Читать книгу Scheiß auf perfekt! - Stefan Dederichs - Страница 6
Einleitung: Der Mut zur pragmatischen Lücke
ОглавлениеMit der Perfektion ist es so eine Sache. Die einen preisen sie als Nonplusultra an Qualität und Effektivität, die anderen halten sie für überflüssigen Leistungsdruck. Was stimmt denn nun? Sollen wir es nun perfekt machen oder lieber nicht? Ab wann sind wir krankhaft perfektionistisch, ab wann zu oberflächlich? Egal, welche Meinung wir einholen, sie hilft uns meist nicht weiter. Dafür ist das Thema viel zu komplex – und dafür gehen viel zu viele Menschen von ihrer Privatmeinung aus, das ist auch nicht hilfreich. Was uns aber weiterhilft, ist, sich mal intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen – und das wirklich richtige Maß für sich selbst zu finden. Und davon kann ich »ein Lied singen«!
Ich selbst bin viele Jahre lang der Perfektion hinterhergelaufen, habe krampfhaft versucht, alles richtig zu machen. Ich glaubte, ich sei nicht gut genug, ich müsse besser sein, immer besser als alle anderen. Ich war nie mit mir und meiner Leistung zufrieden, habe mich immer mit anderen verglichen und so eine Depression entwickelt, aus der ich nur schwer wieder herauskam (wer über diese Phase der tiefen Depression und wie ich darüber mein Glück fand, nachlesen will, dem sei mein Buch »Glücksmacher« – siehe Literaturliste – empfohlen). Denn egal, wie sehr ich mich anstrengte, wirklich perfekt war ich meiner Meinung nach nie, und darum stellte sich, so wie ich gepolt war, nie ein Zufriedenheitsgefühl ein. Für alles brauchte ich viel zu viel Zeit, weil ich mich mit den letzten Kleinigkeiten unheimlich aufhielt. Und glücklich war ich mit meiner Leistung dennoch nicht. Oft habe ich mich gar nicht erst getraut, mit etwas zu starten, weil ich der Meinung war, dass ich es sowieso nicht gut genug hinbekommen würde. Paralyse durch Analyse – ich habe so genau geplant und immer wieder hinterfragt, dass das Tun, das Umsetzen, zurückstand. Das Streben nach der höchstmöglichen Stufe der Perfektion, die ich so aber nie erreichen konnte, hat immer mehr dazu geführt, dass ich mich in mich selbst zurückgezogen habe, immer unglücklicher wurde. Heute sage ich im Rückblick: Bevor sich etwas bei mir verändern konnte, musste ich erst einmal die Ursache für das Streben nach der unerreichbaren Perfektion erkennen.
!
Wenn du das Gefühl hast, dass du zu sehr nach Perfektion strebst und dies dein Glücklichsein verhindert, dann suche nach der eigentlichen Ursache, die dich antreibt und nicht zur Ruhe kommen lässt, denn diese maskiert sich nur mit der vorgeblichen Perfektion.
Wie gern hätte ich in der Jugend ein Musikinstrument gelernt. Da meine Musiklehrerin mir jedoch bei jeder Gelegenheit bestätigte, wie unmusikalisch ich doch sei, habe ich mich gar nicht erst getraut, mit einem Instrument zu beginnen. Ich erkannte nicht, dass, egal wie gut ich auch sein würde, es immer jemanden geben würde, der noch besser ist – und dass das aber egal sein müsste für meine Freude an der Musik! Es dauerte viele Jahre, bis ich verstanden habe, dass sich dies auch nie ändern wird. Mein Fehler bestand darin, dass ich mich ständig mit anderen verglichen habe, und nicht mit mir selbst.
Es gab in der Schule einen Mitschüler, der wirklich brillant Gitarre spielte, er hatte bereits mit fünf Jahren mit dem Unterricht begonnen. Bei Schulaufführungen war er jedes Jahr der King. Auf diesem Leistungsniveau hätte ich in absehbarer Zeit niemals spielen können. Mein Anspruch an diese nicht erreichbare Perfektion war so hoch (und die Aussage meiner Musiklehrerin klang so nachhaltig in meinen Ohren), dass ich vor dem möglichen Gitarre-Start schon verzagte. Heute weiß ich: Ich hätte nur mich selbst, meine Ansprüche und Erwartungen an mich selbst als Vergleichsmaßstab heranziehen dürfen. Ich hätte mich nur mit meiner eigenen Leistung vergleichen dürfen. Einfach jeden Tag ein wenig besser werden – das wäre der richtige Weg gewesen, der direkt ein besseres Gefühl in mir verursacht hätte. Hätte ich mit einem Instrument begonnen und dann meine Fortschritte nur mit meinem eigenen Können verglichen, hätte ich gleich richtige Glücksmomente erlebt.
Der Wille zu wachsen und sich immer weiter zu verbessern ist im privaten und im beruflichen Bereich sehr wichtig; dazu ist in den meisten Fällen eine übermäßige Perfektion jedoch nicht erforderlich. Mit 45 Jahren habe ich mich endlich durchgerungen, nicht mit dem Gitarre-, aber mit dem Saxofonspielen zu beginnen. Natürlich ist mir bewusst, dass ich kein Superstar mehr werden kann. Ich weiß auch, dass ich nie perfekt spielen werde. Heute sage ich: Na und? Es macht mir eine Riesenfreude – und das ist es, um das es geht! Mittlerweile spiele ich zumindest so gut, dass ich vor Freunden das ein oder andere Lied vortragen kann. Und das mit ein wenig Stolz. Ich habe sogar schon vor einem kleinen Publikum auf der Bühne gespielt. Wow, welch ein Gefühl. Ja, ich habe den Takt nicht immer getroffen, habe mich auch mal leicht verspielt. Hat es jemand bemerkt? Nein. Die Zuhörer waren begeistert und es hat ihnen gefallen. Hätte ich gewartet, bis ich perfekt spielen kann, dann würde ich noch heute hinter der Bühne hocken. Mein Lehrer spielt wirklich perfekt, er spielt alles rauf und runter, mit einem Hammersound, er improvisiert und hört jede falsche Note. Hätte ich meine Leistung mit seiner verglichen, hätte ich sicher längst wieder aufgegeben. Meine einzige Chance war und ist es, mich nur mit mir selbst zu vergleichen. Jede Woche meinen eigenen Fortschritt zu bestaunen und mich an der persönlichen Entwicklung zu erfreuen.
!
Der Einzige, mit dem du deine Entwicklung vergleichen solltest, ist niemand anderes als du selbst, dein Ich von gestern. Von gestern auf heute zu morgen entwickelst du dich zu dem »Ich«, das du sein willst.
Ich musste noch etwas anderes feststellen: Meine Qualitäten liegen ganz woanders. Es entspricht gar nicht meiner Persönlichkeit, Dinge immer zu 100 Prozent richtig machen zu wollen. Ich hatte mir dies aufgrund meines mangelnden Selbstvertrauens nur eingeredet, ich dachte, ich müsste immer in allem perfekt sein. In Wahrheit liegt meine Stärke darin, Dinge auf den Weg zu bringen, etwas zu starten und schnell umzusetzen. Ich bin ein Sprinter, der seine PS schnell auf die Straße bringen kann. Ja, natürlich mit guter Qualität, jedoch ohne 95 Prozent der Zeit mit 5 Prozent der letzten Strecke zu verbringen, um perfekt durchs Ziel zu laufen. In vielen Fällen passiert nämlich genau dies: Wir verbringen mehr Zeit damit, Perfektion zu erreichen, als mit hervorragender Qualität Dinge voranzubringen.
Bitte versteh mich nicht falsch, es gibt Situationen, Berufe, Produkte, da geht es um Perfektion. Wenn sich zum Beispiel ein Star-Koch einen Stern erkochen will, dann kommt es genau auf jene letzten 5 Prozent an, da ist Perfektion mehr als gefragt. Er muss die Zeit investieren, die es braucht, um alles perfekt hinzubekommen, ansonsten hat er keine Chance auf den Stern. Wenn ich jedoch einen Lkw mit Hilfsgütern für unsere Hilfsorganisation belade, dann reicht es aus, wenn die Ware ordentlich gestapelt und gesichert ist, da ist keine Perfektion gefragt. Wir hatten einmal einen Helfer, für den wir mehr als dankbar waren, der es mit der Beladung jedoch so genau genommen hat, dass wir im Durchschnitt anstelle von vier Stunden fast acht Stunden benötigt haben. Jedes Teil hat er genau unter die Lupe genommen und geprüft, wie es wohl am besten zu stapeln und zu sichern sei. Das war eine enorme Belastung für die anderen Helfer. Immerhin investierte jeder von uns ehrenamtlich Zeit für das Projekt, und jede Stunde, die wir früher in der verdienten Freizeit verbringen durften, war uns herzlich willkommen. Ja, okay, vielleicht konnten drei Matratzen mehr beladen werden, oder es kam ein Stuhl weniger mit leichten Schrammen am Zielort an. Dies stand jedoch in keinem Verhältnis zum benötigten Mehraufwand.
Genau solche Situationen erlebe ich immer und immer wieder. Viele Menschen verstricken sich in ihrem Perfektionsdrang und schaffen es nicht, die Situation richtig einzuschätzen, sowohl im Beruf als auch im privaten Leben. Sie starten Projekte erst gar nicht oder verpassen den richtigen Markteintritt, weil sie glauben, den angemessenen Perfektionsgrad noch nicht erreicht zu haben. Das Streben nach Perfektion wird damit regelrecht zur Blockade, zum Verhinderer und zum Verhängnis. Was notwendig ist, ist der Mut zur Lücke, der Mut, auch einmal fünf gerade sein zu lassen und lieber unperfekt zu starten und voranzukommen, als perfekt zu warten und zu scheitern:
!
Scheiß auf perfekt, hab den Mut zur pragmatischen Lücke!
Es ist nicht mein Anspruch, dir hier Lösungen zu bieten oder dich mit Ratschlägen zu einem »anderen Ich zu erziehen« – denn das kann man gar nicht. Jeder Mensch hat sein Recht auf seine eigene Denkweise, seine eigene Art und seine eigene Meinung. Mein Anspruch ist es, dir Impulse zu liefern, die es dir ermöglichen, deine Sichtweise zu überdenken, zu optimieren und andere Blickwinkel zuzulassen. Vor allem dann, wenn dich deine »alte« Sichtweise bisher nicht so weit gebracht hat, wie du es dir gewünscht hast. Dann habe ich hier ein paar Impulse für dich, dein Leben und deine Handlungen auch einmal von einer anderen Seite zu betrachten. Ich habe auch nicht den Anspruch, alle Aussagen hier umfangreich wissenschaftlich darzulegen (obwohl ich natürlich alle Quellen und die weiterführende Literatur nach bestem Wissen und Gewissen aufliste und vorstelle), meine Beispiele sind aus dem echten Leben, tatsächliche Erfahrungen von mir oder Menschen aus meinem näheren Umfeld. Du erfährst sehr viel über mich persönlich und meine Lebensweise, und diese Erfahrungen können dir, wenn du magst, bei deiner Entwicklung und deinem Wachstum behilflich sein.
Du entscheidest über Erfolg und Misserfolg und darüber, ob du glücklich bist oder unglücklich. Denn du allein bist für dein Leben verantwortlich, du ganz allein, niemand anders, und auch nicht die Umstände. Du entscheidest darüber, was am Ende deines Lebens auf deinem Grabstein stehen soll, was die Menschen über dich sagen werden. Unser Leben hat nur eine begrenzte Dauer, du hast die freie Wahl, wie du es gestaltest, sei nur ehrlich zu dir selbst und sei dir bewusst darüber, wie du lebst und wer du bist. Nimm dein Leben wahr, halt dir einen Spiegel vor und erkenne dich. Es ist nicht meine Absicht, mich in dein Leben einzumischen, dir zu sagen, was richtig und was falsch ist. Es ist jedoch durchaus meine Absicht, dich zu verunsichern, dich zum Denken anzuregen, dich dazu zu bewegen, dein Leben und deine Handlungen zu überprüfen. Es wird Aussagen von mir geben, denen du nicht zustimmst, und es wird Aussagen geben, über die du nachdenken wirst, und es wird Aussagen geben, denen du absolut zustimmen wirst. Alles liegt jeweils im Auge des Betrachters, denn jeder Mensch ist anders und hat seine eigene Sichtweise, seine eigenen Erfahrungen und seine eigene Lebenseinstellung – und genau das macht uns Menschen aus. Das Schöne an uns Menschen ist doch, dass wir ein Leben lang lernen können, dass wir uns das ganze Leben lang entwickeln und verändern können. Ob wir dies tun und inwieweit wir das tun, liegt wiederum allein bei uns. Es ist jedoch nie zu spät, Veränderungen zuzulassen. Genau das finde ich so spannend, diese Unterschiedlichkeit zwischen uns Menschen. Keiner ist wie der andere, und genau das sollten wir akzeptieren.
Schauen wir uns doch einmal an, wie sich Perfektionismus auf unser Leben auswirkt. Welche Risiken und welche Chancen sich daraus ergeben können. Bei meinen Recherchen zu diesem Buch ist mir aufgefallen, dass Bücher, die über Perfektionismus handeln, diesen in der Regel sehr negativ darstellen. Und ja, der krankhafte Perfektionismus bringt sicherlich eine ganze Menge negativer Eigenschaften mit sich. Jedoch hat Perfektionismus auch positive Seiten. Ich möchte allerdings nicht nur dessen extreme Seiten und Aspekte betrachten, sondern das große breite Spektrum, das ihn ausmacht. Meine Aussage ist, dass Perfektionismus weder gut noch schlecht ist. Es kommt auf die Situation und die Zielsetzung an. Oft wird der Perfektionismus jedoch zur Fessel, und in vielen Lebensbereichen kann es sinnvoll sein, diese zu lösen.
Wer schon einmal ein Buch von mir gelesen hat, der weiß bereits, dass ich ausschließlich in der »Du«-Form schreibe. Der Grund dafür ist meine Erfahrung, dass wir uns Menschen, mit denen wir per Du sind, näher fühlen. Wir empfinden sie als Freunde und nehmen daher Impulse, die von ihnen ausgehen, eher wahr, und sind bereit, zu prüfen, ob wir sie in unser Leben aufnehmen wollen. Daher gestatte mir, dich in diesem Buch mit »Du« anzusprechen. Gleichzeitig lade ich alle, männlich, weiblich und divers, ein, mich durch dieses Buch zu begleiten. Sollte einmal aus grammatikalischen Gründen nur die männliche Form genutzt werden, so sei dir gewiss, dass DU gemeint bist, egal, welches Geschlecht du hast.
Damit DU das meiste für dich aus diesem Buch herausholen kannst, habe ich auf den nächsten Seiten einen kleinen Selbsttest für dich zusammengestellt, dessen Auswertung du weiter hinten im Buch findest. Er soll dich auf deinem Weg zur besseren Selbsterkenntnis begleiten und dir weitere Impulse und Denkansätze vermitteln. Wenn du ihn ausfüllst, nimm die Antwort, die dir als Erstes einfällt – nicht die »perfekte« Antwort … denn diese gibt es sowieso nicht.
Und nun: Lass dir Zeit beim Lesen, du musst ja nicht perfektionistisch jedes Wort genau unter die Lupe nehmen. Es ergibt jedoch Sinn, alles auch einmal sacken zu lassen, auf sich wirken zu lassen und über Gelesenes nachzudenken und vielleicht eine bewusste Pause einzulegen. Mir ist wichtig, dass du dich wohlfühlst und Glücksmomente erlebst.
Viel Freude beim Lesen.
Dein Stefan