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Silke: Auf dem Prüfstand

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Zwar war ich nicht Lisa, aber ich fühlte mich von ihr inspiriert. Nachdem die aufdringliche Tussi am Nebentisch nicht mit ihrer Glotzerei aufhörte und mich immer wieder abschätzend musterte und blöd dabei grinste, reichte es mir.

Es war mittlerweile schon nach halb zehn und Flori wollte nach Hause, aber ich verwickelte ihn in Gespräche, bis die Tussi aufstand, sehr nahe an unserem Tisch vorbeiging und auf der Toilette verschwand. Sofort sprang ich auf.

„Geh doch bitte schon mal bezahlen.“ Verblüfft erhob sich Flori und ging zum Tresen.

Ich stahl mich zum Tisch der Tussi, auf dem noch ihr Teller mit gedämpftem Gemüse und Reis stand, nahm die scharfe Soße aus dem kleinen Gestell, und löffelte ihr ordentlich was unter den Reis und unter die Sojasoße, die sie sich auf das Gemüse gegossen hatte. Ich dachte kurz nach und rührte ihr eine weitere Portion von dem roten Zeug in ihr Bier. Ich sah mich um. Werktags unter der Woche war hier nicht viel los. Niemand hatte etwas gesehen.

Nun hastete ich zu Florian rüber, der schon an der Garderobe war. Ich ließ mir beim Anziehen der Jacke viel Zeit. Endlich kam Tussilein aus der Toilette und ging zu ihrem Tisch zurück. Sie warf einen frustrierten Blick zu unserem herüber und verengte etwas verärgert die Augen, denn ich hatte die Serviette auf meinem Teller zusammengeknüllt und in der Mitte einen verdrehten Zipfel stehenlassen, der in ihre Richtung zeigte. Es sah aus wie ein Stinkefinger.

Sie nahm ihre Gabel und den Löffel und begann, weiter zu essen. Sie tat es nicht lang. Weit riss sie die Augen auf und ihre Hand flog zu ihrem frisch rot umrandeten Mund. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie grapschte nach ihrem Bier.

Sie schüttete es mit einem Zug herunter und fing schon bald zu röcheln an. Florian war meinem Blick gefolgt und brach in Gelächter aus. Ich nahm seine Hand und zog ihn aus dem Lokal. Wir sahen noch, wie die Tussi verzweifelt mit den Armen ruderte, um die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erhaschen.

Wir rannten zum Auto, warfen uns hinein, Florian startete den Motor, und wir fuhren davon.

„Hast du die rote Birne von der gesehen? Das wird ihr eine Lehre sein“, lachte ich.

Florian grinste.

„Ich hoffe, sie zeigt dich nicht wegen Körperverletzung an.“

„Wie denn? Sie könnte doch selbst das Zeug in ihr Essen getan haben. Zeugen gibt es nicht, ich habe aufgepasst.“

„Trotzdem werden wir uns hier länger nicht mehr blicken lassen. Nur zur Sicherheit.“

„Hm.“

Florian schien trotz seines Amüsements etwas befremdet. Konnte er denn nicht verstehen, wie demütigend das Verhalten dieser Kuh für mich gewesen war?

„Ich werde sie Drachenlady nennen. So wie sie gerade Feuer spuckt“, sagte ich. Florian bog zu unserem Dörfchen ab.

„Na ja, den Titel hättest du aber auch verdient“, erwiderte er kritisch und gab Gas.

Zwei Wochen später saß ich bei meiner Hausärztin. Es war nicht besser, sondern immer schlimmer geworden. Nachts bekam ich vor vier Uhr morgens kein Auge mehr zu. Uralte Geschichten kamen mir in den Kopf, über die ich nachgrübelte.

Ich war müde, wenn ich ins Bett ging. Aber der Kopf blieb einfach wach. Keine Entspannungsmethode nützte etwas. So konnte es nicht weitergehen, sagte Florian und schickte mich zum Arzt. Nun bekam ich das Endergebnis nach langen Untersuchungen, von denen das Belastungs-EKG die Schlimmste gewesen war. So mit halb nacktem Oberkörper auf dem Fahrrad, die ganzen Speckrollen unübersehbar, der Blick der Arzthelferin hatte Bände gesprochen. Furchtbar peinlich.

„So, Frau Perschke, dann wollen wir mal sehen.“

Die Ärztin kam herein und ließ sich in ihrem Chefsessel nieder. Auf dem PC drückte sie ein paar Tasten und überflog die Ergebnisse.

„Wir haben jetzt alles getestet, das hat viel Geld gekostet. Ihre Lunge ist in Ordnung. Sie sind zwar etwas kurzatmig, aber organisch ist alles völlig normal. Ihr Herz ist auch unauffällig. Vielleicht sollten Sie etwas Sport machen, damit Sie wieder besser die Treppen hochkommen. Das würde auch gegen die Kurzatmigkeit helfen.“

Meine Hausärztin war schon an die sechzig, aber schlank und sportlich. Sie sah mich streng an.

„Ich habe eine ganze Menge Bewegung“, wandte ich scheu ein.

„Warum haben Sie dann in ein paar Monaten so viel zugenommen?“

Ich zuckte mit den Achseln.

„Das wüsste ich auch gerne“, erwiderte ich. Sie schüttelte wieder den Kopf.

„Sie machen sich etwas vor. Man wird nicht einfach so dick. Ich schreibe Ihnen jetzt ein Asthmaspray auf, das können Sie benutzen, wenn Sie Probleme beim Atmen haben. Einfach vor Belastung einen oder zwei Sprühstöße einatmen. Treten Sie sich selbst etwas in den Hintern und machen Sie Sport. Dann geht es Ihnen bald besser. Organisch sind Sie gesund.“

Sie krickelte ein paar unleserliche Kringel auf ein Rezept und drückte es mir energisch in die Hand. Ich verließ die Praxis wie ein begossener Pudel.

Ein Asthmaspray? Was sollte ich denn damit? Ich hatte doch gar kein Asthma? Konnte man das denn einfach so nehmen, auch ohne Asthma zu haben? Und warum ich so kurzatmig war, wusste ich immer noch nicht. Vor ein paar Monaten war ich es jedenfalls noch nicht gewesen, und jetzt war ich auf einmal unsportlich?

Flori bog mit seinem Auto um die Ecke. Er hatte beim Baumarkt noch ein paar Sachen kaufen wollen, bevor er mich abholte. Eigentlich hatte er bei der Besprechung dabei sein wollen, aber wenn Flori erst einmal im Baumarkt war ... Ich stieg ein und knallte die Tür zu.

„Nanu? Habe ich die Show verpasst?“

„Aber so was von. Du wirst es nicht glauben, alle meine Probleme sind auf Unsportlichkeit zurückzuführen.“

„Ach? Na, dann gehen wir ab jetzt jeden Morgen joggen. Was denkst du?“ Er strahlte mich an. Ich wurde böse.

„Na, das ist ja die Lösung für all meine Probleme, oder? Dass ich jeden Tag mehrfach die Treppen hoch- und wieder herunterlaufe, den Garten mache, putze und dergleichen, ist für euch Männer ja nix. Dabei bewege ich mich jetzt viel mehr als früher! Was habe ich schon großartig in meiner Wohnung gemacht? Die war viel kleiner als das Haus! Und einen Garten hatte ich auch nicht, falls du dich erinnerst“, fauchte ich empört. Flori blinzelte verdattert.

„Hey, ruhig Blut! Ich wollte dir nur helfen! Wenn die Ärztin sagt...“

„Die hat keine Ahnung. Wieso kann ich wegen Unsportlichkeit nachts nicht schlafen, obwohl ich hundemüde bin? Das ist doch Blödsinn! Hier, die hat mir ein Asthmaspray verschrieben, dann kriege ich besser Luft.“

„Ein Asthmaspray? Aber du hast doch gar kein...“

„Eben!“

„Das ist ja Quatsch.“ Er schaute auf seine Uhr und stellte den Blinker ab.

„Wo fährst du hin?“

„Zu deiner Frauenärztin. Vielleicht hat die mehr Ahnung.“

„Oh. Na wenn du meinst ...“

Ich war inzwischen so weit, dass ich dachte, niemand könne mir helfen.

„Hey, Silke! Was machst du denn hier?“ Maren sah noch schicker aus als gewöhnlich. Das Make-up schien mir auffälliger als sonst, aber es war gut gewählt. Zu ihren braunen Locken passte der bräunliche Lippenstift viel besser, und die Frisur fand ich auch super. Es war so ein „Messy Bun“, ein unordentlicher Dutt, aus dem ein paar Strähnchen heraushingen. Ein weißes Seidentuch hatte sie irgendwie mit eingearbeitet und sie trug silberne Ohrringe, besetzt mit Strass. Ging die etwa gleich nach der Arbeit in die Oper?

„Hi, Maren. Hättest du baldmöglichst einen Termin für mich? Mir geht’s echt dreckig, und meine Hausärztin weiß nicht, was es ist.“

Maren sah sich um. Nur eine Patientin saß direkt vor dem Behandlungszimmer.

„Es hat eine Patientin für Viertel vor elf abgesagt“, raunte sie. „Den Termin könntest du haben. Aber etwas warten musst du trotzdem.“

„Das wäre super! Ist ja nur eine halbe Stunde.“

„Ja, das wird wahrscheinlich auch pünktlich klappen. Hast du deine Gesundheitskarte dabei?“

„Ja, sicher.“ Ich reichte sie ihr. Als sie sie nahm, wehte ein Hauch ihres Parfüms zu mir herüber. Maren war immer gut gekleidet, aber heute hatte sie noch einen draufgesetzt und duftete nach etwas Teurem. Ich schämte mich, weil ich verschwitzt und abgehetzt war und nur ein labberiges T-Shirt und eine Jeans trug. Make-up hatte ich auch keins aufgetragen.

„Dann setz dich noch etwas ins Wartezimmer.“

Ich tat es und schickte Flori eine Nachricht, dass er noch eine Stunde in den Baumarkt fahren könnte, wenn er wollte.

Noch zwei Frauen waren vor mir dran. Seufzend nahm ich mir eine Zeitung.

Eine gute Stunde später klagte ich der Ärztin mein Leid. Sie schüttelte über das Asthmaspray den Kopf und schickte mich ins Labor, wo Maren mir Blut abzapfte.

„Komm Montag um kurz nach eins noch mal rein“, sagte sie und klebte mir ein Pflaster auf den Einstich.

„Gegen eins sind wir hier fertig, und sie kann das Ergebnis mit dir besprechen.“

„Alles klar. Ich hoffe nur, es kommt etwas dabei heraus.“

„Mach dir keine Sorgen.“

„Das sagst du so. Hast du mit Ruth gesprochen? Ich habe ihr mehrere Nachrichten geschrieben, aber es kam keine Antwort.“

„Ach, du kennst doch Ruth. Die hat es nicht so mit moderner Kommunikation“, erwiderte Maren etwas zu beiläufig.

„Dann werde ich sie mal anrufen“, brummte ich.

„Tu das. Bis dann!“ Maren eilte aus dem Raum. Da war wohl etwas im Busch. Maren und Ruth standen sich nahe, aber sie kannten sich auch schon länger. Ich sollte es wohl nicht wissen.

Flori saß im Wartezimmer und schien erleichtert, dass wir endlich nach Hause konnten.

Wechselbad und Scherbenhaufen

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