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Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht, still ist die Nacht, die Liebe nur wacht

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Charlotte heiratete keinen Liebermann, sondern einen Herrn Goldberger. Er war auch an jenem 16. Juni 1871 bei Liebermanns zu Gast gewesen, war der Bruder einer angeheirateten Cousine, kein sehr hübscher Mensch, klein und rundlich wie ein Kind, hatte er aber einen überaus wachen Verstand, beste Aussichten und versprach, als Bankier Großes zu leisten, was er dann auch tat. Er wurde Mitbegründer der Dresdner Bank und nationalliberaler Abgeordneter, doch das erlebte Charlotte nicht mehr.

Oft sprach er in der Französischen Straße vor. Der erste Schwiegersohn wurde mit besonderer Sorgfalt behandelt. Man wollte nichts verderben. Nun galt es ein Lebensglück zu machen.

Martha erinnerte sich an jene Wochen und Monate vor der Hochzeit wie an ein aufflackerndes Feuerwerk mit vielen kleinen, bunten Höhepunkten – das Aussuchen des Hochzeitskleides, die Zusammenstellung der Gästelisten, das Kennenlernen neuer Verwandten. Immer blieb ihr das Bild: Charlotte in Reisekleidern, in der kurzen Jacke mit dem kleinen Hermelinkragen. Ihre beinahe fremde Erscheinung als verheiratete Frau in der nagelneuen Garderobe. Noch einmal wandte sie sich an der Tür um, im Hintergrund Goldberger im dunklen Anzug. »Wir sind in Eile, Charlotte, der Zug wartet nicht.« Dann ging sie hinaus. Das letzte Bild, eine Falte der über dem Gesäß hoch aufspringenden Tournüre, die beinahe in der Tür eingeklemmt wurde, ein kurzer Augenblick des Verharrens, dann glitt das Stück Stoff durch den sich schließenden Spalt.

Als Charlotte aus den Flitterwochen in Italien zurückkam, ging es ihr schon schlecht. Sie fühlte sich matt, abgeschlagen. Fieberschübe folgten, Durchfall, Magenkrämpfe, Flecken auf der Brust. Martha und Margarethe ließ man nicht zu ihr, und sie blieben allein mit ihren Vermutungen und Ängsten. Es war wie beim Vater. Die Erwachsenen wandten sich ab. Wenn man sie fragte, schüttelten sie nur den Kopf: »So ein Unglück.« Martha schnappte »Fleckfieber« und »Typhus« auf. Und: »Von der Reise mitgebracht.«

»Keen Wasser trinken, wat nich abjekocht is«, wusste das Mädchen Sofie, »und keen Obst, nischt Rohet. Da isset drin, det wees man.«

Martha schlich sich in die Bibliothek des Vaters, wo sie in Meyers Konversationslexikon »Typhus« nachschlug.

Charlotte starb. Schlimmer noch als der Tod des Vaters hieb ihr Tod eine Kerbe ins Leben. Die Mutter wurde nie mehr ganz so wie zuvor. Man merkte es kaum, und es war doch danach alles ein bisschen gedämpfter bei ihr, leiser. Nun mochte sie auch nicht mehr in der Französischen Straße bleiben.

Das Tiergartenviertel wuchs gerade zum neuen Quartier der wohlhabenden Berliner heran. Martha zog mit ihrer Mutter und den Geschwistern in die Victoriastraße. Da war Else schon mit Georg Liebermann verlobt. Also hatte es doch etwas gebracht, die Einladung bei den Liebermanns wahrzunehmen. Gleich zwei Ehen gestiftet an einem Nachmittag. Die Hochzeitsvorbereitungen wurden nicht weniger aufwendig, aber sachlicher angegangen als bei Charlotte. Dass der Tod sie sich so mitten aus dem Glück gegriffen hatte, saß tief. Das war gerade mal ein Jahr her.

Im November heiratete also Else. Martha trug jungfräuliches Weiß, ein kurzes Kleid, es endete in einer Menge Rüschen oberhalb der Knöchel, hatte ein nicht allzu tiefes, viereckiges Dekolleté, Puffärmel, einzig eine fliederfarbene Schärpe gab ihrer Erscheinung ein bisschen Individualtät, ansonsten reihte sich Martha ein in eine Schar junger Mädchen, alle in ähnlich kindlichen Kleidern, die am Rande der Tanzfläche saßen, wie weiße Tauben auf einer Stange.

Aus dem schlaksigen Jungen Max war ein aufstrebender Künstler geworden, sein Anderssein trug er dezent, aber doch deutlich zur Schau, eine Spur Arroganz lag in der Lässigkeit, mit der er den konventionellen Ansprüchen genügte, die die Familie an ihn stellte.

Die Schönheit seiner Schwägerin fiel ihm auf. Er ließ sich dreimal auf ihrer Tanzkarte eintragen, aber noch hatte er keine Zeit, sich zu irgendetwas zu verpflichten. Verzicht auf sinnliches Glück, schrieb er später, festige den künstlerischen Charakter. Er hatte Angst, es möchte ihn etwas von seinem Weg abbringen. Mit Martha hüpfte er im Galopp übers Parkett.

»Und Sie gehen wirklich nach Paris?«

Gleich fort zu Schiff und übers Meer Bis nach Paris im Flug’ daher – Weil’s keine Stadt mehr geben kann, Wo man so herrlich leben kann! –

»Aber ja.«

»Werden Sie nicht Heimweh nach Berlin haben?«

»Wohl kaum.«

Das war gelogen. Er hatte auch in Weimar oft Heimweh gehabt. Das Leben hätte doch für ihn so einfach sein können. Er wollte es sich nicht einfach machen.

Martha war klug. Sie glaubte ihm nicht. Und er wusste, dass sie ihm nicht glaubte. Wahrscheinlich gefiel ihm das. Sie war ein bisschen pausbäckig zu dieser Zeit, Reste von Babyspeck auf den Hüften.

Dann spielte die Kapelle »An der schönen blauen Donau«.

Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht, still ist die Nacht, die Liebe nur wacht, der Schiffer flüstert der Liebsten ins Ohr, dass längst schon sein Herz sie erkor.

»Für die Spree sollte es so einen Walzer geben«, sagte Martha.

Max lachte. »Der Berliner ist kein Typ für den Dreivierteltakt. Bei uns herrscht der preußische Marsch vor.«

Sie drehten und drehten sich. Martha dachte, die Welt drehe sich um sie. Aber sie war ja noch ein Mädchen im kurzen Kleid.

Sie hätte auch einen anderen nehmen können. Hatte es ernsthaft andere Optionen gegeben? Jedenfalls vergingen zehn Jahre, in denen sie beide irgendwie übrigblieben, wie bei einer Stuhlpolonaise, plötzlich schwieg die Musik und nun den rechten Mann gesucht, hier ein Schokoladenfabrikant, der immer die Pralinenschachteln zum Kaffee mitbrachte und asthmatisch schnaufte, wenn er es die Treppe hinauf geschafft hatte, oder der hübsche Possenreißer, »der ist ein Goj, der kommt nicht infrage«. Einen Nichtjuden zu heiraten, zu dieser Zeit noch undenkbar, dann ging die Musik wieder los und wieder tanzte man im Kreis, das Kleid war länger geworden, der Cul de Paris höher, dann verschwand die Tournüre aus der Mode, um noch einmal aufzutauchen, gerade als Max heimkehrte.

Aber bevor er endgültig nach Hause kam, ging er nach München. Martha ging ins Theater, auf Bälle, zu Landpartien. Es war ein Leben, das angenehm auf der Stelle trat. Max lief in einem Kreis außen herum. Er wartete, dass die Musik aufhörte zu spielen, oder fürchtete er es? Einen Platz suchen, ankommen, das hätte das Ende aller hochfliegenden Pläne sein können, noch war er unterwegs.

Georg lud seine beiden Schwägerinnen ein, gemeinsam mit ihm und Else, das »Schloss« seines Onkels Adolph zu besuchen. Die Villa war eine Sehenswürdigkeit im neuen Tiergartenviertel. Schon als sie sich im Bau befand, waren die Berliner auf dem Weg zum Hofjäger-Etablissment, einem schlichten Ausflugslokal mit dem Werbespruch: »Hier können Familien Kaffee kochen«, an der Baustelle vorbei flaniert und hatten den Neorenaissancepalast, der da emporwuchs, bewundert.

»Er ist kolossal stolz auf alles und freut sich über den Besuch hübscher Damen«, sagte Georg.

Martha fasste unwillkürlich nach dem Arm ihrer kleinen Schwester Margarete, als sie die achteckige, zentrale Halle betraten. Solch ein Entree hatten in Berlin sicher nur noch der Kaiser oder der Kronprinz. Alle wandten den Blick nach oben zu den in gedämpften Farben gehaltenen Oberlichtern.

Adolph freute das ehrfürchtige Schweigen der Mädchen. »Es ist zwar von Heidecke entworfen«, sagte er, »aber der hat sich ganz an meine Vorstellungen gehalten. Das Entree ist doch beinahe das Wichtigste. Es ist wie bei einem Menschen. Wenn er dir klein und verdruckst daherkommt, dann willst du ihm nichts Edles und Kluges mehr zutrauen.«

Die Ritter von Liebermann blieben allzu gerne im Äußerlichen stecken. Seit der Kaiser Adolph Liebermann geadelt hatte, nannten ihn seine Nichten und Neffen spöttisch den Vonkel. »Du wirst sehen, Georg, es kommt auch für uns Juden endlich die Zeit, wo wir als vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft und nicht nur als geduldete Händler und Geldgeber unserem deutschen Vaterland dienen dürfen«, sagte er. Georg war sich da nicht so sicher, man sah es seinen leicht hochgezogenen Augenbrauen an.

Das eigentliche Zentrum des Hauses war die Bildergalerie, die sich über zwei Stockwerke im Westflügel erstreckte und bei Gesellschaften als Tanzsaal diente. Eine über Berlin hinaus bekannte Sehenswürdigkeit. Gelegentlich gaben fremde Menschen, die sich auf Reisen befanden, ihre Karte ab und baten, sie besichtigen zu dürfen, was meist gern bewilligt wurde. Es gab einen geschulten Diener, der, wenn die Herrschaften keine Zeit hatten, den Museumsführer machte. Das Hauptstück bildete das Eisenwalzwerk von Menzel.

Es war ein großformatiges Bild, das Innere einer Eisenhütte darstellend. Kein eigentlich schönes Bild, wer mochte schon die Darstellung schwitzender, schmutziger Arbeiter als schön empfinden, aber es gab kaum jemanden, der nicht davon fasziniert war. Wenn man sich dem Bild näherte, schien es zunächst nichts weiter als eine finstere Höhle darzustellen, in der ein helles Licht glomm, und so, wie sich das Auge erst an einen dunklen Raum gewöhnen muss, dauerte es auch hier einen Moment, bis man in den vielfältigen Schattierungen von Dunkelheit die ersten Leiber und Silhouetten von Arbeitsgeräten, Schnüren, Räderwerk erkennen konnte, die glühenden Schienen, die die Arbeiter eben in die Walze zu schieben versuchten, und kleine Szenen, wie die Männer beim Einnehmen ihrer Pausenmahlzeit. Ein jeder stand und schaute und suchte nach Neuem, das er bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Dabei glaubte man, das Stampfen und Zischen der Maschinen zu hören, das Klingen der Hämmer, man roch den Qualm des Feuers, spürte die Hitze auf der Haut, als stünde man selbst mittendrin.

»Ein Meisterwerk«, sagte Adolph stolz. »Es ist ganz lebendig, nicht wahr? Menzel hat endlos viele Skizzen und Studien in Königshütte dafür angefertigt. Das passt für einen Liebermann!«

Die Liebermanns betrieben selbst in Schlesien eine Eisengießerei und eine Maschinenfabrik.

Er würde es sich nicht in den Salon hängen, sagte Georg, es würde ihn ständig an seine Arbeit erinnern.

»Das Bild macht Furore. Der Kronprinz hat anfragen lassen, ob er es einmal besichtigen dürfe.«

Das beeindruckte selbst Georg. »Der Kronprinz will dich besuchen?«

»Ich sage dir, wenn der Kronprinz Friedrich Wilhelm und die Kronprinzessin Viktoria einmal den Königs- und Kaiserthron besteigen werden, dann werden wir, aus den bedeutenden jüdischen Familien, endlich den Rang in diesem Staate erhalten, der uns gebührt. Ein Besuch wäre ein deutliches Zeichen.«

Nur eine Stärkung des Volkes als Souverän könne für die Juden eine echte Veränderung bringen, sagte Georg.

»Ich weiß, ich weiß, du setzt wie Benjamin und Louis auf die Fortschrittspartei. Aber ich denke, ein fortschrittlicher Kaiser wird das Volk insgesamt einen. Das kann doch eine Partei mit 8,6% der Stimmen bei der Reichstagswahl gar nicht. 8,6%! Wir sollten jetzt nach der Reichsgründung alle an einem Strang ziehen.«

Rina musste eingreifen. Vordringlicher schiene ihr die Frage, wie man den Tee, den man zweifellos dem Thronfolgerpaar anbieten müsse, gestalten solle. Adolphs Schwester, Julie Gerson, verfüge über glänzende Beziehungen zur Kaiserin Augusta, die könne man fragen. »Man will doch keinesfalls etwas falsch machen.«

»Das Ansehen der Berliner Juden hängt vielleicht vom richtigen Eclair ab«, spottete Georg.

Später, als der Wagen des Prinzen und der Prinzessin tatsächlich durchs Tiergartenviertel rollte, gingen auch Martha und Margarethe hinaus, um einen Blick auf die hohen Herrschaften zu erhaschen. Das System war geschlossen wie ein Aquarium.

»Wir sind nur die kleinsten Fische«, sagte Marthas Mutter.

Doch die Gründerzeitblase, die durch die hereingepumpten, französischen Reparationen gewachsen war, platzte. Spekulationsobjekte blieben Spekulation, auf staubigen Plätzen knickten im Wind die Schilder ein, die einmal den Bau eines zukunftsweisenden Unternehmens verkündet hatten. Kleine Jungs benutzten sie als Zielscheiben und gaben ihnen den Rest. Auch Adolphs Traum zerrann bereits im Jahr nach jenem denkwürdigen Besuch des Kronprinzen, wurde aufgezehrt von einer Fehlspekulation. Er musste seine Gemäldesammlung auflösen und bei Lepke versteigern lassen. Das Haus konnte als Wohnstatt für die Familie nur gerettet werden, weil der älteste Bruder Benjamin das gesamte Anwesen kaufte.

Wie gut, dass keiner der Söhne im heiratsfähigen Alter gewesen war. Ottilie Marckwald hob die Augen zur Zimmerdecke. Arm wurde Adolph aber natürlich nicht. Else erzählte, er habe das Eisenwalzwerk für 11.000 Reichsmark gekauft und nun für 30.000 der noch nicht einmal eröffneten Nationalgalerie angeboten. Essenzielle Bedürfnisse, wie Reisen nach Baden-Baden und Bad Kissingen, ein eigener Kutscher und Pferde, die Ausbildung der Söhne waren jedenfalls gesichert. Aber der Gipfel war erreicht, der Zenit überschritten, alle Bemühungen hatten diesem einen Augenblick, der kurzen Stunde gegolten, als der Thronfolger in seinem Hause geweilt hatte und Adolph sich als der kultivierteste, kunstverständigste seiner Untertanen präsentieren konnte. Das hohe Glück des gelungenen Moments, es hatte alles gepasst. Nun zehrte Adolphs Familie von der Erinnerung.

Dem Paradies so fern. Martha Liebermann

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