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Annäherungen
ОглавлениеIn den Erinnerungen an die Zeit des Studiums standen für Karl und in noch größerem Ausmaß für Marianne die Unternehmungen der rasch entstandenen Freundesgruppe im Vordergrund.
Da gab es zunächst den Genossen Bruno Laub, mit dem er auftragsgemäß sofort Kontakt aufgenommen hatte. Bruno hatte im Parteibüro der Frankfurter SPD schlimme Neuigkeiten erfahren, als er dort vorgesprochen hatte. Kurz vor ihrem Studienbeginn im Mai 1929 hatten die Straßenschlachten zwischen der SA und den Angehörigen des Rotfrontkämpferbundes und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold erste Todesopfer gefordert. Am Abend des 27. April hatten die Nationalsozialisten von der Berger Straße aus einen Propagandaumzug durch die Stadt durchgeführt. Erst spät in der Nacht hatte sich die Menge am Hessendenkmal aufgelöst. Auch das Reichsbanner war mit einem großen Umzug in der Stadt unterwegs.
Spät in der Nacht stießen Teilnehmer der beiden Demonstrationen aufeinander. Gegen ein Uhr morgens wurden bei einer in rasendem Tempo eskalierenden Schlägerei in der Langen Straße zwei Reichsbannerleute von Braunhemden tödlich verletzt. In der Stadt spüre man noch Verunsicherung, Trauer und Wut, habe der Parteisekretär berichtet.
Viele hatten in diesen Monaten gehofft, dass die Nazis nach ihren schwachen Wahlergebnissen vom Mai des Vorjahres allmählich aus dem öffentlichen Leben verschwinden würden, denn eigentlich hatte sich die Wirtschaft relativ gut erholt und es bestand Hoffnung auf eine weitere Verbesserung. Seit dem Frühjahr regierte im Reich eine große Koalition aus SPD, DDP, DVP, BVP und dem Zentrum unter Führung der gestärkt aus den Wahlen von 1928 hervorgegangenen Sozialdemokraten.
Diese Stabilisierung änderte allerdings nichts daran, dass die SA aus dem nach wie vor großen Heer der Arbeitslosen, aber auch aus kriminellen Banden Zulauf erhielt und ihre Stärke auf den Straßen zeigte. Die braunen Hemden wurden zum Sinnbild unkontrollierter Gewalt und zum Schreckbild der Bürger. Unter den Hemden fanden sich Messer, Schlagstöcke und andere Waffen. Die SPD fasste auch in Frankfurt zahlreiche Mitglieder im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zusammen, um Angriffe der Nazis abwehren zu können. Dass man den Tod der beiden Genossen am 28. April nicht hatte verhindern können, traf die Partei ins Mark.
Karl und Bruno waren quasi verpflichtet gewesen, am 3. Mai zu der von der SPD veranstalteten Protestversammlung im Volksbildungsheim zu erscheinen und sich an der anschließenden Demonstration zu beteiligen. Starke Polizeikräfte verhinderten an diesem Tag, dass die SA, die mit Hassgesängen und –rufen den Zug stören wollte, Gelegenheit dazu bekam. Die Beerdigung der beiden Opfer auf dem Hauptfriedhof am folgenden Tag wurde zu einer – vielleicht der letzten – Großdemonstration der Linken durch die gesamte Innenstadt.
Zurück in der Akademie mussten sich die beiden Jungsozialisten mit dem Studienbeginn und ihrer politischen Aufgabe befassen. Wie die zu gründende Hochschulgruppe aussehen sollte, war ihnen nicht klar. Sie dachten über Vorträge und Aktionen nach, z.B. über einen Aufruf zur Teilnahme an der Demonstration des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold am 1. August gegen Krieg und für den Weltfrieden bei dem Denkmal „Den Opfern“, des Bildhauers Benno Elkan, das 1920 in der Gallusanlage errichtet worden war. Im Kreise der zahllosen SPD-Genossen auf dem Hauptfriedhof hatten sie ein großes Solidaritätsgefühl erlebt. Gemeinsam mit den Genossen sollten die Nazis zu besiegen sein! Diese Botschaft musste den anderen Studenten vermittelt werden, dann würden sie mitmachen. Zu dem alsbald angesetzten ersten Abend in den Räumen der Akademie erschienen allerdings nur fünf Leute, allen voran die zwei Frauen aus Berlin.
Es entbehrt daher nicht einer gewissen Logik, dass Karl und Bruno sich mehr als der politischen Pflicht den Kommilitoninnen Marianne und ihrer Schulfreundin Thea widmeten, mit welchen sie bald eine unzertrennliche private Gruppe bildeten. Auch sie gehörten zu den „Auswärtigen“, die neu in Frankfurt waren und sich orientieren mussten. Vorsichtshalber hatte Bruno den beiden Frauen bei einem ersten gemeinsamen Cafébesuch, zu dem sie sich von einer langweiligen Stadtführung ihrer Geschichtsprofessorin davongestohlen hatten, eine Warnung zukommen lassen.
„Wir müssen euch etwas gestehen: Wir beide, der Karl und ich, sind in der SPD. Nur damit ihr Bescheid wisst!“
Der sich rasch entwickelnden Freundschaft tat dies keinen Abbruch. Die vier verbrachten seit dieser Offenbarung fast ihre gesamte Freizeit miteinander.
Naturerlebnisse suchten sie alle vier und die wurden um Frankfurt herum reichlich geboten. Karl mit seiner Wandervogelvergangenheit, Bruno, der als Zimmermannslehrling das Deutsche Reich durchwandert hatte und die beiden schwärmerischen Berliner Damen fanden über gemeinsames Singen und bei den oft mehrtägigen Wanderungen mit Übernachtung im Heuschober oder einer Jugendherberge zueinander.
Einmal, dies ist in den 1988 geschriebenen Lebenserinnerungen von Marianne zu lesen, seien sie in den ausgedehnten Wäldern des Spessarts von der Dunkelheit überrascht worden und hätten sich nicht anders zu helfen gewusst, als auf dem kalten und überraschend harten Waldboden zu nächtigen. Da war bald Schluss mit Naturromantik und sie waren alle vier froh, sich aneinander wärmen zu können.
Karl hatte in seiner Familie und mit der kranken Mutter gelernt, dass Männer Frauen beschützen müssen. Für Bruno war das ebenfalls Ehrenpflicht. Deshalb haben die beiden Sozis die Kommilitoninnen zwischen sich genommen, sie gewärmt und Geräusche wie den Ruf des Käuzchens oder das Knacken von Ästen unter den Tritten eines Tieres mit beruhigenden Worten kommentiert. Karl spürte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal Mariannes Herzschlag und konnte darüber kaum schlafen.
„Ist es nicht herrlich, so am Busen der Natur aufzuwachen! Hört nur den Buchfink.“
Marianne begrüßte die drei mit der Morgenröte. Alle Ängste der Nacht waren verflogen und ihr noch junges Kreuz zwickte bald nicht mehr. Karl kannte zwar den Buchfink nicht und Mariannes Busen wäre ihm lieber gewesen als der der Natur, aber gefreut hat er sich über die erste gemeinsam verbrachte Nacht und das Vogelgezwitscher klang auf einmal melodisch.
Marianne schrieb damals in ihr Tagebuch, der Karl habe ihr gleich gut gefallen, als sie ihn erstmals die dunkle Eichentreppe im Eingangsbereich der Akademie habe herunterkommen sehen. Er trug seinen Russenkittel mit der Schmuckborte und dem schmalen Stehkragen, in dem Bruno ihn auf einem Foto von 1930 verewigt hat. Trotz aller Skepsis gegenüber der Sowjetunion hielt er das Russische hoch im Kurs. In späteren Briefen an Marianne verwendete er gern den Vornamen Ilja, was gut zu dem Kittel passte.
Karl war ziemlich bald verliebt in die Schönheit aus der Reichshauptstadt, deren Blick aus grünlichen Katzenaugen durch eine eigentlich gar nicht wahrnehmbare, minimale Abweichung von der zentralen Achse, etwas Geheimnisvolles ausstrahlte. Außerdem war sie lebhaft, witzig und offen für Neues. Das alsbald entstandene Gefühl ließ die Erinnerung an seine Kusine Inge verblassen.
Es erwies sich als hilfreich, dass er Gitarre spielen konnte und aus der Wandervogelzeit Lieder kannte, die Marianne nicht fremd waren, obwohl sie in Berlin eher Tennis gespielt und Theater oder Konzerte besucht, als an Wandervogeltreffen teilgenommen hatte. Naturerlebnisse waren ihr zeitlebens wichtig. Sie brachten ihren romantisch-elegischen Persönlichkeitsanteil zum Schwingen. Wenn Karl das damals verbreitete Männerbundlied „Jenseits des Tales standen ihre Zelte“ anstimmte, überkam sie eine süße Melancholie und ein leichter Flor umspielte ihre Augen.
Karl hatte das bemerkt und setzte dieses Mittel gerne ein, etwa, wenn sie nach einer Wanderung im Innenhof der Burgruine Münzenberg bei Butzbach lagerten. Er wusste nicht, dass dieses Lied wie viele andere von der Wandervogelbewegung kommende, zu einem Lieblingsgesang der Hitlerjugend mutieren sollte. Allerdings hat der „Reichsjugendführer“ der Nazis, Baldur von Schirach, bereits Ende 1933 die homoerotischen Anspielungen in der dritten und vierten Strophe bereinigen lassen, bevor das neue Gesangbuch „Blut und Ehre“ an die Gruppen der Hitlerjugend ausgeliefert wurde. Die Frau tauchte wie in der Urfassung als personifizierte Versuchung in Gestalt der „Marketenderin“ auf, aber der junge König verzehrte sich nicht mehr nach den „knabenfrischen“, sondern nach den „jugendfrischen“ Wangen und dem zugehörigen Mund. In diesem Sinn sang auch Karl das Lied.
Wenn er auf Mariannes Gesicht ein Lachen erleben wollte, was er fast ebenso liebte wie ihre Melancholie, sang er – möglichst mit Gitarrenbegleitung - das Couplet vom „Fritze mit dem kalten Schlittschuh in der Hand“, der von seiner angebeteten Emma versetzt wird und im eisigen Wasser um die Rousseauinsel im Berliner Tiergarten Selbstmord begeht. Die „Moral“ dieses Textes kulminiert in den Worten: „Drum ihr Jüngelinge hüt‘ euch vor der Liebe, denn wer liebt, verdient ja nichts als Hiebe. Denn ihr seht, wie Fritz den Tod hier fand, mit dem kalten Schlittschuh in der Hand.“
Als Steigerung in einer solchen Darbietung kam die Moritat „Herrjeh, was sind wir Männer schlecht bestellt, ja, Sie können’s glauben wir, gäb‘s nur keine Weibsleut auf der Welt, alle lebten glücklich wir!“ zum Vortrag, ein Lied, das in zahlreichen Strophen anhand von Beispielen aus der Geschichte und der Bibel aufzeigt, wie Frauenlist und –falschheit Männer zu Tode bringt.
Es mutet seltsam an, dass diese beiden Werke, die im Gegensatz zu der von Karl mit Überzeugung vertretenen Gleichberechtigung der Frau standen, ihn bis zu seinem Lebensende begleitet und bei jeder Wiederholung mit geradezu spitzbübischer Freude erfüllt haben.
An solchen Darbietungen lag es nicht, dass Marianne ihm sehr bald zu verstehen gab, sie sei an einer Liebesbeziehung derzeit nicht interessiert. Vermutlich stachelte ihn das eher an. Sie sprach von einer großen Liebe und der Enttäuschung über deren Verlust, die sie aus Berlin mitgebracht habe, weshalb die Avancen des neuen Freundes noch nicht willkommen seien.
Tanzen konnte Karl gut, schreibt Marianne weiter. Es half ihm bei der vorsichtigen Annäherung an die Angebetete. In der Akademie waren viele musikalische Leute versammelt, da die Beherrschung eines Instruments zu den Zulassungsvoraussetzungen für das Studium gehörte. Tanzabende wurden organisiert, in denen neben Karl auch Bruno als Salonlöwe auf dem sprichwörtlichen Parkett brillierte.
Neben modernen Tänzen liebte er den Langsamen Walzer, weil er sich wunderbar zum Anschmiegen und In-die-Augen-Schauen eignete. Mit einem verstimmten Klavier, mehreren Gitarren, der unvermeidlichen Blockflöte und einem improvisierten Schlagzeug bildete sich bei solchen Gelegenheiten eine spontane Combo. Im zweiten Semester brachte Karl sein Akkordeon mit und komplettierte die Musikgruppe mit dessen metallischem Klang.
Zu besonderen Anlässen tranken die vier Freunde miteinander Tee aus dem modischen Art-déco-Service mit den rhombenförmigen Verzierungen, das sich Marianne und Thea für ihre gemeinsame Wohnung in der Gartenstraße gekauft hatten und auf das sie sehr stolz waren. Es ließ sich nicht übersehen: Die vier Auswärtigen waren unzertrennlich.
Im Juli besuchten sie eines der in dieser Endphase der Weimarer Republik beliebten Tanzcafés in der Frankfurter Innenstadt. Solche Etablissements kannten die beiden Frauen aus Berlin, wo sie zum Bild der „Goldenen Zwanziger“ gehörten wie Bubikopffrisur und Zigarettenspitze. Auch in den Frankfurter Betrieben wurde Shimmy getanzt. Die hierzu gehörende, aus den USA herübergekommene ekstatische Musik hatten sie oft gehört und sie kannten die typischen rhythmischen Zuckungen der Schultern und den Bump, das abrupte Vorstoßen des Unterkörpers, die diesem Tanz etwas Elementares und auch ein wenig Ordinäres gaben.
Shimmy war der Tanz, mit dem sich der Maler Otto Dix 1923 in das Herz seiner Martha getanzt hatte und in seinem 1927/28 entstandenen Hauptwerk, das im Stuttgarter Kunstmuseum zu bewundern ist, in dem grandiosen Gemälde ‚Großstadttriptychon‘ kann man genau diese Musik geradezu hören, die die Tänzerinnen und Tänzer zu den Klängen der Jazzcombo in seltsame Verrenkungen zwingt.
Nach anfänglichem Zögern konnte Karl sich nicht sattsehen an den zuckenden Bewegungen der beiden Frauen. Er versuchte sich selber im wirbelnden Knäuel der Körper und meist fiel in dem Gedränge auf der Tanzfläche nicht auf, wenn er errötete, weil er zu viele körperliche Details gesehen oder gespürt hatte. Gemeinsames Lieblingsmusikstück der Neufrankfurter wurde der Hit von 1924: „Ausgerechnet Bananen“.
In den Sommerferien des ersten Studienjahres wollten die vier Freunde nicht sofort nach Hause fahren. Ohne ausreichend Geld, aber mit mehr als genügend Enthusiasmus rumpelten sie mit dem Personenzug zu einem ihrer Lieblingsorte, nach Miltenberg. Von dort führte ihre Wanderung in mehreren Tagen durch den Odenwald bis nach Eberbach am Neckar und per Autostopp kamen sie schließlich in Heidelberg an.
Da inzwischen die spärlichen finanziellen Mittel aufgebraucht waren, machte Marianne sich – einer spontanen Idee folgend – auf den Weg zum Jugendamt der Stadt, da sie meinte, dieses müsse jungen Leuten in Not helfen. Von einem mitleidigen und zugleich amüsierten Beamten bekam sie tatsächlich so viel Geld geliehen, dass es ihnen allen zur Rückkehr nach Frankfurt und sogar noch für einen Kaffee reichte. Der großzügige und auf seine Tochter stolze Vater, Carl Bose, überwies die Summe mit freundlichem Dank nach Heidelberg, nachdem sie ihm begeistert von der Akademie und den neuen Freunden berichtet hatte.
Karl und Bruno hatten sich in Heidelberg um die niedrigen Bedürfnisse nicht kümmern können, da sie das Grab von Friedrich Ebert besuchen mussten. Karl erinnerte sich bei dieser Gelegenheit an die Worte seines Onkels, der die Verantwortlichkeit des sozialdemokratischen Reichspräsidenten für die blutige Niederschlagung des Spartakusaufstandes und für den Reichswehreinsatz gegen die revolutionären Arbeiter im Ruhrgebiet im März 1920 anlässlich des Kapp-Putsches mit harten Worten gegeißelt hatte. Aber Ebert gehörte zur Geschichte der Arbeiterbewegung! Man musste ihm die Ehre erweisen!
Nach der Rückkehr aus den Semesterferien setzten die vier Freunde ihr Studentenleben mit seiner Mischung aus Wandervogelaktionen und kulturellem Genuss in der Stadt fort. Aus ihrer bürgerlichen Familie hatte Marianne außer der Freude am Tanz eine kaum stillbare Begeisterung für Kunst und Kultur mitgebracht, die sie mit ihren Freunden teilen wollte. Am besten konnte das gelingen, wenn sich das politische Interesse der Männer und das kulturelle der Frauen deckten oder überschnitten. Am 30. Oktober 1929 erlebten die vier die Frankfurter Erstaufführung des Skandalstücks „Cyankali“ des damals in Stuttgart praktizierenden Arztes und Autors Friedrich Wolf.
Es war bewegend und aufregend, die schrecklichen Folgen des unbarmherzigen § 218 des Strafgesetzbuches, den die beiden Männer klar als ein Instrument der Unterdrückung in der kapitalistischen Gesellschaft analysierten, in Form eines intensiven Theaterstücks zu sehen. Sie nahmen natürlich die Gelegenheit wahr, mit dem im Theater anwesenden Autor zu sprechen.
„Die Frauen werden in die Illegalität getrieben und zu ihrer menschlichen Not kommt der Knüppel des Strafrechts hinzu. Das ist wahrhaft unmenschlich! Und wenn es keine legale Möglichkeit gibt – auch in krassen Fällen – bleibt nur der Gang zur Engelmacherin und damit das tödliche Risiko.“
Friedrich Wolf strahlte trotz seiner vierzig Jahre einen jugendlichen Schwung aus. Auch bei diesem ernsten Thema waren die Lachfalten in seinen Augenwinkeln nicht zu übersehen, als wäre er jederzeit bereit, sich über einen guten Witz zu amüsieren.
Auch den Studenten der Akademie blieb nicht verborgen, dass sich die wirtschaftliche und damit die politische Situation dramatisch verschärften. Der New Yorker Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 hatte nach und nach auch die deutsche Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Im Reich wurden Ende des Jahres 1929 bereits über 3 Millionen Arbeitslose gezählt, von denen nicht einmal die Hälfte die äußerst bescheidenen Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezog.
Mit Marianne hatte Karl selten über diese katastrophale allgemeine Situation gesprochen. Irgendwie befanden sie sich als Studenten außerhalb des normalen Lebens und außerdem stammten beide aus Beamtenfamilien, in denen die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und damit dem Abstieg zum Glück nicht grassierte.
Die Zeichen der Zeit waren allerdings unübersehbar. Die SA bekam neuen Zulauf und die Straßen der Frankfurter Innenstadt wurden mehrmals wöchentlich zur Bühne von „Umzüge“ genannten Demonstrationen, die sich immer öfter zu Straßenschlachten entwickelten.
Die Kommunisten organisierten ab Mitte Dezember Erwerbslosendemonstrationen, um auf die katastrophale Situation dieser Menschen aufmerksam zu machen. Sie versuchten einmal, das Rathaus zu stürmen. Nazis und die in Hessen starken Freikorps- und Wehrsportverbände attackierten die Demonstrierenden und immer häufiger musste die Polizei eingreifen.
Der Frankfurter Polizeipräsident hatte schließlich als Reaktion auf die Straßenkämpfe, die bereits mehrere Tote gefordert hatten, im Dezember 1929 ein Verbot von Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel erlassen, das am 16. Januar 1930 vom preußischen Innenminister auf das ganze Land ausgedehnt wurde.
Diese Maßnahme führte nicht zu einer Beendigung der blutigen Auseinandersetzungen, die vor allem zwischen der SA, die in Frankfurt zwar recht klein, aber gleichwohl aktiv war, und dem sozialdemokratischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und vor allem dem kommunistischen Rotfrontkämpferbund fast jede Woche wenigstens einmal stattfanden.
Am 1. November erlebte die Stadt eine Sonnenfinsternis. Sie begann um 11.29 Uhr und endete um 13.00 Uhr. Die Studenten der Akademie standen mit schwarz verrußten Glasscherben am Mainufer und Marianne - von einem heiligen Schauer ergriffen - begann, den anderen die Größe des Universums zu erläutern.
An der Akademie ging das Leben seinen gewohnten Gang. Pünktlich am 11. November um 11 Uhr 11 wurde wie jedes Jahr der Karneval eröffnet. Für die Studierenden aus der Frankfurter Umgebung war es närrische Übung, einen Akademiefasching zu organisieren. Den Berlinern und den sonstigen Nord- und Ostdeutschen, die so etwas aus ihrer protestantisch-preußischen Heimat nicht kannten, kam dieses Fest eigenartig vor. Deshalb ging es ihnen bei der zunächst als albern und kindisch empfundenen Verkleidung nicht um ein besonders witziges oder exzentrisches Kostüm. Man musste den Eindruck gewinnen, sie hätten bei ihrer Wahl etwas ausgesucht, was den heimlichen Wünschen an die eigene Erscheinung entsprach. Die Verkleidung war ernst gemeint.
Von diesem Abend existiert eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die Bruno im eigenen Labor im Keller des Akademiegebäudes entwickelt hat. Karl trägt darauf den Russenkittel und eine Kosakenmütze aus weißem Pelz. Unglücklicherweise sind seine Augen auf dem Bild geschlossen und mit seiner typischen Haltung der vor dem Oberkörper gekreuzten Arme wirkt er, als ob er schliefe. Da wundert es nicht, dass die neben ihm sitzende Marianne in ihrem ärmellosen, mit einer asymmetrisch und senkrecht verlaufenden Borte verzierten Kleid und dem glänzenden Stirnband, etwas elegisch in die Kamera schaut. Ihr rechter Ellenbogen stützt sich auf Karls Schulter. Thea sitzt in einem identisch geschnittenen und gestalteten Kleid weiter rechts und blickt abwartend-kritisch zum Fotografen. Beide hätten in ihrer Aufmachung direkt aus dem Dix’schen Großstadttriptychon entstiegen sein können.
In den Weihnachtsferien war Karl zum Fest nach Berlin eingeladen. Marianne feierte mit großer Party, damals Hausball genannt, ihren 20. Geburtstag. Außer seiner Erscheinung hatten seine politischen Aktivitäten sie mehr fasziniert, als sie sich eingestehen wollte.
Zahlreiche Verwandte und Freunde waren in der großbürgerlichen Wohnung der Familie Bose in der Hasenheide 68 versammelt. Das Interesse galt besonders dem Auserwählten. Vater Bose war mit Parteizugehörigkeit und Berufswahl des jungen Mannes sehr einverstanden.
Das Balkonzimmer mit dem Blick auf das grüne Hasenheidegelände war leergeräumt. Es stellte den „Salon“ dar. In einer Ecke stand ein Grammophon. Es wurde getanzt und das war für Karl die Chance, bei Mariannes Freundinnen und Kusinen Eindruck zu machen. Sie war ziemlich stolz auf ihn. Thea blinzelte ihr verschwörerisch zu, als sie einander im Gang begegneten.
„Ich habe dir doch gesagt, dass er wirklich was kann. Geh rasch in dein altes Zimmer und sieh dir an, wie er mit Lore tanzt.“
Marianne hatte selber bemerkt, wie geradezu edel er aussah in den fließenden Bewegungen eines Foxtrott. Beim Tanzen verlor er alles sonst zu beobachtende Linkische. Sein Gesichtsausdruck war gelöst und konzentriert zugleich. Vielleicht war er doch der Richtige.