Читать книгу Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - Страница 7

Wikinger

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»Norwegen?«

»Nein.«

»Finnland?«

»Das hast du schon mal geraten. Nein.«

»Island! Island muss es sein! Du hast diesen Laut … wie die Wikinger, das Th im Englischen.« Jay steckte die Zungenspitze etwas aus dem Mund.

»Wikinger kenne ich nicht«, sagte Hirka und drückte dem Mädchen auf eine Stelle ihrer Schulter, worauf es zusammensackte.

»Aua, aua, aua! Nein, nicht aufhören! Wikinger? Du hast noch nie was von den Wikingern gehört?«

Hirka massierte ihr weiter die Schultern, ohne zu antworten.

»Die Nordmänner, die vor tausend Jahren gelebt haben? Schiffe? Plünderung? Berserker?«

Das Wort Berserker kam ihr bekannt vor, aber Hirka sagte nichts. Worte klangen häufig vertraut, ohne dass sie etwas bedeuteten. Sie hatte es aufgegeben, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Das war fast immer eine falsche Fährte und machte sie nur traurig. Außerdem hatte sie gelernt, nie ehrlich zu sein. Nie zu sagen, dass sie durch die Steine gekommen war. Oder zu versuchen, Tee aus einer anderen Welt an Leute im Café zu verkaufen. Tat man es, rief der Besitzer die Polizei, und der einzige Ausweg war dann der durchs Fenster auf der Toilette.

»Kannst du die da rausmachen?« Hirka zupfte an Jays Ohrstöpseln. Die hatte sie immer drin. Jay sah aus, als würden ihr dünne Rinnsale aus Milch aus den Ohren laufen. Jay zog sie heraus, aber sie blieben an einer Klammer auf ihrer Brust hängen.

»Du musst aufhören zu … Wie heißt das noch? Hängen. Den Rücken hängen zu lassen«, erklärte Hirka.

»Ich weiß. Ich gehe krumm. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie sagt, man musste den Kopf einziehen, da, woher wir kommen. Man musste das, um zu überleben.«

»Überleben?«

»Überleben. Existieren. Klarkommen. Weißt du? Nicht sterben?«

Hirka nickte. Das Wort hatte sie schon einmal gehört, es aber wieder vergessen.

Jay streckte sich wie eine Katze. Dann holte sie das Handy aus einer Hülle, die an einem glitzernden Band um ihren Hals hing. »Was wollen wir suchen?«

»Ein anderes Mal«, antwortete Hirka und warf einen Blick auf die Stapel mit schmutzigen Gläsern und Tellern. »Wir müssen aufräumen und zumachen.«

»Nein, nein, eine Abmachung ist eine Abmachung. Du hilfst mir, ich helfe dir. Was soll ich suchen?«

»Guck mal nach, ob du eine mit gelben Glockenkelchen findest. Die hat fast keine Blätter«, sagte Hirka. Sie wusch Kuchenreste von einem Teller und stellte ihn in die Spülmaschine.

»Okay, gelbe Glockenkelche.« Jay drückte auf dem Handy herum. Ihr dunkles Haar hing ihr ins Gesicht. Das machte es immer, wenn die Haarklammern verrutscht waren. Vor allem, wenn es hektisch zugegangen war. Draußen brach Jubel aus. Hirka schaute aus dem Fenster. Das Paar hatte sich mit feuchten Augen und rosigen Wangen auf die Kirchentreppe gestellt, umgeben von Familie und Freunden, die Fotos machten. Die Fotos würden in den Telefonen gespeichert sein. Augenblicke, eingefrorene Zeit.

Hirka hätte viel dafür gegeben, wenn sie gespeicherte Bilder aus Ymsland hätte.

Sie fühlte, wie die Trauer ihr Herz umschloss, und beeilte sich, das letzte schmutzige Geschirr in die Maschine zu räumen. Es war sinnlos, an Dinge oder Leute zu denken, die sie sowieso nie wiedersehen würde.

Für den letzten Teller war gerade noch Platz in dem Geschirrspüler. Sie schloss die Tür und drückte ein paar Mal auf den Knopf. Sie bekam bessere Laune, wenn sie sah, wie das Lämpchen aus- und anging.

»Hier«, sagte Jay und hielt Hirka das Display hin. »Pflanzen mit gelber, glockenartiger Blüte. Nach welcher suchst du?«

Hirka schaute sich die Bildchen an. Einige hatten Ähnlichkeit, aber keins zeigte die Goldschelle. Sie spürte, wie ihr die Enttäuschung einen Stich versetzte. Das überraschte sie. Sie dachte, sie hätte die Hoffnung schon aufgegeben.

»Eine davon muss es doch sein«, meinte Jay. »Ich habe alle Pflanzen mit gelbem, glockenartigem Blütenkelch gegoogelt und ich bin ziemlich gut im Suchen und so. Du solltest das auch mal lernen, Hirka. Ich kenne keinen, der noch nie ein Telefon benutzt hat.«

»Ich werde nie eins brauchen«, antwortete Hirka, sich schmerzlich im Klaren darüber, dass sie niemanden hatte, den sie hätte anrufen können.

»Ui, du bist schon mit allem fertig!« Jay stand auf und strich die Schürze glatt. »Dann brauchen wir nur noch abzuschließen und zu gehen. Du bist echt effektiv.«

Hirka lächelte. Das war in der Regel das Sicherste, was sie tun konnte, wenn sie den Sinn der Sätze nicht ganz begriff. »Wir müssen warten, bis sie weg sind, Jay. Wir gehören nicht dazu.«

Sie warf einen Blick auf die Menschenmenge draußen. Frauen und Männer mit vor Glück feuchten Augen und in blank polierten Schuhen. Sie füllten den Platz zwischen Café und Kirche.

Das Café war ein merkwürdiger Ausleger des Kirchengebäudes. Ein Winkel in einem ganz anderen Stil. Ein neuer Flügel, mit Platz für die, die ihn am meisten brauchten. Wie sie ihn selbst gebraucht hatte. Es war ein Ort, an dem Heimatlose sich ein oder zwei Nächte ausschlafen konnten. Wo Arme etwas zu essen bekamen, ohne zu bezahlen. Es gab auch einen Raum, in dem sie Kranken halfen, Hirka hatte ein paarmal dort vorbeigeschaut, doch es war keine einzige Pflanze zu sehen gewesen.

»Wir können die hier sortieren, während wir warten«, schlug Hirka vor und schüttete einen Sack mit Kleidern auf dem Tisch aus. Sie rochen nach Staub und Schweiß, sahen aber schön aus. Am Anfang hatte es sie überwältigt zu sehen, was Leute bereit waren wegzugeben, doch dann hatte Jay gesagt, es sei Abfall. Sachen, die sowieso niemand mehr haben wollte. Das war schwer zu glauben.

Hirka legte einen Pullover auf den Haufen mit Sachen, die ausgebessert werden mussten.

»Vergiss es«, lachte Jay. »Du bist geschickt, aber das schaffst noch nicht mal du zu reparieren.«

»Der hat weniger Löcher als der, den du anhast.«

Jay schaute auf ihren eigenen Pullover hinab. »Hallo, das ist was ganz anderes! Der hat absichtlich Löcher. Weil das cool ist, klar?«

»Dann können wir ja mehr Löcher in den hier schneiden, dann wird der auch cool.«

Jay guckte sie an, die eine Augenbraue hochgezogen. Ihre Augen rahmte schwarze Schminke ein. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht ganz von dieser Welt, oder? Igitt, was ist das denn?«

Hirka hielt Jays Hand fest. »Halt!«

Sie nahm Jay das Hemd weg. Es hatte einen blutigen Riss im Ärmel. Sie faltete es zusammen und legte es auf den Wegwerfhaufen. »Blut kann ansteckend sein«, erklärte sie Jay. »Das dürfen wir nicht anfassen.«

»Oh nee, du ahnst gar nicht, wie ich diese Arbeit hasse!«

Hirka lächelte. »So sehr, dass du beinahe jeden Tag herkommst?«

»Nur weil meine Mutter mich dazu zwingt! Sie braucht eine Entschuldigung, um selbst herzukommen und Pater Brody anzuglotzen. Das ist so total peinlich, das glaubst du gar nicht. Ein Pater, hallo? Er darf noch nicht mal heiraten und sie flippt aus, wenn er sie mal zwei Minuten nicht beachtet. Was glaubst du wohl, warum sie so sauer auf dich ist? Weil du die ganze Zeit hier wohnst, klar, oder?« Jay beugte sich vor zu Hirka. »Sie sagt, du darfst gar nicht hier sein, dass er dich der Kinderfürsorge oder so was übergeben müsste.«

Hirka zuckte mit den Schultern. Es war kein Wunder, dass Jays Mutter sich Pater Brody verbunden fühlte. Dilipa hatte vor vielen Jahren selbst in der Kirche gewohnt, in einem Raum im Keller. Jay war damals gerade geboren gewesen. Jetzt war sie genauso alt wie Hirka und hatte eine kleine Schwester von fünf Jahren. Sie hatten Angst gehabt, dass man sie in die Heimat zurückschicken würde, ohne dass Hirka wusste, wo das war oder wovor sie geflüchtet waren. Aber sie wusste, dass jetzt alles in Ordnung war.

Wohin hätten sie mich geschickt, wenn sie wüssten, wer ich bin? Wo ist zu Hause?

»Das hält nicht lange«, sagte Jay und schnitt dem Paar auf der Treppe eine Grimasse.

»Meinst du nicht?«

»Nee. Sieh ihn dir doch an. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter. Sie wollte bestimmt nur das Brautkleid haben. Und das Geld. Sobald er fünfzig ist, wird es ihr dämmern, dass er alt ist.« Jay warf die Schürze auf einen Stuhl. »Jetzt gehen sie. Ich haue ab. Bis morgen, Hirka.«

Sie verschwand nach draußen, während sie sich die Stöpsel wieder in die Ohren steckte und zu der Musik zu nicken anfing, von der Hirka wusste, dass niemand anders sie hören konnte. Gespeicherte Töne. Genau wie die Bilder.

Hirka wischte die Tische ab und hängte ihre eigene und Jays Schürze an einen Haken. Sie schloss die Tür ab und nahm den Hintereingang in die Kirche. Sie hatte viel Ähnlichkeit mit einer Seherhalle. Ein Steingebäude, erschaffen, um zu beeindrucken.

Pater Brody war schon gegangen. Hirka lief allein durch die Bankreihen. Umgeben von hohen Fenstern mit bunten Motiven. Bildern aus Geschichten, die sie nicht kannte. Von Göttern und Menschen. Ein Ymling war nirgendwo zu sehen. Keine Schwänze und keine Totgeborenen.

Einhundertvierundfünfzig Tage. Seit Ymsland. Seit Mannfalla.

Seit Rime.

Sie ging hinter den Altar und öffnete die Tür zum Glockenturm, stieg die Treppe hinauf, bis sie ganz oben war. Hier durfte sie wohnen, obwohl es kein Raum für Leute war. Der Pater hatte gesagt, es sehe hier aus wie auf einer Baustelle, ohne Heizung und Licht. Hirka vermisste nichts davon. Er hatte versucht, sie in dem Raum im Keller unterzubringen, wo Jay mit ihrer Mutter einmal gewohnt hatte. Aber der Keller erinnerte sie an die Schächte in Eisvaldr. Sie musste nach oben. Ganz nach oben. Klettern, bis nichts und niemand sie mehr erreichen konnte. Also war sie jeden Abend hier hochgegangen, bis Pater Brody nachgegeben hatte. Den dicksten Staub hatte sie weggefegt. Und den Fledermausdreck. Jetzt war es gut. Solange sie nicht dort oben war, wenn die Glocken läuteten.

Hirka schaute sich in dem um, was ihr Zuhause in der neuen Welt war. Die Treppe nahm den meisten Platz ein. Sie konnte die Glocken in dem Stockwerk darüber sehen, wenn sie nach oben schaute. Eigentlich war es dasselbe Stockwerk, aber jemand hatte einen zusätzlichen Holzboden eingezogen. Der sollte bestimmt nur vorübergehend dort sein oder bei Restaurierungen als Standfläche benutzt werden, war aber liegen geblieben.

Zwischen Treppe und Wand hatte sie eine Matratze eingeklemmt. Und ein Kissen mit einem unförmigen Schwan, gestickt von jemandem, der wahrscheinlich noch nie einen Schwan gesehen hatte. Sie besaß eine Tasse, die nur halb war, mit dem Aufdruck »Du hast gesagt: Nur eine halbe Tasse«. Lustig, als man ihr den Witz erklärt hatte. Eine schmale Kommode mit drei Schubladen. Die unterste hatte sich verkeilt, darum wohnte Kuro jetzt dort drinnen. Sie hatte auch einen Ofen, den Pater Brody angeschleppt hatte. Die Wärme kam aus kleinen Löchern unten in der Wand und lief durch eine lange Leitung ganz bis nach hier oben. Hirka hatte sie mehrmals an- und ausgeschaltet und jetzt funktionierte sie nicht mehr. Aber das machte nichts. Sie fror nicht. Sie hatte schließlich mehrere Kerzen.

Sie hatte auch ein Buch von Jay, um die Sprache zu lernen. Hirka konnte gerade eben den Titel lesen. Bücher waren hier Allgemeineigentum. Der Überfluss an Dingen war nicht zu fassen. Aber hier gab es auch Leute ohne Zuhause. Und, noch schlimmer, solche wie sie. Leute ohne Nummer. Alle Menschen hatten eine. Ohne Nummer gab es einen nicht. Hirka hätte genauso gut ein Gespenst sein können.

Sie lehnte sich auf der tiefen Fensterbank an die Mauer. Gespenst oder nicht, sie hatte wenigstens ihr eigenes Fenster mit echtem Glas. Es lief oben spitz zu und hatte eine Lüftungsklappe, die fast immer offen stand.

Hirka strich mit der Hand über das kühle Glas. Glas war gut. Stein war gut. Das waren Werkstoffe, die sie verstand. Im Gegensatz zu so vielen anderen Dingen hier.

Sie blickte über York, wie die Leute die Stadt nannten. Die Kirche hieß St. Thomas und lag in der Nähe des Zentrums. Die Häuser standen dicht an dicht wie in Mannfalla. Der einzige kahle Fleck, den sie sah, lag direkt unter ihr. Es war der eklige Hof, wo die Steine aus dem Schnee ragten wie schlechte Zähne. Unter jedem Stein lag eine Leiche. Sie verbrannten hier die Leute nicht. Sie vergruben sie in der Erde und ließen sie dort liegen und verfaulen. Das war nicht richtig. Nur Mörder machten so was. Aber hier störte das niemanden.

Sie hatte gefragt, ob sie nie Leute an die Raben verfütterten, wenn sie tot waren, aber auch das war nur eine der vielen Fragen, die sie nie wieder stellen würde.

Was könnte sie nicht alles mit dem Garten machen, wenn sie den Platz nicht für ihre abartigen Rituale benutzen würden. Sie hätte Wurzelgemüse anbauen können und vielleicht Goldschelle, Sonnenträne und …

Solche Sachen, die es hier nicht gibt, von denen niemand hier gehört hat.

Niemand baute hier etwas an, noch nicht einmal das Essen, das sie brauchten.

Hirka stocherte in einem der Pflanztöpfe auf dem Fensterbrett. Pater Brody war mit ihr zum Gewächshaus bei der Schule gefahren und hatte ihr drei Pflänzchen gekauft. Sie wuchsen langsam, jedes in seinem Pappbecher. Welche Art Pflanzen es waren oder wogegen sie helfen sollten, wusste sie nicht. Alles musste sie wieder von Anfang an lernen. Wirklich alles.

Sie suchte mit den Augen nach etwas Sicherem, damit sie dort den Blick ruhen lassen konnte.

Weit unter sich sah sie einen Mann auf einer Bank. Er hatte genau an der Stelle den Schnee weggefegt, an der er saß, aber nicht auf dem anderen Teil der Bank. Er schaute zu ihr herauf, guckte aber gleich wieder weg. Tat, als habe er sie nicht gesehen. Er trug einen grauen Pullover mit Kapuze und eine Lederjacke. Sie hatte ihn früher schon einmal gesehen. Er war am Vortag vorbeigegangen. Da war sie sich sicher. Und sie hatte ihn in der Nähe des Supermarktes gesehen. Was wollte er? Warum war er hier? War er von der Polizei? Einer, der sie holen wollte, weil sie keine Nummer hatte?

Die Angst kam angeschlichen, eine Kälte im Bauch.

Er stand abrupt auf, ging über den Friedhof und verließ ihn durch die schmiedeeiserne Pforte. Sie starrte ihm nach, aber er war fort. Sie sah nur noch die Autos, die vorübersausten.

In dieser Welt gab es keine Stille. Wohin auch immer man ging, war man von Geräuschen umgeben. Ein ständiges Rauschen von Maschinen. So viel war fremd. So vieles musste man wissen. So vieles konnte sie falsch machen.

Hirka drückte die Hände so fest auf die Ohren, bis sie nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes hörte, das ihren Körper durchströmte. Schneller und immer schneller.

Sie konnte nicht tief einatmen. Ihr war schwindelig. Das Gefühl von Unwirklichkeit überflutete sie. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie riss sich die Kleider vom Leib, fummelte am Reißverschluss der Hose, konnte sie nicht schnell genug loswerden. Sie schüttete ihren Beutel aus. Alles verteilte sich auf dem Steinfußboden: alte Sachen, vertraute Sachen, ihre Sachen, Kräuter. Davon war nur noch viel zu wenig übrig. Das grüne Strickhemd, an den Bündchen leicht aufgeribbelt. Sie zog es an. Auch die Hose. Das Taschenmesser. Niemand hatte hier ein Messer bei sich. Das war nicht erlaubt.

Sie ließ sich auf die Matratze fallen und blieb sitzen, die Arme um sich geschlungen. Sie legte die Hand auf ihre Brust und tastete nach den Schmuckstücken: eine Muschel und ein Wolfszahn mit kleinen Kerben. Jede einzelne Kerbe stand für etwas Wirkliches. Für etwas, das geschehen war. Siege im Zweikampf zwischen ihr und Rime.

Rime …

Sie hatte sich an die plötzlichen Anfälle gewöhnt, hatte sich daran gewöhnt, davon überwältigt zu werden. Aber an die Sehnsucht würde sie sich nie gewöhnen, an das Loch in der Brust, das an ihr nagte, jeden Tag. Seit hundertvierundfünfzig Tagen.

Ymsland war in Sicherheit, das war der einzige Trost. In Sicherheit vor den Blinden, jetzt, da sie weg war. Jetzt, da die Fäulnis nicht mehr dort war.

Aber sie hatte die Erinnerungen, die Geschenke.

Ihr Herz schlug allmählich langsamer. Das Atmen fiel ihr leichter. Sie war Hirka. Sie war echt. Ihre Sachen waren echt. Sie gehörten nur nicht hierher.

Auch hierher nicht.

Sie schob die Hand in die Tasche, holte drei Blutsteine heraus. Ein Geschenk von Jarladin. Der Ratsherr hatte sie vor ihrer Abreise im Umhang versteckt. Sie hätten für ein ganzes Leben in Mannfalla gereicht. Was sie hier wert waren, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte keinen Ort gesehen, an dem man Steine kaufte und verkaufte. Es wollte sie auch kein Laden haben.

Dann war da das Buch von Hlosnian. Ein Geschenk, das den Steinflüsterer mehr gekostet haben musste, als sie sich vorstellen konnte. Rime hatte es ihr in der Nacht gegeben, als sie fortgegangen war.

Hirka hörte das Schlagen von Flügeln. Kuro landete auf dem Fenstersims und zwängte sich durch die Lüftungsklappe. Er segelte hinunter und legte sich in der Schublade zurecht. In letzter Zeit stimmte etwas nicht mit ihm. Er hüpfte so selten. Stattdessen ging er meistens. Sie hatte sogar gesehen, dass er umkippte. Er machte einfach einen niedergeschlagenen Eindruck. Vielleicht hatte der Rabe es auch schwer, so wie sie. Hatte es schwer, in dieser toten, gabenlosen Welt Nahrung zu finden.

Wenigstens hatten sie einander. Sie hätte die letzten Monate ohne ihn kaum überstanden.

Hirka legte Hlosnians Buch auf den Schoß. Es war schwer, in braunes Leder gebunden und mit Riemen versehen, mit denen sie es verschließen konnte. Sie hatte eine runde Scheibe auf dem Buchdeckel befestigt. Ein alter Kompass, hatte Pater Brody erklärt. Sie hatte ihn auf dem Friedhof gefunden. Die Nadel zeigte immer nach Norden und es half ihr, sie anzustarren, wenn die Welt sie schwindelig machte.

Hirka schlug das Buch auf. Sie war in Lesen und Schreiben nie gut gewesen, nur ein kleines Lot besser als Vater. Dennoch hatte sie viele Seiten mit unbeholfenen Worten und Zeichnungen gefüllt: eine Karte über die nähere Umgebung, Zeichnungen von Pflanzen, Bilder, die sie auf der Straße gefunden hatte, ein totes Blatt, Bonbonpapier, kleine Stofffetzen.

Am Anfang hatte sie alles gesammelt. Jede Kleinigkeit war neu und herzzerreißend schön. Sie hatte auch Dinge aufgeschrieben, die sie Rime erzählen wollte, aber das hatte mit jedem Tag mehr wehgetan und sie hatte es darum aufgegeben.

Doch neue Wörter schrieb sie weiterhin auf. Nach und nach hatte sie sich eine Aufteilung ausgedacht. Auf eigenen Seiten hielt sie Wörter für Dinge fest, die sie von früher kannte: Stuhl, Fenster, Brot, Regen. Auf anderen trug sie Wörter für Dinge ein, von denen sie nie geglaubt hätte, dass es sie gibt: Telefon, Schokolade, Asphalt, Sonnenbrille, Waschmaschine, Benzin.

Sie holte den Bleistift heraus und schrieb das neue Wort auf, das sie von Jay gelernt hatte. Wikinger: lebten vor tausend Jahren in Schiffen.

Sie schaute Kuro an. Er war in der Schublade eingeschlafen. Die Federn am Kopf vibrierten, wenn er atmete. Sie hob den Bleistift und begann wieder zu schreiben.

Überleben: existieren, klarkommen, nicht sterben.

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)

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