Читать книгу Dem Paradies so fern. Martha Liebermann - Sophia Mott - Страница 11
Hundert Siege berichtet, keiner erdichtet
ОглавлениеEin Jahr nach Heinrich Marckwalds Tod, als die Siegesparade zur Feier des gewonnenen Krieges gegen Frankreich durchs Brandenburger Tor und die Linden hinauf ziehen sollte, lud Louis Liebermann Ottilie Marckwald und ihre vier Töchter ein, das Spektakel von seinem Haus aus anzusehen.
Sie hatten sich früh auf den Weg gemacht. Dennoch waren die Straßen bereits fast unpassierbar. Sie gingen über die Mauer- und die Behrenstraße bis zur Einmündung der Wilhelmstraße. Aber als die kleine Abordnung der Marckwalds an die Linden kam, ließen die Ordner sie nicht mehr passieren. Dicht gedrängt standen die Menschen bis zur Absperrung. Viele hatten sich Stühle mitgebracht, auf die sie steigen wollten, wenn der Zug sich näherte. In den Fenstern Gesicht an Gesicht, die Balkone bis zur Belastungsgrenze mit Menschen gefüllt, auf dem Brandenburger Tor standen sie, sogar auf die Dächer der Torhäuser waren einige geklettert, Fresskörbe, Kisten mit Bier und Wein wurden an Seilen hinaufgezogen, der Proviant für eine lange Wartezeit. Wer seinen Platz gefunden hatte, winkte berauscht, auch vom gemeinschaftlichen Glücksgefühl.
Sie seien eingeladen, versuchte die Mutter den Ordner zu überreden, bei Liebermanns, Pariser Platz Nr. 7. »Hier könn Se nich mehr durch.«
Martha war 14 und Margarethe gerade mal zehn Jahre alt. Beide hatten keine Lust, zu den Liebermanns zu gehen. Die Wohnung des Vormunds war zu dunkel und ungemütlich, das Leben hatte dort eine Schwere, die sie nicht gewöhnt waren, aber die Mutter bestand darauf, dass sie alle zusammen hingingen, alle außer Benno, für den machte der Besuch keinen Sinn. Denn natürlich ahnte die Mutter, dass der Vormund die Einladung ausgesprochen hatte, um die Marckwald-Töchter seinen Söhnen zu präsentieren. Ein Angebot, das man nicht ausschlagen konnte.
Immer noch fand sich keine Möglichkeit, die Straßenseite zu wechseln. Riesige Bilder, auf Segeltuch gemalt, überspannten die Linden, Historienbilder in Übergröße. Die einzelnen Truppenteile wurden auf Ehrensäulen gewürdigt.
Kurz und klar, warm und wahr! Hundert Siege berichtet, keiner erdichtet!
Das galt der Feldtelegrafie. Die Mutter näherte sich erneut einem Ordner. Sie hatte etwas aus ihrem Täschchen geholt, wechselte ein paar Worte mit dem Mann und schob ihre Hand in seine Jackentasche. Martha kannte diese Geste, diese rasche, aber diskrete Handbewegung, plötzliche Vertraulichkeit vortäuschend, wo das Geldgeschenk im Grunde unüberbrückbaren Abstand signalisierte. Peinlich! Beflissenheit folgte, ein schiefes Lächeln. »Na, denn woll’n wa mal.« Und der Ordner hob kraft seines Amtes das Absperrungsseil.
»Nun kommt bitte.« Die Marckwalds duckten sich unter dem Seil durch.
Wenn Martha wenigstens ein Kränzchen aus Lorbeer bekommen hätte. Einen Lorbeerkranz mit ein paar Blüten im Haar. Dann hätte sie ausgesehen wie eine der Ehrenjungfrauen, die ihren Lorbeer dem frisch gekrönten Kaiser überreichen durften. Aber es hatte in der ganzen Stadt keinen Lorbeer mehr gegeben. Geschäftstüchtige Berliner hatten die Buchsbaumhecken um die Rabatten auf den großen Plätzen und im Tiergarten zusammengeschnitten, aber das war nicht dasselbe.
Es war ein wunderbarer Sommertag, dieser 16. Juni 1871, als stünde der Herrgott mit den Berlinern, mit den Preußen, mit allen Deutschen im Bunde. Die meisten fanden das auch richtig so. Endlich hatte man dem blutlechzenden Franzmann Einhalt geboten und dazu die deutsche Einheit gewonnen mit dem preußischen Wilhelm als Kaiser. Berlin war nun Hauptstadt des Reiches. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern war!
Charlottes Stirn glänzte. Sie zog ein Tuch aus dem Täschchen. Auch Else war nervös. Eben noch hatten die beiden gelacht und getuschelt. Hatten sie über die Liebermann’schen Söhne gesprochen?
Georg war bereits in die Firma eingetreten. Kam ganz nach seinem Vater. Würde bestimmt mal Kommerzienrat. Und Max? Ob der überhaupt da war? Studierte in Weimar Malerei. Das mit dem Malen war ein Minuspunkt. Bestenfalls konnte man es als Liebhaberei verbuchen. Schließlich war da noch Felix. Eigentlich zu jung, fand Charlotte, ein bisschen zu weich und sentimental in der Erscheinung, fand Else. Reich würden sie alle drei sein.
Es gab Bowle und Kuchen, für die Herren Herzhafteres. Martha versöhnte sich beinahe mit dem Besuch bei den Liebermanns. Die Wohnung war übervoll mit Gästen. So düster und ruhig, wie es ihr sonst vorkam, war es heute nicht. Der Festzug nahte und alle stürzten in Richtung Tiergarten. An den Fenstern Gedränge, wie unten auf der Straße. Einige Gäste waren auch hinauf aufs Dach gegangen. Die Mutter verbot es den Mädchen: »Kinder, wenn ihr an so einem Tag runterfallt.«
Als die ersten Truppen durchs Tor hindurch waren, wechselten alle zu den Fenstern in Richtung Pariser Platz. Die Fahnen der Besiegten wurden vorbeigetragen.
Irgendjemand zählte 81 Trikoloren. »83«, sagte ein anderer. »Ne, 81 und det joldene Federvieh dazu.« Gemeint waren die Adler auf den Standarten. Ein einziger Jubelschrei toste über den Platz. Auch drinnen wurde »Hurra« gebrüllt. Martha hielt sich die Ohren zu. Die Männer tranken einen Cognac, Courvoisier. »Meine Herren, hier erleben wir Weltgeschichte.«
Dann kam der Kaiser. Vor ihm Bismarck, die Generäle Moltke und Roon. Die Menschen auf der Ehrentribüne erhoben sich von ihren Plätzen. Wieder Hochrufe, Applaus, die Militärkapelle hörte auf zu spielen, schließlich völlige Stille. Man konnte das Tschilpen eines Spatzen hören und ein sehr leises Rauschen der vieltausendköpfigen Menge, als wäre es ihr Atem. Die Ehrenjungfrauen traten vor und eine begann ein Gedicht aufzusagen. Ihre Worte verwehten über den Platz, aber Fetzen des hohen Stimmchens drangen bis zu den Fenstern hinauf. Dann nahm die Ehrenjungfrau ihren Kranz vom Haar und reichte ihn Kaiser Wilhelm. »Ein Hoch unserem Kaiser«, krächzte eine heißere Stimme in die weihevolle Stille, Gelächter. »Hoch, hoch hoch«, antwortete die Menge, die Kapelle fing wieder an zu spielen und die Herren im Liebermann’schen Salon stießen auf die neue Verfassung an. Für die Juden brachte sie die rechtliche Gleichstellung. »Nun wird alles anders.«
Ein paar besonders wilde Jungs rannten mit Holzsäbeln zwischen den Gästen herum und schrien: »Stillgestanden!« und »Achtung!« Das waren die Söhne von Max Onkel Adolph. Sie stießen mehrere Bowlegläser um und bekamen schließlich von ihrem Vater je eine Kopfnuss. »Mensch, Jungs, heute ist Anstand patriotische Pflicht.«
Willy heulte.