Читать книгу Gefährliche Elemente - Sonja Wuthrich - Страница 6
Gregory
ОглавлениеFliegen war noch nie sein Ding gewesen. Wenn Menschen dazu bestimmt gewesen wären, zu fliegen, wären sie bestimmt mit Flügeln ausgestattet worden.
Das lieb gemeinte Gerede seiner Stiefeltern machte es auch nicht besser. Heute war auf jeden Fall keiner seiner Lieblingstage. Auf einer Skala von 1 bis 10 war dies wohl die 1, also der Tiefpunkt.
Shannon, seine Stiefmutter, umarmte ihn mit einer solchen Inbrunst, dass sie ihn beinahe zerquetschte. Sie schickte ihn wirklich nur schweren Herzens für das Austauschjahr nach Kanada. Ihm fiel es auch schwer genug, denn er liebte seine Stiefeltern von ganzem Herzen, aber die Vorkommnisse der letzten Zeit hier in Lerici hatten einen weiteren Schulbesuch für ihn unmöglich gemacht.
Er war 'Il Matto di Lerici', der düstere Verrückte, was ihn zwar einerseits zum unwiderstehlichen Bad Boy für die meisten Girls machte, aber anderseits auch zu einer Bedrohung für alle Macho Spinner an der Scuola Media Superiore. Deshalb hatten seine Eltern beschlossen, ihn zu seinen Verwandten nach Kanada zu schicken, damit er sein Abschlussjahr an der dortigen zweisprachigen High School machte. Er verstand ihre Entscheidung nur zu gut, freute sich aber trotzdem keineswegs auf Kanada.
Er hatte schon genug mit sich selbst und seinen zurzeit leider noch unkontrollierten Ausbrüchen zu tun. Wenn er nur an seine Stiefcousine Leyla dachte! Mein Gott, sie war seit Urzeiten ganz offensichtlich in ihn verknallt und es verging keine Minute, in der sie ihm dies nicht zu verstehen gab und ihn mit ihren grossen braunen Augen bewundernd ansah. Wie Bambi!
Nicht, dass er sie nicht gemochte hätte, sie war ein nettes kleines Ding. Sie waren Freunde gewesen als Kinder. Er erinnerte sich, wie sie Cowboys und Indianer gespielt hatten und er sie immer mit seinem imaginären Colt, einem hölzernen Stock, niedergestreckt hatte. Die Erinnerung brachte ihn zum Schmunzeln, aber er hatte jetzt wirklich andere Probleme als ein Mädchen, dass in ihn verknallt war. Er würde sie auf Distanz halten müssen.
Er umarmte seine heulende Stiefmutter nochmals kurz und schritt entschlossen in Richtung des Gates, da zum Boarding aufgerufen wurde.
Er machte es sich auf seinem Sitz gemütlich und setzte die Kopfhörer auf, aus welchen die dröhnende Musik von Articolo31, seiner Lieblingsband, ertönte.
Er hatte nicht die geringste Lust auf Unterhaltung während des Fluges.
Er musste wohl kurz weggedöst sein und fühlte sich plötzlich beobachtet. Auf dem Sitz neben ihm sass eine Person, die er schlicht als „Goth Gruftie Teenager Girl“ bezeichnen würde oder auch als Hexe ohne Besen. Er wäre beinahe aufgesprungen vor Schreck, denn ihr Gesicht war nur eine Handbreit von seinem entfernt und er konnte ihren minzigen Atem riechen.
„Schon mal was von Abstürzen wegen eines Elektronik-Kollapses gehört, mein Hübscher?“
Ihre sanfte Stimme war ein totaler Widerspruch zu ihrem Aussehen. Er zuckte zusammen und stellte seinen IPod aus.
„Sorry, muss wohl weggedöst sein“, sagte er schuldbewusst.
Sie grinste ihn unverschämt an und musterte ihn eindringlich, soweit ihr dies von ihrem Sitz aus möglich war.
Ihm kam es vor, als wolle sie ihn anmachen. Auch das noch, dachte er und wich ihrem Eulenblick aus. Er tat so, als ob er schlafen würde. Es wäre wirklich zu dumm, wenn durch ihre unerwünschte Anmache einer seiner Anfälle ausgelöst würde.
Er hatte echt keine Lust, das Flugzeug abzufackeln oder so etwas in der Art.
Er hörte ihre schmeichelnde Stimme: „Fliegst du auch nach Toronto?“
Jetzt reichte es ihm aber, Anfall hin oder her! „Nein, ich habe vor, über New York abzuspringen, ein paar Homies besuchen. Wie blöd bist du eigentlich?“
Sie grinste. „Na, endlich eine vernünftige Reaktion, Bro! So ein Flug kann einem sehr lange erscheinen, wenn man niemanden zum Reden hat!“ Sie streckte ihm ihre Hand hin, die an allen Fingern mit Schlagringen verziert war. „Ich bin Natalie!“
„Ich bin nicht dein Bro!“ Er funkelte sie böse an und nahm ihre ganze übertriebene Erscheinung erstmals so richtig wahr. Sie hatte pechschwarze Haare mit violetten Strähnen und ihr Gesicht war leichenblass. Ihre dunklen Augen waren mit einem breiten Eyeliner geschminkt. Ausser ihren Piercings an den Augenbrauen, den Lippen und weiss Gott wo sonst noch, erinnerte sie ihn entfernt an Amy Winehouse. Doch irgendetwas an ihr hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich heisse Gregory.“
„Oh, was solls, keiner kann sich seinen Namen aussuchen, ausser irgendwelchen Berühmtheiten wie Snoop Dog vielleicht. Was aber auch ein ziemlich beschissener Name ist, finde ich.“
„Hey, du bist ziemlich frech!“ Irgendwie fühlte sich Gregory aber erleichtert, sie hatte so eine Art an sich, dass alles nicht mehr so düster erschien. Obwohl von ihr eigentlich auf den ersten Blick eine Düsterheit ausging, die aber wohl eher eine aufgesetzte Maske war.
„Was machst du denn in Kanada, Bro?“ Gregory hatte keine Kraft mehr, ihr nochmals zu sagen, dass er nicht ihr Bro sei und nahm seinen neuen Spitznamen ergeben zur Kenntnis.
„Ich mache ein Austauschjahr und werde an die Scarborough High in Toronto gehen.“
Worauf er einen Stoss in die Rippen erhielt, der ihm den Atem verschlug.
„Erzähl keinen Scheiss, Bro, auf die Scheiss Schule gehe ich auch!“ Natalie verzog ihre stark geschminkten Lippen zu einem schiefen Grinsen und sah aus wie der Joker aus Batman.
Vielleicht sollte sie es mit einem Spiegel versuchen beim Schminken.
„Echt jetzt?“ Gregory war sich nicht sicher, ob sie ihn verarschte.
Sie legte die Hand auf ihre Brust. „Nö, Bro, ich schwöre dir, ich geh auf diese Scheiss Schule!!!
In welche Klasse gehst du und wie alt bist du denn?“
„Stell dir vor, ich habe heute Geburtstag und werde 18, es wird also die Abschlussklasse sein.“
Sie schlug die Hand vor den Mund. „Bro, ich raff es kaum, du kommst in meine Klasse und die Tussis werden BH schwingend hinter dir her sein. Du arme Sau!
Ach, übrigens alles Gute zum Geburtstag.“
„Danke. Um die Tussis mache ich mir keine Gedanken, mit denen komme ich schon klar.
Es sind eher die Kerle, mit denen ich meist so meine Probleme habe, “ sagte Gregory nachdenklich.
„Geez, Bro spielst du etwa im anderen Team?“ Natalie hatte entsetzt die Brauen hochgezogen.
„Was für ein Team?“ Gregory raffte gerade nichts mehr.
„Ich meine, mein Gott, Bro, bist du etwa schwul?“
Gregory dämmerte langsam, was sie meinte. „Nein, mach dir mal keine Sorgen, die Probleme mit Kerlen haben nichts mit sexuellen Aktivitäten zu tun. Es ist eher so, dass sie sich von mir bedroht fühlen und sich dann dadurch zu Dummheiten hinreissen lassen.“
Natalies Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Gregory grinste: „Weisst du was, vergiss einfach, was ich gesagt habe, du wirst noch schnell genug herausfinden, was ich meine, wenn du wirklich in meiner Klasse bist. Da kommst du wohl nicht drum herum.“
Natalie gab widerstrebend auf. Sie war sehr neugierig, was er damit meinte, aber anscheinend wollte er nicht damit rausrücken. Sie konnte warten.
„Hey, Bro, schau mal runter, da sieht man bereits den CN Tower!!!“
Tatsächlich, sie befanden sich bereits im Landeanflug, die Zeit war wirklich vergangen wie im Flug. Natalie sei Dank.