liegen, noch bevor ihr aus ihnen rauskommt, und ihr nennt uns Totgeborene? Morgen seid ihr alle weg. Was seid ihr, wenn nicht Leichen?«

Hirka fiel hintenüber und blieb auf den Steinplatten sitzen. »Dreitausend …«

Er richtete sich auf und schaute seine Krallen an. »Die Welt sieht plötzlich etwas anders aus, habe ich recht? Und was das Sehen betrifft, kann ich dir versichern, dass ich besser sehe, als du es je getan hast oder tun wirst. Ihr seid die Blinden, die ihr nicht seht, dass wir sehen.«

»Dreitausend Jahre …« Sie starrte ihn an. Das war nicht möglich.

Er breitete die Arme aus, wie um alles zu bestätigen, was er gesagt hatte. Oder vielleicht, damit sie ihn ausgiebig anstarren konnte. Das war auch das Einzige, wozu sie in der Lage war. Starren. Ihre Atemzüge blieben irgendwo in der Brust stecken, als habe sie einen Schlag bekommen. So viel Tod. Jay. Ihre kleine Schwester, die nur ein paar Jahre hatte leben dürfen. Sie waren jetzt nicht mehr. Und hier stand er und behauptete … Dreitausend …

Sie hatte über ihre Gedanken gelacht, wer er sein könnte. Der Blinde in Gestalt eines Raben. Aber genau das war er. Er war der, für den sie ihn gehalten hatte. Für den Raben, der nicht sterben konnte, und der stand jetzt hier vor ihr.

Und das ihr, die sie nach Ravnhov geflohen war, sich in Mannfalla versteckt hatte, alles, um dem Raben, dem Seher zu entkommen. Und dann war er die ganze Zeit da gewesen! Sie hatte ihn mit Honigbrot gefüttert. Sie hatte … Sie hatte ihn verleugnet.

Plötzlich schämte sie sich.

»Wir glaubten nicht … Wir haben gesagt, dass es dich nicht gibt! Du warst nicht dort! Warum warst du nicht dort? Den Seher gibt es nicht!«

Er ging vor ihr in die Hocke und legte den Kopf schräg.

»Schau noch einmal hin!«

Hirka wusste, dass ihr der Mund offen stand. Sie hob die Hand, um ihn zu berühren, zog sie aber wieder zurück an die eigene Brust. Ihr Herz schlug heftig. Erwartungsvoll. Sie musste etwas tun. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Das hier veränderte alles.

Rime! Ich muss mit Rime sprechen!

Nach allem, was sie gemacht hatten, nach allem, was geschehen war … Und da saß sie hier, in der Welt der Menschen, mit Ymslands Geschichte vor sich. Mit dem, was eine Lüge sein sollte. Die Bilder wirbelten rasch an ihrem inneren Auge vorbei: das Ritual, die Zeichen auf den Kleidern des Rates, die Skulpturen, die Mythen, alles.

Er stand auf und redete mit seiner heiseren Stimme weiter. »Das Problem ist natürlich, dass ich nicht der Einzige bin. Die Rabenringe haben tausend Jahre lang geschlafen und dann kommst du, kleine Sulni, und alles verändert sich. Umpiri sind wieder nach Ymsland gekommen und das ist eine Situation, die wir uns nicht gewünscht haben. Und du kannst durch die Steine gehen, als kennten sie dich. Nicht gerade ein gutes Zeichen, können wir uns wohl zu sagen gestatten. Die Frage ist doch, warum du hier bist und was du zu tun gedenkst«, sagte er und es gelang ihm, es vollkommen anders als eine Frage klingen zu lassen.

»Was? Ich …« Hirka suchte nach einer Antwort. Nach einem Sinn. Seine Ausdrucksweise war etwas seltsam, aber sie verstand jedes Wort. Glaubte er etwa, sie hätte es sich ausgesucht, dass sie hier war? Sie war Kuro gefolgt, als sie durch den Steinkreis gegangen war. Zu einem unbestimmten Ort, von dem sie gehofft hatte, dass er ein Zuhause sein würde. Denn die Raben wissen so was.

»Ich bin dir gefolgt«, antwortete sie.

»Hmm. Ja. Leute haben die Neigung, das zu tun, nicht wahr?« Er lächelte. Seine Eckzähne kamen zum Vorschein. Hirka musste den Drang bekämpfen, die Hände an ihren Hals zu heben.

»Du bist hier, Sulni, weil jemand da draußen will, dass du hier sein sollst. Du bist eine Steinwanderin, geschaffen, um Türen aufzubrechen, die nie hätten geöffnet werden sollen. Ist das ein Freund von dir?«

»Was? Wer denn?«

»Der da draußen rumschleicht.«

Stefan!

Hirka stand auf. Es kostete sie einige Mühe, nicht wieder hinzufallen. Was sollte sie machen? Was sollte sie sagen? Stefan würde es nie verstehen. Und der Blinde … Er würde … Sie schaute ihn an.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob er ein Freund ist. Vielleicht. Was sollen wir machen?«

»Wir können ihn töten oder ihn reinbitten. Was hältst du für das Beste, Sulni?«

»Ich glaube … Ich heiße nicht Sulni. Mein Name ist Hirka.«

»Ich bin Naiell. Ich weiß, wer du bist. Sollen wir ihn hereinbitten, was meinst du?« Er sah amüsiert aus, lachte aber nicht.

Naiell. Der Seher heißt Naiell.

Von dem Namen bekam sie eine Gänsehaut. Er war fremd und vertraut zugleich. Als habe sie ihn schon einmal gehört, obwohl sie wusste, dass sie ihn noch nicht gehört hatte. Hirka ging zwischen den Pflanzen hindurch zur Tür. Sie öffnete sie, sah aber niemanden da draußen.

»Stefan?«

Er stand plötzlich vor ihr, mit geröteten Wangen.

»Er sagt, ich soll dich reinbitten.«

»Er?«

Hirka ging zurück und hörte, dass Stefan ihr folgte. »Nur eine kleine Warnung«, flüsterte sie. »Er ist nackt. Und ziemlich … von oben herab.«

Stefan folgte ihr zwischen den Pflanzen hindurch. Zu Naiell. Er zog gleich die Pistole, als er ihn sah. Hirka rief, aber es war zu spät. Naiell war schon über ihm. Hirka hörte, wie etwas knackte, und die Waffe fiel zu Boden. Stefan schrie. Er sank an der Wand zusammen und hielt sich den Ellenbogen. Sie lief zu ihm. Sie wollte ihm helfen, aber er ließ sie nicht in seine Nähe.

Stefan starrte sie nur an. Genauso verwirrt wie enttäuscht. »Ich habe das Schlimmste verschwiegen, um dich zu schonen, oder? Ich dachte, du müsstest das nicht wissen, und dann … Fuck! Wenn ich gewusst hätte …«

Er starrte Naiell an. »Die Pest geht da draußen um. Sie ist ein Mann. Er kann Leute an sich binden. Töten und heilen zugleich. Ich jage ihn seit fünfzehn Scheißjahren und oft zweifele ich, dass er wirklich existiert. Aber du bist es, oder? Du bist die Quelle.«

Stefan warf einen Blick auf die Pistole auf dem Boden. Hirka hob sie auf, damit er keine Dummheit anstellen konnte. »Du hast mein Wort, dass er nicht der ist, den du jagst«, sagte sie. »Naiell ist mit mir hergekommen. Das ist noch nicht mal ein Jahr her. Wir sind beide Fremde hier.«

»Naiell?« Stefan wiederholte den Namen, als sei es erstaunlich, dass er einen hatte. Hirka kannte das Gefühl.

»Das ist egal«, sagte Stefan. »Weiß der Henker, was die sind, aber die sind ein und dasselbe. Alle beide.« Er versuchte, den Ellenbogen zu beugen. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.

Naiell sah sie an. »Was sagt er?«

Sie begriff, dass Naiell nicht ein Wort des Gesprächs verstanden hatte. Dadurch kam bei ihr das angenehme Gefühl auf, Oberwasser zu haben. Sie übersetzte ins Ymsländische, was Stefan gesagt hatte.

Naiell fauchte wütend. »Der Emblaspross irrt sich. Wir sind überhaupt nicht ein und dasselbe.«

Hirka übersetzte es Stefan. »Er sagt, dass sie überhaupt nicht ein und dasselbe sind, er und der, den du jagst.«

»Und woher zum Henker will er das wissen, wenn er gerade erst hergekommen ist?«

Hirka schaute wieder Naiell an. »Woher weißt du das?«

Naiell bleckte die Zähne. »Sí wai umkhadari dósal.«

Hirka und Stefan schauten einander an. Die Worte gehörten zu einer Sprache, die keiner von ihnen verstand. Naiell sah Hirka an und wiederholte auf Ymsländisch:

»Er ist mein Bruder.«

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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