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Ruth: Schlank

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„Guten Mo... Mein Gott, was ist denn mit Ihnen passiert?“, rief Frau Hagebusch und schlug beide Hände über dem Kopf zusammen, auf dem es unordentlich in alle Richtungen spross. Deshalb war sie ja hier.

„Sie waren schon länger nicht mehr bei mir, oder?“, entgegnete ich leicht ironisch, obwohl ich die Reaktionen noch immer genoss, wenn mich jemand in den letzten sechsunddreißig Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte.

„Fast vier Jahre“, gab sie zu. „Was haben Sie bloß gemacht, Frau Eberharth?“

„Diät jedenfalls nicht“, erwiderte ich und machte eine einladende Handbewegung zum Friseurstuhl hin. Frau Hagebusch setzte sich, wirkte aber noch immer stark verunsichert. Im Spiegel starrte sie erst sich selbst an, dann nur noch mich.

„Keine Diät? Dann verraten Sie mir bitte Ihr Geheimnis! Sie sehen so gut aus, so schlank ... und so schick mit den kurzen Haaren und die Farbe ... solche Strähnchen möchte ich bitte auch!“

Ich seufzte innerlich, als ich ihr den Umhang umlegte.

„Davon würde ich Ihnen abraten. Das Rot passt nicht zu Ihnen. Außerdem habe ich es zu den restlichen, schwarz gefärbten Haaren gewählt, das ist ein schöner Kontrast.“

„Es ist aber ein schönes Rot, nicht zu knallig. Eher dunkel“, murrte sie.

„Glauben Sie mir, zu Ihrem Teint passt es nicht. Aber ich mache Ihnen einen besseren Vorschlag. Ich schneide Ihnen die Haare ungefähr schulterlang.“ Ich zog ihren Dschungel ein wenig in die Höhe.

„Dann stufe ich alles schön durch und setze ein paar Highlights. Glauben Sie mir, Ihr Mann wird Augen machen!“

Rote Strähnen zu mittelblondem Haar? Manche kamen auf komische Ideen.

„Na gut, Sie kennen sich besser aus. Hat Ihr Mann denn auch Augen gemacht?“, forschte sie.

„Wegen der Gewichtsabnahme?“, fragte ich und zog den Stuhl zum Waschbecken herüber. Sie nickte und legte ihren Kopf in die Aussparung. Ich überprüfte die Wassertemperatur und befeuchtete ihr Haar.

„Na ja, es ging ja nicht von heute auf morgen. Ich habe mir Zeit gelassen, auch mal gesündigt und viel mit Bewegung erreicht. Ich halte nichts davon, sich ständig zu kasteien. Das vergrößert nur den Appetit und verschlechtert die Laune.“

Ich massierte große Mengen Shampoo in ihr nasses Haar. Sie schloss genießerisch die Augen.

„Das schon, aber als Sie Ihr Gewicht erreicht hatten, und dann die Haare so toll gemacht ... er muss ja geglaubt haben, er hätte eine ganz neue Frau!“

Ich überlegte kurz, was ich ihr antworten konnte. Ich begnügte mich schließlich mit einem höflichen Lachen.

„Ja, da haben Sie recht“.

Während ich ihr Haar schnitt und über meine Ernährungsumstellung schwatzte, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft.

Als Jens und ich uns kennenlernten, war ich dick. Nicht nur dick; mein Hausarzt nahm kein Blatt vor den Mund. Er bemängelte meine Fettleibigkeit und dass ich nichts dagegen tat.

„Sie sind doch noch so jung. Sie muten Ihrem Körper viel zu viel zu.“ Da hatte er recht. Ich war seit meiner Pubertät immer dicker geworden und ich hatte es zugelassen.

Meine Mutter kochte gut, und abends holte mein Vater die Pralinen aus dem Schrank oder eine Currywurst mit Pommes von der Imbissbude, wenn meine Mutter streikte. Gemeinerweise blieb er bis zu seinem Tod immer schlank.

Mit dem Essen kompensierte ich die Stille zu Hause.

Meine Eltern hatten außer der Adresse nicht mehr viel gemein. Manchmal stritten sie sich, nicht laut, aber verbittert. Es tat weh. Ich fraß alles in mich hinein, leider buchstäblich.

Auf der Kirmes lernte ich dann Jens kennen. Ich war schon siebzehn und vorsichtig; gerne kamen Jungs zu mir und meinen Freundinnen, um mich zu veräppeln. Andere ignorierten mich ganz betont und machten sich an meine Freundinnen heran. Sie konnten zu mir nicht einmal Hallo sagen, ich war es nicht wert.

Wieder andere behandelten mich verächtlich. Die spöttischen Kommentare, wenn ich ein Eis aß, stachen tief. Ich ließ meine Freundinnen essen und traute mich nicht mehr, irgendetwas zu mir zu nehmen. Erst zu Hause wieder. Leider verschlang ich dann eine ganze Tafel Schokolade auf meinem Zimmer.

Jens war anders. Er war immer nett und respektvoll. Als er ein Treffen vorschlug, wartete ich nervös am Kino. Ich war tief im Innern überzeugt, er werde mich dort einfach stehenlassen. Aber er kam.

Er wurde mein fester Freund, dann mein Verlobter. Und dann, als er seinen Meister als Gas- und Heizungsinstallateur gemacht hatte, heirateten wir. Er übernahm den Betrieb seines Vaters und seinen Kundenstamm. Auch sein Haus. Max` Frau war vor Jahren mit einem anderen durchgebrannt. Deswegen war Jens es gewöhnt, viel mit anzupacken.

Er half mir in jeder Schwangerschaft mit dem Haushalt, obwohl er selbst viel zu tun hatte. Wir waren glücklich. Geld hatten wir genug, deshalb musste ich nicht arbeiten. Trotzdem machte ich eine Ausbildung zur Friseurin und nach unserem zweiten Jungen ebenfalls den Meister.

Ich arbeitete weiterhin halbtags im Friseursalon, was ich eigentlich nicht gemusst hätte. Der Haushalt und zwei quirlige Jungs hätten mich auf Trab gehalten.

Aber mein Schwiegervater war noch rüstig und übernahm die Gartenarbeit und die Aufsicht über unsere Jungs, brachte sie morgens in den Kindergarten und später zur Schule. Er kochte ihnen auch bisweilen das Mittagessen, aber meistens übernahm ich das, wenn ich nach Hause kam.

Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Er wohnte im Erdgeschoss in einer abgetrennten Einliegerwohnung.

Obwohl er auch einige Streitigkeiten mitbekam, hielt er sich immer heraus.

„Das habe ich aus meinem Fiasko gelernt“, sagte er einmal zu mir, „mir ist die Frau nicht umsonst weggelaufen.“

Er redete seinem Sohn auch ins Gewissen, wenn Jens sich seiner Meinung nach dumm aufführte. Er schlug sich jedoch nie auf seine oder meine Seite.

Ich arbeitete im Salon, bis unsere Jungs flügge wurden. Nur Benny hatte noch ein Zimmer bei uns, studierte aber in Tübingen. Wir sahen ihn nur selten.

Weder Stefan, der schon seit drei Jahren in Berlin lebte, noch Benjamin brauchten mich noch. Daher erwog ich erst, das Arbeiten bleiben zu lassen. Aber ich mochte meinen Job und hatte einen ebenso festen Kundenstamm wie Jens.

Aber dann gab unsere Chefin ihren Salon auf und die neue Besitzerin und ich kamen nicht miteinander klar. Zudem wird man nicht jünger. Das stundenlange Stehen machte mir zu schaffen.

„Weißt du was? Ich baue dir den kleinen Bungalow zum Friseursalon um. Dann bestimmst du deine Stunden selbst“, schlug Jens mir vor.

„Was? Hier auf dem Dorf?“, fragte ich verdattert.

„Warum nicht? Die älteren Damen haben bestimmt keine Lust, in die Stadt zu fahren, wenn sie hier vor Ort onduliert werden können. Oder du fährst zu deinen Kundinnen nach Hause und frisierst sie dort. Aber ich denke, dein eigener kleiner Salon würde dir besser gefallen, meinst du nicht?“

Der kleine Bungalow hinter dem Haus diente damals als Gästezimmer, wenn wir Übernachtgäste hatten. Aber dazu war ja Stefans ehemaliges Zimmer auch gut genug, und so viele Gäste hatten wir nun auch wieder nicht.

Also baute mir Jens den Bungalow zu einem schicken Friseursalon um. Zwar nur mit einem Stuhl, aber das reichte völlig.

Denn ich arbeitete lediglich ein paar Stunden täglich, nur nach Terminvereinbarung und ließ mir viel Zeit mit meinen Kundinnen, was diese natürlich sehr schätzten.

Alles wäre wunderbar gewesen, wenn ich mich nicht so unwohl in meiner Haut gefühlt hätte. Die Wechseljahre schlugen zu. Und die zusätzlichen Kilos nach den Geburten der Jungs hatte ich auch nie so recht herunterbekommen.

Der Knackpunkt war erreicht, als ich ein paar Blusen und Shirts bestellt hatte. Im Katalog sahen sie so toll aus, aber als ich sie anprobierte, saß die eine Bluse viel zu eng, quasi wie ein Presssack.

Die andere, eine Nummer größer bestellt, hing an mir herunter wie ein Kartoffelsack, spannte aber trotzdem über dem Bauch. Die schicken Sachen, bestellt für die Hochzeit von Silke und Maik, sahen einfach unmöglich aus. Jedenfalls an mir.

Nun reichte es mir. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer mal eine Diät angefangen und ein Jahr eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio bezahlt, aber nichts wirkte langfristig. Die Diäten waren nicht alltagstauglich, vor allem im Sommer. Immerzu hatte jemand Geburtstag oder lud uns zum Grillen ein.

Wollte ich standhaft bleiben und hauchte mit leidvollem Lächeln „ich kann leider nicht mitessen, nur von dem grünen Salat vielleicht etwas, ich bin auf Diät“, kamen unweigerlich die gleichen Sprüche:

„Ach, dann machst du eben heute eine Ausnahme.“ (Und was mache ich die Woche drauf, bei der nächsten Einladung? Die nächste Ausnahme? Aus wie vielen Ausnahmen darf das Leben bestehen? Und nach der wievielten Ausnahme ist eine Ausnahme keine Ausnahme mehr, sondern die Regel ...?)

„Du brauchst doch keine Diät, du bist prima so, wie du bist!“ (Immer von den Frauen gesagt, die durch den Briefschlitz passen.)

„Dann isst du eben morgen weniger!“ (Und hatte dann so einen Hunger, dass ich den ganzen Diätplan in die Tonne warf und montags von vorne anfangen konnte – bis zum nächsten Freitag oder Samstag, wenn die nächste Einladung anstand.)

Zum Fitnessstudio war ich ein paarmal gegangen. Aber jedes Mal traf ich dort auf ein paar kichernde Zicken, Kleidergröße extra dürr, die sich die ganze Zeit über mich lustig machten. Da verlor ich den Antrieb.

Bis ich zwei Wochen vor Silkes Hochzeit vor dem Spiegel stand. Da wurde mir bewusst, dass es so nicht weitergehen durfte. Ich sah unmöglich aus.

Dieses dicke, grobe Gesicht, das Doppelkinn, der hängende, aufgequollene Bauch und der breite Po ... Mir kamen die Tränen.

Jens fand es nicht schlimm. Wir hatten zu der Zeit auch noch Sex. Warum er mich liebte und begehrte – für mich war es ein Rätsel.

Also setzte ich mich hin und schrieb alles auf, was ich so aß. Und wie viel Bewegung ich hatte. Die Bilanz sah nicht gut aus.

Jens aß gerne gut, so wie mein Vater. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn hungern zu lassen.

Natürlich aß ich mit ihm zusammen all das deftige Zeug: Bratkartoffeln, Schweinebraten, Kartoffel- und Nudelgratins mit viel Käse. Abends vor dem Fernseher dann noch Schokolade und zuckerhaltige Limonaden, Gummibärchen und dergleichen mehr.

Bewegung? Zwar verlangten Haushalt und Garten etwas Bewegung, aber nicht genug. Ich lief nicht mehr viel. Also beschloss ich, abzunehmen. Aber dieses Mal fing ich es schlauer an.

Zunächst stellte ich meinen Speiseplan um. Ich aß noch mit Jens mit, aber weniger. Dafür bekam ich dann noch einen großen Teller Salat. Das Dressing bereitete ich mit sehr wenig Öl, dafür mit mehr Wasser zu.

Statt der Schokolade und dem anderen Schlickerkram gab es für mich nur noch ein Schälchen Götterspeise. Die war auch süß, hatte aber kaum Kalorien.

Jeden Morgen ging ich spazieren. Und über das Internet suchte ich einfach eine Frau in meiner Nachbarschaft, die ebenfalls Lust auf Bewegung hatte. Gabi kam aus dem Nachbardorf. Jeden Morgen gingen wir einander nun entgegen, das waren schon einmal sechs Kilometer.

Dann spielten wir auf der Gemeindewiese hinter unserem Sportplatz entweder Federball oder Fußball.

Nachdem sich in beiden Dörfern herumgesprochen hatte, dass zwei moppelige ältere Damen dort einen Ball durch die Gegend traten und ihm keuchend hinterherliefen, kamen auf einmal andere Übergewichtige dazu.

Auch zwei oder drei Männer blieben nun am Spielfeldrand stehen und drucksten herum, dass sie gern mitmachen wollten.

Im Nu bildete sich ein kleiner Sportverein für „Dickies“, meistens Rentner und Hausfrauen. Jetzt spielten wir Volleyball, Fußball, Völkerball wie damals in der Schule. Es gab keinen Druck und machte riesig Spaß.

Und wenn wir uns untereinander zum Grillen trafen, gab es nur Hühner- oder Rindfleisch und grünen Salat. Nichts Fettiges. Ich stellte nach einem halben Jahr erstaunt fest, dass ich fast zwanzig Kilo verloren hatte.

Nun, nach drei Jahren, war alles Überschüssige weg. Durch die Bewegung und gezielte Gymnastik war ich auch etwas straffer geworden. Ich sah mindestens zehn Jahre jünger aus.

Dieses Geheimnis war also keins und ich legte Frau Hagebusch einen Ernährungsplan nahe. Unseren Verein erwähnte ich nicht. Wir waren inzwischen elf aufeinander eingeschworene Mitglieder und Freunde. Neuzugänge wollten wir derzeit gar nicht.

Frau Hagebusch hörte schon gar nicht mehr richtig zu.

„Ich habe so Eiweißdrinks gekauft, die trinkt man abends und dann hat man keinen Hunger mehr. Das Fett schmilzt nur so dahin“, erklärte sie, während ich Folie um ihre Strähnchen wickelte.

„Die kenne ich. Hunger haben Sie trotzdem, und wenn Ihr Mann etwas isst, kriegen Sie Futterneid. Habe ich auch alles schon versucht.“ Sie glaubte mir nicht. Nun, das würde sie schon selbst herausfinden!

Haare ausspülen, föhnen, stylen ... Und wieder verließ eine strahlende Kundin meinen Salon. Ich räumte den Föhn weg, fegte die Haare zusammen und warf die Handtücher in den Wäschekorb.

Für heute war ich fertig, denn es gab nur diesen einen Termin. Dafür hatte ich morgen drei. Ich würde also einkaufen fahren. Gulasch hatte sich Jens gewünscht. In letzter Zeit tat ich alles, um ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Denn obwohl er immer gute Laune hatte, Sex hatten wir nun keinen mehr. Vielleicht lag es an der Midlife Crisis? An mir nicht. Ich hatte in meinem Leben noch nie so gut ausgesehen. In meinem Kleiderschrank hingen nur noch schöne Sachen, taillierte Blusen und Jacken, enge Hosen, kurze Shirts, die den Hintern nicht verbargen. Mein Make-up war immer makellos. Aber vielleicht hatte er das gar nicht bemerkt.

Er sah mich ja kaum noch an.

Wechselbad und Scherbenhaufen

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