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Der Unterschied zwischen normalem und neurotischem Perfektionismus
ОглавлениеLaut Duden bedeutet der Begriff »Perfektion« »Vollkommenheit«. Im Allgemeinen wird er auch genau so verstanden, nämlich als das Streben nach Vollkommenheit.
Im Wesentlichen unterscheidet man in der Wissenschaft zwei Arten von Perfektionismus. Die Psychologin Christine Altstötter-Gleich spricht von einem gesunden und einem ungesunden Perfektionismus (Altstötter-Gleich, Geisler 2017). In der Forschung wird dies auch gern funktionaler und dysfunktionaler Perfektionismus genannt. Bereits 1978 führte der amerikanische Psychologe Don E. Hamachek die erste Untersuchung zum Thema Perfektionismus durch. Er schlug vor, zwischen normalem Perfektionismus und neurotischem Perfektionismus zu unterscheiden. Diese Bezeichnungen möchte ich zur Differenzierung und Erläuterung verwenden.
Der normale Perfektionismus bei Menschen ist ein Antreiber, er sorgt dafür, dass wir nach Größerem, nach Besserem, nach Höherem, nach Anspruchsvollerem streben. Er sorgt dafür, dass wir Ziele setzen und erreichen, dass wir Unmögliches möglich machen. Der normale Perfektionismus hilft uns dabei, dass wir wachsen, dass wir Dinge vorantreiben und umsetzen. Dass wir besser werden und neue Blickwinkel eröffnen. Er bringt viele positive Aspekte mit sich – ohne diese Spielart des Perfektionismus wären wir Menschen heute nicht da, wo wir sind.
Menschen mit normalem Perfektionismus streben nach mehr, geben stets »150 Prozent«, gehen die »Extra-Meile« und haben hohe Ansprüche; sie akzeptieren jedoch gleichzeitig, dass Fehler zum Leben und zum Menschen dazugehören. Klar, auch natürliche Perfektionisten sind nicht erfreut über Rückschläge und selbstverursachte Fehler. Durch sie werden sie angetrieben, sich zu verbessern und in Zukunft Fehler zu vermeiden. Allerdings beziehen sie diese negativen Erlebnisse nicht darauf, dass sie nichts können oder nichts wert sind. Sie anerkennen ihre Leistungen durchaus, nutzen jedoch zugleich jede Möglichkeit, diese Erfahrungen zur Grundlage ihrer Weiterentwicklung und Verbesserung zu machen.
Wenn normale Perfektionisten ihre Ziele erreichen, ihren Plan verwirklichen und zu Verbesserungen gelangen, dann können sie sich an ihnen erfreuen, dies steigert ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Sie können Erfolge genießen und emotional wahrnehmen. Sie erkennen die Veränderung und können sich auch an ihr erfreuen. Sie streben nach mehr und nach weiterer Optimierung, jedoch ohne den Gedanken, dass das Erreichte bei Weitem nicht gut genug sein könnte. Und ohne sich ständig Vorwürfe zu machen, dass sie immer noch nicht perfekt seien. Sie sind in der Lage, das Erreichte zu genießen und trotzdem den Wunsch zu verspüren, nach vorn streben und sich weiter verbessern zu wollen.
Bei Menschen mit neurotischem Perfektionismus sieht das ganz anders aus. Sie können sich nicht über das Erreichte erfreuen. Erreichte Ziele werden nicht zum Glücksmagneten, sie werden nicht wirklich als final wahrgenommen. Sie sind immer der Meinung, dass sie nicht gut genug sind, dass es noch besser geht. Es bleiben Selbstzweifel. Neurotische Perfektionisten sind nicht in der Lage, das Geleistete anzuerkennen. Dies führt bei ihnen zu Versagensängsten, zu mangelndem Selbstvertrauen. Ständig quält sie der Gedanke, sie hätten nicht alles gegeben und wären nicht gut genug. Das kann im schlimmsten Fall zu Depressionen und seelischer und körperlicher Krankheit führen. Es fehlt die Einsicht, dass etwas gut gemacht worden ist. Selbst wenn ein gesetztes Ziel erreicht wurde, stellt sich das Gefühl, etwas erreicht zu haben, nicht ein. Es überwiegt der Eindruck: »Da geht bestimmt noch mehr!«
Die neurotische Perfektion erzeugt so viel Druck, dass die Kreativität, die Leistungsfähigkeit und die Möglichkeit zur Blickwinkelveränderung stark eingeschränkt werden. Genau diese Eigenschaften sind allerdings oft erforderlich, um Dinge zu optimieren und voranzutreiben. Beim neurotischen Perfektionisten wird dieser Trieb jedoch ins Krankhafte gesteigert. Er strebt nicht nach Perfektion, weil er sich an der Perfektion erfreut, ihm geht es vielmehr um seine Unantastbarkeit. Im Grunde sprechen wir hier von einem Vermeidungsverhalten. Denn wenn er perfekte Leistung abliefert, kann er nicht kritisiert werden. Sein primäres Ziel ist das Streben nach Sicherheit, die er jedoch nie erreichen wird, da es so etwas wie »perfekte Perfektion« nicht gibt.
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Die Kombination aus der Fähigkeit, sich über das Erreichte wahrhaftig zu freuen und es positiv zu bewerten, und dem Wunsch, sich weiter zu verbessern, unterscheidet den normalen vom neurotischen Perfektionisten.
Aufgrund der wirtschaftlichen Situation und dem damit einhergehenden Wettbewerbs- und Leistungsdruck hat sich in den letzten Jahren das Streben nach Perfektion enorm gesteigert. Es gibt anscheinend immer mehr Menschen, die unter dem Zwang zur neurotischen Perfektion leiden und sich durch das extreme Streben nach Perfektion in die Krankheit treiben lassen. Psychosomatische Krankheiten wie etwa Depressionen und Burn-out, aber auch Krankheiten wie Magen-Darm-Beschwerden, Kopf- und Rückenschmerzen, Herzrasen, Schwindel und chronische Erschöpfung kommen durch den Drang nach übermäßiger Perfektion und den dadurch entstehenden Druck immer häufiger vor.
»Kämen wir perfekt zur Welt, wofür wäre dann das Leben gut?«
Anke Maggauer-Kirsche (*1948), deutsche Lyrikerin, Aphoristikerin und ehemalige Betagtenbetreuerin in der Schweiz
In meiner Jugend unterlag ich genau diesem neurotischen Perfektionismus. Es war gleichgültig, welche Leistungen ich erbrachte, welche selbst auferlegten Vorgaben ich erfüllte: Ich konnte es nicht als Erfolg verbuchen. Wenn ich Fehler machte, nahm ich es persönlich. So verstärkte sich das Gefühl, dass ich nichts konnte und nichts oder nicht viel wert war. Ein Teufelskreis, denn dies führte wiederum dazu, mich noch mehr anzustrengen, um noch besser zu sein. Ich steckte in der Perfektionismusfalle fest, was bei mir letztendlich (zusammen mit anderen Gründen) zum Selbstmordversuch führte. Hierüber berichte ich in meinem Buch »Glücksmacher. Zum Glück gibt’s … Wege«, daher gehe ich hier nicht ausführlicher darauf ein. Fest steht: Ich erkannte das Verhängnis, in dem ich mich befand, nicht, ich war nicht in der Lage, überhaupt auch nur zu sehen, dass ich in der Perfektionismusfalle festsaß.
Das Streben nach Verbesserung war nicht das Problem. Mein Problem bestand vielmehr darin, dass ich Erfolge nicht als solche verzeichnen konnte und kein Glücksgefühl zuließ, wenn ich etwas erreicht hatte. Im Grunde war der Mangel an Selbstvertrauen, der Mangel an Eigenliebe die Ursache für das zu starke Streben nach Perfektion. Ich war dem Trugschluss erlegen, dass die dadurch erfahrene Anerkennung dazu führen würde, dass ich zufriedener und glücklicher würde. Ich erkannte damals noch nicht, dass dazu eine andere Art der Veränderung notwendig war.