Читать книгу Dem Paradies so fern. Martha Liebermann - Sophia Mott - Страница 10
20. Oktober 1941
ОглавлениеDie Standuhr misst den Rest ihres Lebens. Ihr unregelmäßiger Pendelschlag hallt vom Eingang den langen Gang hinunter, vorbei an all den Zimmern, in denen sich ihr abgelebtes Leben verbirgt und die Martha seit Wochen nicht mehr betreten hat: Das Speisezimmer mit dem Renaissancetisch und den passenden Lederstühlen, auf denen sie so viele Stunden gesessen hat mit Max und Käthe, der Enkelin Maria, mit Gästen. Rechts und links stehen die beiden Kredenzen, mit den verschiedenen Servicen darin, Schalen, Tassen, Karaffen, Kerzenständern, Porzellanfiguren, schöne Dinge, die Max in nie versiegender Begeisterung von den Antiquitätenhändlern nach Hause trug. Max, der Augenmensch. Neues wurde rasch zu Vertrautem, Puzzleteile ins Gesamte gefügt, Leerstellen nicht zugelassen. Jetzt ist nichts mehr auszufüllen, jetzt gilt es, zusammenzuhalten, was noch da ist.
Das Silber ist jedenfalls weg! Alles Edelmetall hat Martha schon 38 abgeben müssen. Sie durfte gerade mal ein Messer, eine Gabel, einen großen und einen kleinen Löffel behalten, 200 Gramm pro Person, und das Zahngold im Mund, ausreichend, um weich gekochte Steckrüben und Kartoffeln zu Brei zu drücken, in den Mund zu schieben und schließlich alles mit den Goldzähnen zu kauen. Henkersmahlzeiten. Was braucht denn auch eine alte Frau noch Tafelsilber für 48 Personen! Wenn sie einen nur endlich in Ruhe ließen! Kein Widerstand also, kein Stück heimlich zurückbehalten, den großen Kasten mit dem Rokoko-Silber, das bei feierlichen Anlässen am Pariser Platz auf dem Tisch gestanden hat, zusammen mit ihrem persönlichen Schmuck, Broschen, Perlen, den Brillantringen, meist Geschenken von Max, in eine Kiste gepackt. Der Portier trug alles zur Pfandleihanstalt in die Jägerstraße, da war die Sammelstelle.
Was noch da ist, ist mit kleinen Narben und Schründen versehen, Spuren ihres Lebens. Den Querbalken im Fußkreuz des Renaissancetisches hat einer ihrer Dackel benagt, immer wenn er sich nicht genug beachtet fühlte. Die Sitzgarnitur im Salon ist auf der rechten Seite einen Hauch mehr ausgeblichen als auf der linken, da hatten sie immer eine Decke liegen. Irgendwann ließen Max und sie die Dinge altern wie Lebewesen.
Die unteren zwei Schubladen der Barockkommode klemmen. Wenn man sie öffnet, verströmen sie einen eigentümlichen Geruch, stumpf und holzig. Darin liegen Erinnerungen an andere Tage, plötzlich aufleuchtend, als benötige jenes Areal im Hirn, das sie verwahrt, nur eben den Reiz der kleinen Trouvaillen, um alles in starken Farben und, als sei es erst gestern gewesen, wieder vor Augen zu haben. Ihre Atelierfeste, die Gäste, Konversationen, gelungene Dinners werden von den Einladungs- und Menükarten erweckt, das hübsche japanische Deckchen, auf das Wachs getropft ist, ruft den alten Ärger wieder hervor, als sie das Malheur entdeckte. Daneben, in Papier eingewickelt, liegt ein Kristallstöpsel ohne Karaffe, daneben sechs chinesische Porzellanschälchen, eines mit einem Riss, daneben ein Seidenfächer. Schicht um Schicht sich absetzenden Ehelebens. Ein wunderbarer Schrecken, wenn man in der Hand hält, was man Jahre nicht mehr gesehen hat.
Wenn sie fortginge, müsste sie alles zurücklassen, die Kleinigkeiten, deren Wert mehr in der Erinnerung liegt, ebenso wie die Antiquitäten und Kunstgegenstände. Das gelebte Leben beansprucht weit mehr Platz als das noch zu lebende Leben, das beansprucht beinahe gar nichts mehr.
Martha hängt nicht an den Dingen ihres Geldwertes wegen. Nichts haben Max und sie angeschafft, um sich damit zu schmücken, vielmehr sind es die schönen Dinge selbst gewesen, denen die Ehre galt, gehegt und bewundert zu werden. Sie hat gehofft, dass Käthe das später übernehmen würde. Aufzugeben ist nun schwerer als auszuharren, vielleicht kann man einiges wenigstens nachkommen lassen.
Vor allem aber die Bilder! Das meiste stammt von Max selbst, wie das große Doppelporträt der Eltern, Käthe als junge Frau mit ihrer Tochter Maria und der Kinderfrau im Garten am Wannsee, Martha im schwarzen Kleid. Aber auch zwei Landschaften von Manet sind noch da, Bilder von Max Lehrer Steffeck und die beiden Porträts von Max und Martha, die Anders Zorn gemalt hat. Für Menzels Zeichnungen ist nur Platz im Küchenkorridor geblieben, trotz der Größe der Wohnung.
Gut, dass Max bereits im Jahr 33 die wertvollsten Stücke seiner Sammlung in die Schweiz geschickt hat, 14 Gemälde, alles Franzosen, sein Lieblingswerk darunter, das Spargelbündel von Manet.
Manchmal erscheinen Besucher, die unter dem Vorwand, helfen zu wollen, ihr eine Zeichnung oder ein Bild für wenig Geld abzuschwatzen versuchen. Martha bleibt freundlich, aber denen gibt sie kein Blatt.
Da ist zum Beispiel diese angebliche Freundin von Käthe gewesen. Sie trug einen Fuchs um den Hals, das tote Vieh bleckte seine spitzen Zähnchen auf solidem braunen Tweed, als gäbe es noch was zu lachen: Sieh mal, so werden sie sich demnächst die Juden um den Hals hängen, einen als Dekoration, einen zum wärmen. Und die Fuchsbeine baumelten so tot herab.
Sie sei bei einigen der fantastischen Atelierfeste gewesen am Pariser Platz, sagte die Besucherin, der Fuchs musste mit ihr nicken, erinnern Sie sich?
Die Augen der Besucherin wanderten an den Wänden entlang, parallel mit denen des Fuchses. Sie habe ja noch so herrliche Zeichnungen und Bilder. Und wenn Sie sich doch mal von etwas trennen müsse, wenn sie Geld benötige, man wisse ja, es sei nicht leicht heutzutage. Als Martha schwieg, ein freundliches, aber bestimmtes Schweigen, da ging die Frau, der Fuchsschwanz schlug hin und her mit der weißen Quaste auf dem Tweed-Rücken.
Schlimmer aber sind die, die sie tatsächlich kennt aus guten Tagen und die auch nur kommen, das Verbliebene zu sichten. Da ist es nicht leicht, die Haltung zu wahren. Und wozu denn auch? Ein Leben lang ist ihr Haltung als etwas Unerlässliches erschienen, etwas, das einen auszeichnet, eigentliches Merkmal eines gewissen Ranges in der Gesellschaft, das man nicht kaufen, sondern nur üben kann. Nun fragt sie sich, ob nicht gerade ihre Haltung in Wahrheit eine Schwäche ist, die es den Verbrechern leicht macht, mit ihr zu tun, was sie wollen. Verstellen müsste man sich, lügen können. Haltung gilt nur etwas in einer Gesellschaft, in der Regeln gelten. Hier werden die Regeln nach dem Bedarf der Machthaber jeden Tag neu geschrieben. Wenn man ihnen gehorcht, erfinden sie sofort eine andere, gegen die man verstoßen hat. Schwer ist es geworden, nicht den Rücken zu beugen. Wozu auch?! Das kostet nur Kraft, und manchen hat es schon das Leben gekostet. Ist sie das wert, die Haltung? Denen nötigt das doch keinen Respekt ab, da braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben, das sind ja überkommene Vorstellungen einer toten Gesellschaftsform. Heute gilt einzig nur noch das Recht des Stärkeren, auch wenn die Nazis ständig von deutscher Ehre faseln. Tyrannei leerer Worte. Wie in einem Wolfsrudel beißt der Stärkere den Schwächeren vom Fressen weg. Ja, wie dumm ist man denn gewesen, dass man nicht rechtzeitig einen Stock genommen und die räudigen Viecher vertrieben hat?