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Der Wein und die Spuren im Schnee
ОглавлениеDer Wein wurde aus dem Keller geholt, Alexandru wusste noch genau, wie das ging. Mit einem Gummischlauch zog man im Keller den Wein, der vom Schwiegervater im Herbst gemacht wurde, aus der bauchigen 25 Liter Flasche mit ganz dicken grünen Glaswänden in Literflaschen und hatte dabei jedes Mal einen Schluck von dem Wein sicher. Dann ging man die Treppen hoch und stellte den Wein auf den Tisch. Dies wiederholte sich etliche Male. Der Wein schmeckte ihnen, er war weich und nicht sehr süß, Victor war sehr stolz auf seine Weinmacherkunst. Früher holten sie den Wein von einem Siebenbürger Sachsen aus Agârbiciu, deutsch »Arbegen« und sächsisch »Arbäjen« im Kreis Hermannstadt, Gemeinde Frauendorf. Herr Hermann, ein kräftiger Mann mit immer roten Wangen, erwartete sie und führte sie ins Haus, ins vordere Zimmer, wo keiner schlief, wo aber die Gäste empfangen wurden. Dort gab es jedes Mal große Platten mit geräucherter Wurst, in Schmalz eingelegtes Schweinefleisch, Scheiben von einem dicken weißen Speck und ein wunderbar duftendes Bauernbrot. Den Anfang machte eine Runde Zwetschgenschnaps, und dann wurden mit jedem Happen die Weine probiert, die Herr Hermann benannte: Riesling, Mädchentraube, Muskateller. Einmal durften sie alle auf den Kirchturm, wo die ganze Gemeinde ihre Vorräte aufbewahrte. Oben unter dem Kirchturmdach hingen hunderte geräucherte Würste, Riesentafeln Speck, geräucherter Schinken, alles unmarkiert. Jeder aus dem Dorf wusste genau, wem was gehörte und es fehlte nie jemandem etwas von seinen Vorräten. All das ging Alexandru durch den Kopf, als er die Treppen vom Keller aus in die Küche hochlief, die er so mochte, vielleicht auch, weil er an der Gestaltung dieser Küche damals sehr beteiligt war. Er war so begeistert von Victors Idee gewesen, einen Schreiner aus Rasinari, »Städterdorf« genannt, mit dem Bau der Küchenmöbel zu beauftragen, dass er, als alle ins Bett gingen, Stifte in die Hand nahm und am großen Küchentisch sitzend Möbel entwarf, so wie er sie in deutschen und französischen Zeitschriften gesehen hatte. Er zeichnete, bis die Sonne durch das Küchenfenster schien und er geblendet wurde von den Sonnenstrahlen und vom stechend weißen Schnee im Hinterhof und im Garten. Der Schnee lag da noch unberührt, damals.
Die amerikanischen Zigaretten wurden aus dem Wagen geholt, die Müdigkeit war verflogen. Das erste Wiedersehen nach drei Jahren. Man hatte so viel zu erzählen im Schutze der Nacht, die letzten drei Jahre hatten so viel gebunkert. Wie ein Hamster, der seine Vorräte versteckt, hatte man jeden Eindruck, jedes Geschehnis aufbewahrt, um es jetzt zu erzählen. Im Schutze der Nacht.
In der Morgensonne konnte man es am nächsten Tag deutlich sehen. Der Baum – mitten im Garten. Unter ihm konnte man, ohne gehört zu werden, über alles sprechen, ohne dass das Ohr der Wanze im Telefon oder in der Mauer davon Wind bekam. Mal voller Blüten, weiß über den Köpfen der miteinander Sprechenden wie eine runde, gezipfelte Schlafmütze, die das Schweigen oder das Geredete, die Geheimnisse oder das Unausgesprochene aufsog und nicht weitergab. Mal kahl, die Zweige wie Antennen der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht gen Himmel gerichtet, die mit breitem Stiefel ungeniert in dem neuen Schnee ihre Spuren hinterließ. Das waren sichtbare, beabsichtigte Zeichen. Wir waren hier, wir haben alles gehört. Dort, wo ihr eure Geheimnisse der großen Schlafmützenkrone anvertraut habt. Spuren der breiten Stiefel zum Baum hin und um den Baum herum, Zigarettenstummel um den Baum herum. Der Blick des rauchenden Stiefeltragenden direkt durch das Küchenfenster auf den Tisch gerichtet, wo alle gesessen hatten. Wo sie ihre Geschichten, ihre Ängste, ihre Pläne ausgebreitet hatten. Im Schutze der Nacht, geschützt von der »Staatsnacht«, oder besser der Staatsmacht, dachten sie.