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Kapitel 6

Zur selben Zeit, als sich die Damen Derryhill ein Gläschen Veilchenlikör genehmigten, um auf ihren so erfreulichen Plan anzustoßen, stand ein gewisser Joe Frimley vor der Poststation in Hastings, etwa dreißig Meilen südlich von Tunbridge Wells – und außerdem am Rande der Verzweiflung. Er war müde, er war hungrig und jeder Knochen im Leib tat ihm weh.

Am Vorabend war er, von Frankreich kommend, hier im Hafen eingetroffen. Die Überfahrt mit dem alten Schoner war anstrengend gewesen und in dem Loch, das man ihm in einer der heruntergekommenen Hafenkneipen als Zimmer vermietet hatte, war an schlafen kaum zu denken gewesen. Hinter der Wandvertäfelung hatte sich ein Dutzend Ratten ein stundenlanges Wettrennen geliefert. Ihre grellen Pfiffe klangen ihm auch jetzt noch in den Ohren. Von der Schänke her waren bis weit nach Mitternacht Gelächter und lautes Gejohle zu ihm hinauf gedrungen, und als wären das nicht schon genug störende Geräusche gewesen, hatte der Mann, mit dem er sich die Strohsäcke, die als Bett dienten, teilte, nicht nur tief und fest geschlafen, sondern auch geröchelt und geschnarcht, dass es eine wahre Freude gewesen war.

Apropos Zimmernachbar: Joe sah zur Hausmauer hinüber. Er hatte den Mann auf die Bank davor gesetzt, bevor er sich ins Innere der Poststation aufgemacht hatte, um sich nach Fahrtmöglichkeiten für sie beide zu kümmern. Er selbst musste weiter in den Westen, nach Bexhill, wo seine Frau, so hoffte er zumindest, bereits sehnsüchtig auf ihn wartete. Sie bewirtschaftete den kleinen Hof allein und musste sich dabei auch noch um die vier munteren Kinder kümmern, die er ihr bei seinen Heimaturlauben quasi als Andenken hinterlassen hatte.

Joe war Bursche eines Leutnants gewesen und hatte für Gott und Vaterland auf dem Kontinent gekämpft. Den letzten Winter hatten sie im Norden Portugals verbracht. Es war der ruhigste Winter seiner bisherigen militärischen Laufbahn gewesen. Anscheinend hatte das Ungeheuer Napoleon in der Zwischenzeit in einer Gegend namens Russland herbe Verluste erlitten. Genaueres wusste er nicht, aber es war ihm egal. Hauptsache war, dass Napoleon sich von der iberischen Halbinsel fast zur Gänze zurückgezogen hatte, und er, Joe Frimley, die begründete Hoffnung hatte hegen können, dass der verdammte Krieg in Kürze vorüber wäre und er endlich für immer nach Hause könnte. Damals hatte er noch beide Arme besessen und wäre seiner Frau tatsächlich eine große Hilfe gewesen. Doch dann kam das Frühjahr und sein Oberbefehlshaber Lord Wellesley, den der Prinzregent nach der Eroberung von Ciudad Rodrigo zum Earl of Wellington ernannt hatte, beschloss mit seinen Truppen über das Gebirge in den Norden Spaniens zu marschieren, um die französische Armee unter Marschall Jourdans anzugreifen. Seither fehlten Joe Frimley der rechte Arm und der Großteil seines rechten Ohrs, aber zum Unterschied zu seinem Herrn, dem Leutnant, hatte er die Schlacht überlebt. Wäre er je ein eitler Geselle gewesen, hätte ihm die tiefrote Narbe an seiner Wange sicher mehr Kummer bereitet. Doch Joe war ein praktisch veranlagter Mensch und eine Narbe im Gesicht hatte noch niemanden davon abgehalten, ein tüchtiger Bauer und guter Familienvater zu sein. Und genau das zu werden hatte er vor.

Da er ohne seinen rechten Arm in der Armee zu nichts mehr nütze war, hatte man ihn auf einen Schoner verfrachtet und in seine Heimat verschifft. Dort konnte er jetzt selbst zusehen, wie es mit ihm weiterging. Bis vor wenigen Stunden hatte er noch keine Ahnung gehabt, wie er das Geld für die Weiterfahrt nach Bexhill auftreiben sollte. Das waren zwar kaum mehr als sechs Meilen, doch fühlte er sich zu schwach und ausgelaugt, um sich mit seinen Habseligkeiten auf dem Rücken zu Fuß auf den Weg zu machen. Ersparnisse hatte er keine. Bisher hatte stets der Leutnant dafür gesorgt, dass es ihm an nichts Wesentlichem fehlte. Er war aus derselben Heimatgemeinde gewesen wie Joe und so war er es auch gewesen, der die Heimfahrten bezahlt hatte, wenn sie ihnen denn gewährt wurden. Nun war der Leutnant tot und es war ein absoluter Glücksfall gewesen, dass er auf dem Schiff mit einem anderen Leutnant zu reden kam. Jenem Leutnant, der jetzt dort drüben auf der Bank saß. – Hätte sitzen sollen, wie sich Joe Frimley aufstöhnend korrigierte. Denn der Mann war seitlich umgekippt und von der Bank gefallen, wo er nun, völlig verkrümmt auf dem harten Pflaster liegend, wieder eingeschlafen war. Mit ein paar raschen Schritten war Joe bei ihm.

„He, Leutnant, aufwachen! Sie können doch nicht hier mitten auf dem Vorplatz einpennen. Ein unachtsamer Kutscher könnte …“ Seinen linken Arm umklammernd, wollte er ihn wieder aufrichten. Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn der Schmerzensschrei, den der Leutnant nun ausstieß, fuhr ihm durch Mark und Bein. Er hatte völlig vergessen gehabt, dass der junge Mann verletzt war. Dabei hatte er doch selbst dessen linken Arm auf dem Schiff notdürftig verbunden. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu wissen, dass dem Leutnant dasselbe Schicksal bevorstand wie ihm selbst. Der Arm musste ab, je schneller, desto besser. Bevor die Wunden zu faulen begannen und damit den ganzen Körper vergifteten. Aber es war kein Arzt auf dem Schiff gewesen. Und wenn, dann wäre er bei den vielen Verwundeten und Versehrten, die man in den Schiffsbauch geladen hatte, ohnehin nicht dazu gekommen, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. Und auch hier, im Hafen von Hastings, suchte man vergeblich nach jemanden, bei dem fachgerechte Amputationen zum Handwerk gehörten. Gebe Gott, dachte Joe, dass der Leutnant an seinem Ziel in fachkundige Hände geriet. Denn er wurde von Stunde zu Stunde schwächer. War er noch selbstständig auf den Schoner gegangen, so brauchte er zum Verlassen desselben bereits eine starke Schulter zum Abstützen. Hatte er vor einem Tag noch gesprochen, ja sogar gescherzt, so konnte er sich jetzt offensichtlich gar nicht mehr auf den Beinen halten. Wie er da nun saß, an die Hausmauer gelehnt, wirkte er nur noch wie ein Häufchen Elend. Der schmale Kopfverband, den er auf der Stirn trug, war von Blutflecken nur so durchtränkt. Der kahl rasierte Schädel darunter zeigte eine Vielzahl von Schrammen und Narben. Die Beine in den ehemals weißen Uniformhosen schienen zwar in Ordnung zu sein, doch sie waren zu schwach, um ihn zu tragen. Am schlimmsten war es um den linken Arm bestellt. Blut drang nun durch den Ärmel seiner roten Uniformjacke und hinterließ einen weiteren dunkelroten, fast schwarzen Fleck dort, wo bereits andere solcher Flecken eingetrocknet gewesen waren.

Der durchdringende Laut eines Posthorns ließ Joe aus seinen Gedanken auffahren. Schon war das Getrampel eines Vierergespanns zu vernehmen, das sich in raschem Tempo der Poststation näherte. Die Stalltür ging auf und Bedienstete brachten die Gäule für den Pferdewechsel ins Freie.

Schon bog das ausladende, schwarz-scharlachrot lackierte Gefährt auf den Vorplatz ein. Ihm folgte ein unscheinbares Gespann, das von einem einzelnen Mann gelenkt wurde und hinter dem ein einfacher Holzanhänger über das Kopfsteinpflaster klapperte. Die Planen hatte man abgenommen und im Wagen verstaut. Während sich niemand um das einfache Gefährt kümmerte, eilte ein Bediensteter in Postuniform herbei, um den Wagenschlag der großen Kutsche zu öffnen und einen Schemel zurechtzurücken, der den Passagieren das Aussteigen aus dem Inneren der geräumigen Kutsche ermöglichte. Diese sahen alle reichlich mitgenommen aus und eilten in die Poststation, um sich frisch zu machen. Der Kutscher sprang vom Bock und verschwand ebenfalls im Inneren des Gebäudes. Der bewaffnete Wächter verließ seinen Platz am hinteren Ende der Kutsche und übergab einen Stapel Briefe an den Postmeister, um gleich wieder einen neuen entgegenzunehmen. Mit schnellen Schritten war Joe Frimley bei den beiden.

„Wohin fährt diese Kutsche?“, begehrte er zu wissen.

„Unsere nächste Station ist Westfield“, erklärte der Wächter. „Beeil dich, wenn du noch mitfahren willst. Die Fahrkarte bekommst du in der Poststation. Sobald der Kutscher zurück ist, geht es weiter.“

„Wenn man nach Tunbridge Wells will, ist das die geeignete Kutsche, richtig?“, vergewisserte sich Joe und konnte sein Glück kaum fassen. Laut Fahrplan hätte die Kutsche nach Westfield längst wieder abgefahren sein sollen. Ihre Verspätung kam ihm sehr zugute. So konnte er seinen neuen Bekannten noch in ein Fahrzeug setzen, das ihn zumindest ein Stück näher an dessen Heimat bringen würde, bevor Joe seine eigene Heimreise antrat. Allein dafür, dass ihm der Leutnant das Fahrgeld geschenkt hatte, war er es ihm schuldig.

„Die Richtung stimmt wohl“, bestätigte der Wächter. „Beeil dich wegen der Karte. Bist du allein unterwegs? Es dürfte sehr eng werden im Inneren. Das Wetter ist gut. Am besten steigst du vorne hinauf zum Kutscher. Ah, sieh nur, da kommt er bereits zurück. Du musst dich sputen, Junge!“

„Es geht nicht um mich, ich brauche eine Karte für meinen … Freund hier drüben.“ Er wies mit dem Kinn zur Hauswand hinüber. „Vielleicht können Sie ihm in der Zwischenzeit schon einmal in den Wagen hineinhelfen, bis ich mit der Karte zurück bin. Ich denke nicht, dass er in der Verfassung ist, auf dem Kutschbock zu reisen.“

In diesem Augenblick kippte der Leutnant wieder zur Seite und landete aufstöhnend auf den Pflastersteinen, wo er ohne aufzuwachen liegen blieb.

Der Kutscher war inzwischen behäbigen Schrittes näher gekommen und so hatte er Joes letzte Worte mit angehört.

„Was ist los?“, schnauzte er, während er neben den Kutschbock trat. „Ich denke gar nicht daran, diese Kreatur im Wagen mitzunehmen. Der verreckt doch jeden Augenblick. Ich hab keine Lust auf irgendwelche Scherereien.“ Er griff zum Posthorn und blies energisch hinein, ohne sich auch nur im Geringsten um Joes Protest zu kümmern. „Abfahrt!“

Sofort schwang die Tür zur Poststation auf und die Reisenden eilten so schnell sie konnten zu ihren Sitzen. Wenige Minuten später ratterte die Kutsche aus dem Vorhof und Joe war den Tränen nahe. In kaum mehr als einer Stunde wurde seine Postkutsche erwartet. Was sollte er tun? Er konnte den Leutnant doch nicht gut hier vor der Poststation sitzen lassen. Hilflos und allein.

Da kam Hilfe von völlig unerwarteter Seite.

„Nach Tunbridge Wells muss er?“, erkundigte sich eine raue Männerstimme hinter ihm. Joe fuhr herum und sah einen Mann in etwa seinem Alter. Er trug einen groben Tweedanzug und hielt eine grüne Kappe in der Linken.

„Ich hab’s zufällig mitgehört, was ihr gesprochen habt. Eine Schande ist das, wie man mit unseren tapferen Soldaten umgeht, die für König und Vaterland ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Sind sie verwundet oder versehrt, schert sich keiner mehr einen Deut um sie. Eine Schande, so was!“

Zum Zeichen dafür, wie empört er war, spuckte er drei Mal ausgiebig auf den Vorhof. Dann hielt er die Zeit für gekommen, sich vorzustellen: „Mein Name ist Jack Bayton, ich arbeite für eine Weberei, oben in Croydon, an die sechzig Meilen von hier. Hab grad eine Ladung Stoffe zum Hafen gebracht, die sie in die Kolonien verschiffen werden. Und jetzt fahre ich leer zurück, um die nächste Partie zu holen. Also, wenn du willst, kannst du mir den Soldaten da in den Karren legen und ich nehme ihn mit. Tunbridge Wells liegt ohnehin auf meinem Weg!“

„Dich schickt der Himmel!“, rief Joe aus und war so erleichtert und erfreut über das Angebot, dass er dem Fremden mit seiner Linken so heftig auf den Rücken schlug, dass dieser erschrocken zusammenzuckte.

„Hast du eine genaue Adresse?“, wollte er schließlich wissen.

Joe ging zu dem Verletzten hinüber und zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Jackentasche. Er hielt es Jack entgegen: „Da schau her, hier stehen alle Einzelheiten.“

Das hoffte er zumindest, denn es hatte nie jemand nötig gefunden, ihm schreiben und lesen beizubringen. Aber der Leutnant hatte ihm das Blatt Papier am Vortag gezeigt, als er ihm das Fahrgeld gegeben hatte, und davon gesprochen, nach Tunbridge Wells zu wollen. Das hatte sich Joe zum Glück gemerkt.

„Sind Sie dort zu Hause?“, hatte er wissen wollen.

„Dort ist alles, was ich habe, und alles, was mir wichtig ist“, hatte die Antwort gelautet. Joe nahm an, das hieß Ja.

„Ich werde es schon finden!“, sagte Jack Bayton nun, der ebenfalls nicht zugeben wollte, dass er des Schreibens und Lesens nicht mächtig war. „Am besten, du steckst das Papier in die Jacke zurück. Und dann hilf mir, den Mann auf den Karren zu heben. Ich habe keine Zeit mehr, hier sinnlos herumzustehen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit will ich Robertsbridge erreicht haben, und das sind noch ganze elf Meilen. Was mich zur Frage bringt: Hat dein Freund da Geld für ein Wirtshaus? Ich kann ihn ja nicht gut die Nacht im Karren zubringen lassen.“

Joe Frimley hatte zwar keinen Shilling, aber er wusste, wo er den gut gefüllten Geldbeutel des Leutnants fand. Also zählte er einige Münzen heraus und drückte sie dem Webereiarbeiter in die ausgestreckte Hand. Dann schob er den Beutel in die Jackentasche zurück. Dort sollte er nicht lange bleiben. Denn so hilfsbereit Jack Bayton auch war, so gut konnte er einen überraschenden Geldsegen gebrauchen.

Verlobung wider Willen

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