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Versäumte Begegnungen

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Karl erlebte ein unbeschwertes erstes Semester mit seinem neuen Freundeskreis. Wie gut, dass er aus der kleinen pommerschen Welt herausgekommen war! Besonders interessant fand er Berichte von Landschulheimen, von denen in diesen Jahren viele betrieben wurden. In der Walkemühle bei Melsungen existierte ein besonderes Beispiel dieser pädagogischen Richtung. Es hieß, einer der dortigen Dozenten sei ein Sozialist. Das faszinierte ihn.

Wie andere kluge Köpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollte der 1896 geborene Hellmuth von Rauschenplat nach den Schrecken des industrialisierten Krieges und dem Zusammenbruch des engstirnigen Kaiserreichs am Aufbau einer gerechteren Gesellschaftsordnung mitwirken, um für die Zukunft Katastrophen zu verhindern.

Diese zukünftige Gesellschaft konnte – darin war er sich mit vielen Linken einig – nur eine sein, die den Kapitalismus, d.h. die Herrschaft der Besitzenden über die Werktätigen und die Orientierung am Profit, überwunden hatte. Alle fortschrittlichen Kräfte träumten während der Jahre der ersten deutschen Demokratie von etwas, das sie Sozialismus nannten.

Auf seinem Weg von der Universität ins Leben hatte von Rauschenplat sich im Jahre 1921 dem von Leonard Nelson gegründeten Internationalen Jugendbund (IJB) angeschlossen. Mit seinen 25 Jahren und dem Studienabschluss samt Promotion in der Tasche fand er hier seinen Platz bei der Gestaltung der Zukunft.

Die streng nach dem Führerprinzip aufgebaute Organisation stellte an ihre Mitglieder hohe Anforderungen. Ein Eintreten für einen „liberalen“ Sozialismus wurde ebenso verlangt wie der Austritt aus der Kirche. Gleichzeitig verpflichtete die von Nelson propagierte neue Lebensform zu vegetarischer Ernährung, weil aus einem umfassenden Weltverständnis heraus der Schutz der Tiere zum richtigen Leben gehörte. Verzicht auf Alkohol und Tabak ergänzten die rigiden Verhaltensregeln.

Ein weiteres Postulat war das der „Bindungslosigkeit“. Wer zum Kreis derer gehören wollte, die eine führende Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaft spielen würden, durfte nicht durch persönliche Bindungen wie Ehe und Freundschaft abgelenkt sein. Sogar schriftliche Korrespondenz mit Angehörigen sollte unterbleiben und sexuelle Kontakte waren nicht erwünscht.

Es leuchtet ein, dass die Rekrutierung von Menschen, die diesen Anforderungen genügen konnten, nicht einfach war. Eine zwingende Logik stand daher hinter dem Aufbau einer eigenen Schulungsstätte. In dem vom Reformpädagogen Ludwig Wunder 1921 gegründeten Landeserziehungsheim Walkemühle fand Nelson die ideale Bildungsstätte.

Sie erhielt 1924 vom preußischen Minister für Wissenschaft Kunst und Volksbildung die Genehmigung zur Aufnahme von grundschulpflichtigen Kindern. Unter der Ägide des IJB widmete sich die Walkemühle nicht nur der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, sondern als eine Art Kaderschmiede der Schulung der für die kommende Gesellschaft benötigten Führungspersonen. Nach Nelsons Lehre war es Aufgabe des IJB und der Nachfolgeorganisation, des ISK, politische Führungspersönlichkeiten auszubilden, die eine Herrschaft der Vernunft installieren könnten. Führer wurden nicht gewählt, sondern sie ernannten sich gewissermaßen selber. Nur die am besten Ausgebildeten mit der höchsten persönlichen Qualität würden die „Partei der Vernunft“ leiten. Die bloße Mehrheit könne einem höheren Wert, dem Recht, nicht zum Durchbruch verhelfen.

Rasch entwickelte sich von Rauschenplat zum wirtschaftspolitischen Kopf der Bewegung. Der Marxismus und insbesondere der historische Materialismus galten als Irrtum, aber eine Umverteilung in Form von Enteignungen wurde trotzdem für notwendig erachtet. Nicht die Produktionsmittel, um die es den marxistischen Gruppen ging, sondern Grund und Boden einschließlich der nicht reproduzierbaren Bodenschätze waren zu vergesellschaften. In diesem Sinne entwickelte er ein Programm.

Der elitäre Zug in dieser Gedankenwelt, die Geringschätzung der „normalen“ Demokratie und die unklaren wirtschaftspolitischen Positionen ließen es der SPD 1925 geboten erscheinen, die Mitgliedschaft im IJB als unvereinbar mit der in der Partei zu erklären. Die ehemaligen Kommunisten und KAPD-Leute wie Schröder und Reichenbach waren der Partei Problem genug. Die KPD hatte einen ähnlichen Beschluss bereits 1922 gefasst.

Nun blieb Nelson und seinen Gefolgsleuten nichts anderes übrig, als die lange angedachte eigene Partei zu gründen. Mit Beginn des Jahres 1926 war die politische Landschaft um eine Facette reicher, nämlich um den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Von Rauschenplat gehörte zu den Mitgründern und bereits ab 1924 lehrte er Ökonomie in der Walkemühle.

Zahlenmäßig und bei den Wahlen, zu denen sie trotz antiparlamentarischen Denkens aufrief, an denen sie aber selber als Partei nicht antrat, spielte diese Gruppierung keine Rolle. In der Zeit des Nationalsozialismus zählten ihre wenigen Mitglieder zu den einfallsreichsten und öffentlichkeitswirksamsten Widerstandskämpfern.

Die Landschulbewegung repräsentierte in den Zwanzigerjahren eine der fortschrittlichen pädagogischen Strömungen, die vom Kadettendrill des Kaiserreichs weg und hin zu einer freien Erziehung unter Anerkennung der Rechte der Kinder und Jugendlichen strebten. Hierzu gehörte u.a. die Anwendung von Grundsätzen der Montessori-Pädagogik und das gleichberechtigte Zusammenleben von Lehrenden und Lernenden.

Auch die Frankfurter pädagogische Akademie reihte sich ein in den Kreis der Bildungsstätten, die an der Modernisierung der öffentlichen Schulbildung teilnehmen und mehr Freiheit und Begeisterung in den Schulen erreichen wollten. Das Walkemühlen-Konzept wollte Karl gern kennenlernen.

„Stell dir vor, die leben mitten in der Natur und lernen gemeinsam mit den Pädagogen. Frontalunterricht von oben herab gibt es nicht.“

Marianne nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse vorsichtig wieder ab.

„Es muss herrlich sein, so mit Kindern zu arbeiten, meint ihr nicht auch?“

Bruno erhob sich. „Ich muss gehen. Die haben mir einen Kellerraum überlassen, in dem ich ein Fotolabor einrichten kann.“

„Oh, wie schön für dich. Was sagst du eigentlich zu diesen Landschulheimen?“

„Ihr wisst ja, ich bin immer für praktische Anschauung. Vielleicht können wir die Akademie dazu bringen, eine Exkursion nach Melsungen anzubieten.“

„Gute Idee!“

Im nächsten Jahr würden die drei Freunde die Walkemühle und von Rauschenplat kurz sehen. Danach wäre es für Karl im Juni 1946 wieder fast so weit gewesen. Er wurde aus der amerikanischen Denkfabrik für den demokratischen Aufbau Deutschlands in Fort Kearney zum Schulfunk bei Radio Stuttgart berufen. Dort war der Emigrant aus England, Dr. Hellmuth von Rauschenplat, gerade gezwungen worden, den Sender wieder zu verlassen. Im Mai 1945 war er im Auftrag eines amerikanischen Geheimdienstes, des Office of Strategic Services des Kriegsministeriums (OSS), in die Stadt geschickt worden war, zu der er bis dahin ebenso viel Beziehung hatte wie der andere, nämlich gar keine.

Persönlich sind die beiden einander dann nach dem 1. September 1949 begegnet, als von Rauschenplat unter seinem amtlich anerkannten Tarnnamen Fritz Eberhard, den er sich in der Zeit des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zugelegt hatte, überraschend Intendant von Radio Stuttgart geworden war. Zu diesem Zeitpunkt war Karl bereits angezählt.

Eine erste Begegnung stand ihnen im Sommer 1930 bevor. Der Vorschlag der Studierenden, eine Exkursion zu modernen Landschulheimen anzubieten, war von der Akademie aufgegriffen worden.

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