Читать книгу Grenzen - Sorin Mirel Constantin - Страница 6
Schnee
ОглавлениеSie fuhren trotzdem weiter, sofort, der Soldat könnte sich das auch anders überlegen, nein, sie mussten schnell weg.
In einem kleinen für sie namenlosen Grenzdorf mussten sie tatsächlich nach zwei Kilometern anhalten. Die hellen Scheinwerfer leuchteten auf ein mitten auf der Straße stehendes Schild aus Pappe: »Drum barat!« Es ging nicht weiter. Alexandru stieg aus dem Wagen und sah sich um. Alles dunkel, keine Straßenlaternen, er konnte kein Haus sehen. Doch, auf der rechten Seite der Straße erblickte er ein schwaches Licht. Er ging dem Licht entgegen. Es war ein großes, schmutziges Fenster, auf dem er das Wort »Hotel« erkennen konnte. Rechts davon eine dunkle, schwere Metalltür, die Alexandru mit großer Mühe öffnete. Die kleine Eingangshalle war voller Menschen. Manche saßen in den paar Sesseln, die um einen kleinen quadratischen Tisch aufgestellt waren, andere sah man auf dem Teppichboden sitzend oder liegend, Kinder schliefen in den Armen ihrer Mütter. Die Metalltür fiel mit einem höllisch lauten Knall zu, alle Anwesenden sprangen auf, böse Blicke richteten sich auf Alexandru, der vergessen hatte, dass man Türen hier leise schließen musste. Nein, es gab keine freien Zimmer. »Sie sehen es doch, alle hier wollen ein Zimmer!«
Die Nacht verbrachten sie im Wagen, einige Kilometer hinter der Grenze, bei laufendem Motor, damit sie nicht erfrieren würden. Sie hatten sich eingehüllt in Daunenjacken und Pullover, die sie als Geschenke für die Cousins und Cousinen mitgenommen hatten. Anna schaute jede fünf Minuten nach hinten und schüttelte Alexandru jedes Mal wach: »Sie atmet nicht mehr.«
»Doch, sie schläft, ruh dich aus, sie schläft tief, hab keine Angst.« Fünf, zehn Mal, fünfzehn Mal sprang sie auf. Sie schliefen trotzdem ein wenig.
Ein improvisiertes Frühstück. Die Bewohner des kleinen Dorfes an der Grenze brachten etwas Wurst in die Hotelhalle, etwas Butter, die sich nicht streichen ließ, weil sie zerbröckelte. Die Hotelangestellten machten Tee, für alle, selbst für diejenigen, die kein Zimmer in der Nacht mehr bekommen hatten und in ihren Autos übernachten mussten bei laufendem Motor. Die Sonne schien so hell und weiß über das Meer von sauberem Schnee, als wäre nichts passiert, und der Schnee verspräche, alles sauber zu waschen, um alles vergessen zu machen. Man konnte tatsächlich nach dem improvisierten Frühstück weiterfahren.
Der Schnee hielt sein Versprechen nicht, er wurde immer grauer, immer holpriger, immer glitschiger wie die Haut eines aus einem trüben, matschigen Wasser gefischten Aals. Man verlor das Gefühl, das man für einen Augenblick hatte, alles würde glattgehen, weiß und hell sein, wie der Morgen es versprochen hatte. Die Reise dauerte ewig, man konnte nicht schnell fahren, die Straßen waren nicht geräumt, man wusste nicht, trotz der fast blind machenden Helligkeit, ob man auf der Straße fuhr oder quer durchs Feld.
Dreihundert Kilometer und sechzehn Stunden weiter, um drei Uhr morgens, der erste geräumte Weg: die Einfahrt zur Garage ihrer Eltern, Annas Eltern, geräumt, als hätte es in den letzten Stunden nicht geschneit. Victor war jede Stunde aufgewacht und hatte den Schnee zur Seite geschaufelt, der Schnee, der auf der Straße aufgetürmt war, als bildete er einen Wehrturm oder eine Wehrmauer um alle Häuser herum zum Schutze gegen die langen Ohren der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht in der Stadt, in der vor Jahrhunderten drei Gürtel von Wehrtürmen und Wehrmauern gegen die Türken oder gegen die Mongolen errichtet wurden. Nicht gegen die eigene Bevölkerung. Drei Gürtel, die die Bevölkerung zusammenhalten sollten und die es taten, sechs- oder siebenhundert Jahre lang, oder waren es mehr? Sie hielten Sprache, Trachten, Gewohnheiten zusammen bis jetzt, wo alles zerbröselt, wo die Menschen, trotz der Grenzen und der Mauern, die um sie gebaut wurden, abhauen, neue Sprachen oder neue Dialekte der eigenen Sprache lernen müssen.