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Herbst 1941

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Der Schlaf, wenn er kommt, ist voller Träume, die so wirklich erscheinen, als müssten sie das Leben sein. Das aber ist ein Albtraum. Martha lauscht auf das Pochen der Standuhr im Flur, tock-tock, tock-tock, der Schlag hinkt ein bisschen, und dennoch geht die Uhr ganz richtig, viel länger schon als Marthas Herz schlägt, das jetzt auch manchmal zu hinken scheint, wenn sie sich aufrichtet, zur Seite dreht oder aufstehen will. Manchmal schmerzt es, als würde es sich verkrampfen, bis es klein und hart wird. Eine Faust in ihrem Brustkorb. Nie hat sie ihr Herz zuvor so gespürt, es hat vielleicht einmal schneller geschlagen, es hat geklopft, niemals hat es geschmerzt. Es hat seinen Dienst versehen, ohne in Erscheinung zu treten, zuverlässig, still, beinahe heimlich, wie ein kleines Tier in ihrem Inneren verborgen; jetzt lauscht sie manchmal darauf, auf dieses fremde Wesen. Sie hat sich nie Gedanken darum gemacht. Nun muss sie sich über vieles Gedanken machen.

Tock-tock, tock-tock, die Musik all ihrer Nächte, seit sie ihr das Radio weggenommen haben, eintöniger, trockener Rhythmus der Zeit, die zäh dahinfließt in der Nacht und dennoch zu schnell vergeht, weil nichts besser wird mit ihrem Fortschreiten, sondern nur schlimmer, jeden Tag ein bisschen unerträglicher. Und jeden Tag denkt sie, es ginge nun gerade noch, so werde sie es schon aushalten können. Erst jetzt weiß sie, dass sie es schon lange nicht mehr aushalten kann.

Das Licht erlischt. Vollkommene Finsternis. Ihr Zimmer ein Sarg. Wenigstens kein Fliegeralarm heute Nacht. Tock-tock, tock-tock, noch schlägt ihr Herz im hinkenden Zweivierteltakt mit der Uhr. Ihre Hände liegen auf der Decke, fremd wie ihr Herz, fadenscheinige, fleckige Haut, abgetragen.

Das Licht geht an. Es kriecht aus dem Lämpchen auf ihrem Nachttisch gerade bis zum Fußende ihres Bettes. Sie lässt es immer eingeschaltet, meist ist es sowieso ohne Strom. Wenn es aufflackert, suchen ihre Augen das Vertraute, umrunden Konturen, die langsam sichtbarer werden, wie bei dem Kinderspiel, als sie Münzen unter ein Papier legten und mit einem Bleistift darüberfuhren, bis Ziffern, Buchstaben oder die Silhouette des König sich darauf abzeichneten. Vieles wird nur noch im Kopf sichtbar, die Erinnerung ist so gegenwärtig wie die Gegenwart.

Max, da ist Max, blanker Schädel, Raubvogelnase, hochgezogene Augenbraue. Immer zwischen 60 und 70 Jahren, nie als junger Mann, eilt er durchs Zimmer, tritt über Schwellen, immer kommt er gerade herein, nie geht er hinaus. Nur wenn er malt, bleibt er auf der Stelle. Das Unruhige lebt in ihren Träumen fort – und das Banale. Er fragt nach dem Essen und ob sich Besuch angesagt habe, er bemängelt, dass ein Strauß Pfingstrosen zu alt sei, das Wasser faulig rieche, und erregt sich darüber, dass der Strauß fortgenommen wurde, der doch gerade erst seinen eigentlich Reiz entfaltet habe.

Käthe lacht. Sie ist die Einzige, die über so etwas lachen darf. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen und wippt mit der Fußspitze. »Aber, Papa!« Ihr Kopf schief gelegt. Der Gesichtsausdruck mokant. Bei ihr ist alles ein Vorzug. Die kurze Bubikopffrisur endet knapp über dem Ohrläppchen. Max: »Die schönen, langen Haare!« und dann doch: »Mach nur, Kind, man muss mit der Zeit jehen.«

Automobile holpern, Fuhrwerke quietschen, Hufe rutschen über die Kopfsteine, ein Zeitungsjunge ruft Schlagzeilen aus. Er konkurriert mit dem Leierkastenmann: »Du, du sollst der Kaiser meiner Seele sein.« Die Stadt drängt durch die Fenster.

Martha öffnet die Balkontür und tritt auf die Terrasse hinaus. Im Wind klingeln Ringe und Haken an den Takelagen der Segelboote. Die Leierkastenmelodie verweht über dem Wannsee. Das Wasser liegt schwarz mit weißen Tupfen. Max kommt wieder einmal über die Schwelle, diesmal über die ihres Sommerhauses: »Lass uns een Rundjang durch den Jarten machen.« Einer ihrer Dackel wackelt hinter ihnen her. Es duftet nach Flieder. Parksand knirscht unter ihren Sohlen. Käthe hakt sich ein.

Das ist das Tableau. Max und sie, Käthe in der Mitte, Marie, die Enkelin, und der Dackel. Selten, eigentlich nie, der Schwiegersohn Riezler.

Das Licht geht aus. Die Angst kommt. Was sich in ihrem Gedächtnis die schönsten Plätze gesucht hat, ist ihr jetzt Beschwernis, liegt auf der Seele als Verlust.

Jetzt würde Martha gerne aufstehen und davonlaufen. Wenn es hell wird, mag sie nicht mehr fliehen. Da ist das Bett die Trutzburg gegen das Draußen. Ihr Leben findet fast nur noch in diesem Bett statt und drüben im Turmzimmer im Sessel, ihr Radius ist klein geworden, dreht sich allein ums Überleben, bei jeder Drehung wird er enger, formt eine Spirale, die sie tiefer zieht, am Ende wird sie sich nur noch um sich selber drehen, schneller und schneller, Schwindel ergreift sie, das zerrt an ihrem Dasein, wie ein Abfluss aus dem Leben, blubb und weg.

Dem Paradies so fern. Martha Liebermann

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