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Uniformen

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Im Januar 1930 kehrten Karl und seine neuen Freunde aus den Weihnachtsfreien nach Frankfurt zurück. Marianne erschien ihm begehrenswerter als im Jahr zuvor. Es ließ sich nicht leugnen: Er war verliebt. Was ihm daher zunächst etwas aus dem Blick geriet, war die Tatsache, dass sich die politische und wirtschaftliche Situation im deutschen Reich verschlimmert hatten. Das galt auch für die Mainmetropole.

Der Börsenkrach an der Wall Street vom Oktober 1929 verursachte erhebliche Probleme in der deutschen Wirtschaft. Überkapazitäten waren entstanden und die Zahl der Konkurse stieg rapide, wie sich gleichermaßen das Heer der Arbeitslosen täglich vergrößerte.

Dass Eintracht Frankfurt mit dem Sieg über Waldhof Mannheim am 30. März vorzeitig süddeutscher Meister geworden war, konnte an der Wahrnehmung dieser großen und umfassenden Katastrophe allenfalls für diejenigen etwas ändern, die sich für Fußball begeisterten. Dazu gehörte Karl zeitlebens nicht.

Es war für ihn und mehr noch für Marianne eine nicht nachvollziehbare Entscheidung der Frankfurter Stadtväter gewesen, den für den 2. März geplanten Faschingsumzug wegen des für diesen Tag im Waldstadion angesetzten Fußballländerspiels gegen Italien abzusagen. Dass die deutsche Nationalmannschaft das Spiel mit 0:2 verlor, geschah den Frankfurtern nach Mariannes Meinung gerade recht. Sie hatte sich auf den Umzug gefreut. Vielleicht hätten sie in den Straßen miteinander tanzen können.

Am 27. April wanderten die beiden jungen Parteigenossen Karl und Bruno wieder zum Hauptfriedhof, auf dem ein Denkmal für die vor einem Jahr ermordeten Reichsbannerleute enthüllt wurde. Tausende waren gekommen. Der Redner rief die Arbeiterklasse zur Geschlossenheit auf, die man in vier Tagen, am 1. Mai, gleich demonstrieren könne und warnte vor dem Nazigift, das bei vielen Arbeitern geistige Verwirrung hervorgerufen habe. Nicht einmal die Hymne der Arbeiterklasse hätten die Provokateure der Nazis verschont. Sie sängen tatsächlich zur Melodie von ‚Brüder zur Sonne zur Freiheit‘ Hitler verherrlichende Texte wie: „Einst kommt der Tag der Rache, einmal da werden wir frei: schaffendes Deutschland erwache, brich deine Ketten entzwei.“ Die Nazis meinten mit den Ketten nämlich nicht die des Kapitalismus. Der Redner ereiferte sich und unversehens verfiel er in einen pathetischen, fast pastoralen Ton:

„Wir lassen uns dieses Lied nicht stehlen, Genossen. Die Zukunft gehört der Arbeiterklasse! Stimmt mit ein!“

Ein paar Gitarren und eine Schalmei setzten ein und umgehend erklang aus tausenden von Kehlen das Lied mit dem bewährten Text: „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor. Hell aus dem dunklen Vergang’nen leuchtet die Zukunft hervor.“

Marianne und Thea, denen die zwei Jungsozialisten von der Veranstaltung berichteten, erklärten sich erstmals bereit, auf eine SPD-Veranstaltung mitzugehen. Man fand die vier unter den Teilnehmern der Maifeier von Sozialdemokratie und Gewerkschaften im Schumann-Theater und anschließend unter den 15.000 Demonstranten in der Innenstadt. Gegen diese geballte Macht traute sich nicht einmal die sonst so schlagkräftige SA auf die Straße. Man traf sich an anderer Stelle zur eigenen Maifeier.

In dem Demonstrationszug wurde mit großer Begeisterung die Internationale gesungen. Marianne hörte sie zum ersten Mal und ihr gefiel das Lied mit seinem kämpferischen Text und der schmissigen Melodie sofort. Sie hat es bei späteren Wanderungen immer wieder angestimmt, denn nun hatte sie erstmals die Signale gehört.

Die KPD hatte sich trotz aller Einheitsfrontparolen nicht dem Zug angeschlossen. Sie hielt ihre eigene Maifeier auf dem Opernplatz ab und demonstrierte anschließend durch die Altstadt zum Römerberg. Am Abend zogen 1500 Kommunisten mit Fackeln durch die Stadt. Beim Anblick dieses Zuges und dem romantischen Flackern der Feuer auf dem Römerplatz, das von den Butzenscheiben der altehrwürdigen Fachwerkhäuser reflektiert wurde, bedauerte Marianne, Sozialdemokraten und nicht Kommunisten kennengelernt zu haben.

„Weißt du Thea, irgendwie haben die mehr Schwung.“

Für Karl und seine drei Studienfreunde bot sich am Abend dieses ersten Mai Gelegenheit, die politischen und die kulturellen Interessen gemeinsam zu befriedigen. In der Frankfurter Festhalle hatte das von SPD und Gewerkschaft gebildete „Kulturkartell der modernen Arbeiterklasse“ eine Aufführung des Antikriegsstücks „Kreuzzug der Maschine“ von Lobo Frank organisiert.

„Da müssen wir unbedingt hin! So viele Menschen auf einer Bühne hat es noch nie gegeben.“

Unter der gewaltigen Kuppel aus Eisen und Glas verloren sich die tausend Mitwirkenden in dieser riesigen Arena beinahe. Karl konnte sich der Wirkung dieser Aufführung nicht entziehen, in der fünf Chöre, das Orchester des Frankfurter Opernhauses und zahlreiche Tänzer den Kampf der Menschenmassen mit dem Mammon und seinem Werkzeug, der Maschine, darstellten. Im zweiten Teil – mit dem Titel Golgatha – wurde vorgeführt, dass die Herrschaft der Maschine und ihrer Besitzer, der Mammonisten, unweigerlich zu Elend und Tod führen muss. Aus der Erfahrung des Krieges wurde sogar der Tod durch Giftgas thematisiert. Im dritten Teil besannen sich die Proleten und standen miteinander auf. Die Maschinenwelt brach zusammen. Der Sozialismus wurde errichtet.

Für Bruno und Karl lag die Botschaft des Werkes klar und nachvollziehbar auf der Hand: Kapitalismus führt zu Diktatur und Krieg! Der Sozialismus muss auf den Trümmern der alten Welt aufgebaut werden! Dafür mussten sie arbeiten. Das so wortreich und theatralisch beschriebene Elend der Arbeiter war in Gestalt des anwachsenden Heeres der Arbeitslosen, die kaum genug zum Leben hatten, täglich auf den Straßen zu sehen.

Marianne fühlte sich als Teil der Menschenmenge in der riesigen Halle nicht wirklich wohl. Die Massen als politischer Begriff und als Subjekt der dringend notwendigen Revolution lagen ihr zwar am Herzen, aber nicht die realen Massen in Hallen, auf Plätzen oder in Stadien. Oft hatte sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass Massen auf den Straßen Ausgangspunkt körperlicher Gewalt waren, die sie zutiefst verabscheute.

Der preußische Innenminister hatte sich aus verfassungsrechtlichen Gründen Ende März gezwungen gesehen, das generelle Verbot von Versammlungen und Umzügen unter freiem Himmel aufzuheben. Das führte umgehend zum Wiederaufflammen der Straßenkämpfe. Die dabei zutage tretende Zunahme der organisierten Gewalt der SA-Schlägertrupps nahm die preußische Regierung Ende Mai 1930 zum Anlass, ein generelles Uniformverbot zu verhängen. Das bezog sich in der Realität vor allem auf die Nazis, die mit ihren braunen Hemden, den einheitlichen Schirmmützen, den Reitstiefeln und ihrem Emblem mit dem stilisierten Blitz den Eindruck einer einheitlichen Truppe vermittelten. Diese Verkleidung entsprach ihrem Anspruch, anstelle der Reichswehr der bewaffnete Arm der Bewegung zu sein. Außerdem fühlte man sich in der Gruppe Gleichgesinnter und Gleichgekleideter stark.

Schon am 16. Juni demonstrierte die SA auf dem Börsenplatz gegen dieses Uniformverbot und die grimmig blickenden Männer wirkten in ihren weißen Hemden und dunklen Hosen nicht weniger bedrohlich und kaum weniger uniformiert als vorher.

Die SA hatte außerdem mit Unterstützung durch kapitalkräftige Kreise Fahrzeuge anschaffen können. Bereits 1928 wurden die motorisierten Abteilungen der SA zu einem Teil der Propagandamaschine der NSDAP. Im April 1930 war das Nationalsozialistische Automobilkorps entstanden, das dem Obersten SA-Führer unterstellt war. Die Mitglieder stellten ihre Fahrzeuge freiwillig zur Verfügung. Sie fuhren in diesem Jahr häufig mit Dutzenden von Uniformierten auf offenen Pritschen von Lastwagen – manchmal sogar mit Anhänger – laut johlend durch Frankfurt. Das taten sie nach dem von ihnen verspotteten Uniformverbot erst recht, da sie sich darauf beriefen, diese Fahrten seien keine von der Verbotsverordnung erfassten Demonstrationszüge. Eine Entscheidung des bereits seit 1875 bestehenden hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Darmstadt hierzu gab es nicht.

Geholfen hat die polizeiliche Maßnahme ohnehin nichts, da die Männer der SA ab deren Inkrafttreten einheitlich weiße Hemden trugen. Sie beugten sich damit – wenn auch zähneknirschend – der von der Parteiführung seit Neuestem propagierten Legalitätspolitik. Schließlich wollte die NSDAP bis in bürgerliche Kreise hinein anerkannt und gewählt werden.

Für Adolf Hitler und seinen Schmusekurs mit den bürgerlichen Wählern war die SA im Reich und vor allem in Berlin in dieser Zeit zu einem Problem geworden. Sie war formal eine unabhängige Organisation und strebte eine Machtübernahme durch Gewalt an, weshalb sie den Legalitätskurs Hitlers ablehnte.

Im August 1930 forderte der Oberste SA-Führer (OSAF) Pfeffer von Hitler, führende Leute der SA auf der Reichstagswahlliste zu platzieren. Als dies verweigert wurde, trat er zurück. Daraufhin ließ sein Stellvertreter Ost in Berlin, Walter Stennes, die Gaugeschäftsführung in Berlin besetzen. Auch in Bayern kam es zu Besetzungen von Parteibüros. Hitler sah sich gezwungen, die Hauptstadt der Bewegung, München, zu verlassen und nach Berlin zu kommen. Am 2. September übernahm er selbst die Führung der SA.

Trotz der Ereignisse in Frankfurt hatten sich Karl und Bruno nicht entschließen können, dem Reichsbanner beizutreten. Es war es ihnen ein wenig unangenehm, als sie die eindringliche Aufforderung hierzu im Programmheft der Aufführung von „Kreuzzug der Maschine“ im Mai gelesen hatten und ihr nicht Folge leisten wollten: „Du Parteigenosse, Gewerkschaftskollege kennst die heutige politische Situation, in der wir uns befinden. Nationalsozialisten, Kommunisten und wie sie alle heißen, versuchen, deine Organisation zu zerschlagen. Deshalb mußt Du auch der Organisation angehören, die den Schutz des heutigen Saales übernommen hat, die gemeinsam mit der Partei und den freien Gewerkschaften die Abwehrfront gegen den Ansturm der Reaktion bildet. Pflicht jedes Organisierten ist es deshalb Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zu werden. Anmeldung: Frankfurt am Main, Battonnstraße 4-8 II.“

Karl hasste und fürchtete körperliche Gewalt. Außerdem begann jetzt die Endphase des Studiums und er würde keine übrige Zeit für Treffen und Übungen haben. Mit dem letzten Argument wollte er seine Haltung begründen, sollte er darauf angesprochen werden. Aber tatsächlich war dies nie der Fall, da die SPD-Genossen mit den Studenten in ihren Reihen immer noch etwas fremdelten.

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