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Erste Eindrücke

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Waldemar Kuntze hätte nicht gewusst, wie er eine weitere Ausbildung seines Ältesten finanzieren sollte und vor allem wo diese stattfinden könnte. Eine weiterführende Schule gab es 1925 in Schivelbein nicht. Er war deshalb dankbar, dass der Schwager Karl Schröder ihn auf die Möglichkeiten hinwies, die in dieser reformfreudigen Phase der Republik für begabte Söhne und Töchter kleiner Beamter und für Kriegswaisen zur Verfügung standen.

In den mit allem Prunk des Kaiserreichs errichteten, turmgeschmückten Baulichkeiten in Berlin-Lichterfelde, in denen preußische Kadetten seit der Reichsgründung zur Vorbereitung auf das Kriegshandwerk und auf den Eintritt in die Offizierslaufbahn gebüffelt hatten, befand sich seit 1920 die Stabila (staatliche Bildungsanstalt), die nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den verbliebenen Kadettenschülern eine Reformpädagogik versuchte. Hier sollte Karl, der begabte Junge aus Pommern, mit moderner Pädagogik zum Abitur geführt werden, um ein gebildeter Mitbürger des demokratischen Deutschland zu werden. Später, in einem anderen Deutschland, zog hier die Leibstandarte Adolf Hitler ein.

Karl bestand die Aufnahmeprüfung und durfte auf dem Bildungsweg weiter marschieren. Im Abschiedsgruß des wie viele Menschen in Pommern eher maulfaulen Vaters „Mach’s gut, mein Junge!“ schwang Stolz über diesen Aufstieg seines Ältesten mit.

„Mein Bruder wird dir helfen, wenn du nicht weiter weißt“, hatte Elsbeth ihm mit auf den Weg gegeben.

Karls Gefühle beim Abschied von Schivelbein waren trotz Heimweh und schlechtem Gewissen mit einer Spur Erleichterung vermischt. Im Alter von sechzehn Jahren hat man auch andere Wünsche, als die kränkelnde Mutter durch den Stadtpark zu führen und ihr immer, wenn sie es verlangte, einen mitgeschleppten Schemel aufzustellen. Außerdem lebte in der Reichshauptstadt der Onkel mit seiner Aura aus Geheimnis und Abenteuer und der Tochter Inge.

Der erste Besuch bei Familie Schröder bot Gelegenheit, alle drei Töchter, besonders die älteste, wiederzusehen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie ihn immer hatte abblitzen lassen. Vielleicht könnte sich etwas ergeben, da man sich jetzt öfters sehen würde. Vor allem war es aber der charismatische Onkel, der von Anfang an nachhaltigen Eindruck auf Karl machen sollte.

„Karlchen, das ist aber schön, dass du jetzt auch in der Metropole Berlin bist.“

Von zu Hause und der Familie wollte er nur das Allernötigste hören und war auch nicht richtig bei der Sache, als sein Neffe von den Eltern und von seinem Bruder erzählte. Die drei Mädchen hatten unter Hinweis auf ihre Hausarbeitspflichten das Arbeitszimmer verlassen. Vor allem die jüngste, die Ulla, war darüber sehr traurig. Eine schwärmerische Liebe zu dem sieben Jahre älteren Vetter erfüllte sie seit der Kindheit und sie fand es ungerecht, dass nur der Vater mit ihm sprechen durfte.

Auf seinem voll beladenen Schreibtisch hatte Karl Schröder einige handbeschriebene Blätter vor sich liegen und fing sofort an, als in der stockenden Erzählung seines Neffen eine Pause eintrat.

„Die kommunistische Partei hat ihre Seele verkauft und sich zum Knecht von Stalin und seinen Bolschewisten gemacht.“

Einige Sätze fielen Karl ein, die er in Polzin gehört hatte, als die Familie sich zu Weihnachten bei den Großeltern versammelt hatte.

„Aber hast du nicht einmal gesagt, dass die SPD euch hat zusammenschießen lassen?“

„Ja, schon, das war 1919. Aber jetzt sind wir im Jahr 1926 und müssen die Idee des Sozialismus retten … auch in der SPD. Außerdem kommt die wirkliche Gefahr heute aus ganz anderer Richtung.“

„Meinst du von den Nationalsozialisten?“

„Nein, die sind doch weg vom Fenster. Bei der letzten Wahl haben sie die Quittung für ihre chaotischen Streitereien bekommen. Der Hitler ist zwar skandalöser Weise schon wieder aus der Haft entlassen, aber jetzt ist er wohl eher zum Schriftsteller geworden. Nein, ich spreche von der Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD.“

„Das verstehe ich nicht. Du warst doch bei der Gründung dabei.“

„Das ist eine Ewigkeit her und ich sage dir, mein Junge, was die in Russland jetzt veranstalten, das passt nicht auf unsere deutschen Verhältnisse. Dieser georgische Diktator, der Genosse Generalsekretär, hat erreicht, dass alle Kommunisten auf der Welt nur das tun dürfen, was ihm und der Sowjetunion nützt.“

„Du meinst, auch die KPD hier bei uns?“

„Ja, die, die sich heute Vereinigte KPD nennt. Mit Lenin konnte man wenigstens noch reden, auch wenn er und seine Bolschewiki den eigenen deutschen Weg nicht anerkannt haben, aber was jetzt läuft, spottet den Prinzipien des historischen Materialismus. Die Parteikommunisten sind dabei, sich dem sowjetischen Diktat zu unterwerfen, stell dir das vor! Als hätten sie Karl Marx und den historischen Materialismus nicht gelesen oder wieder vergessen.“

Eine Vorstellung vom sowjetischen Diktat fiel dem jungen und politisch unerfahrenen Karl schwer, aber da war es wieder, das Wort, das sein Leben in eine Richtung bringen sollte, die er sich nicht hatte vorstellen können: der historische Materialismus!

„Jetzt gibt es das richtige Programm bei der Kommunistischen Arbeiter Internationale (KAI), die am Räteprinzip festhält.“

„Aha.“ Von denen hatte er noch nie etwas gehört. Er war sicher, dass sein Onkel es ihm schon erklären würde.

Nach der von den Bolschewisten angeordneten und durchgesetzten Änderung der Parteilinie der KPD weg von dem Ziel einer Machtergreifung durch Arbeiterräte und hin zu einer Einheitsfrontpolitik im Oktober 1919 war Karl Schröder wegen „linker Positionen“ aus der KPD, zu deren Gründern er gehört hatte, ausgeschlossen worden. Dieser von außen verordnete Schwenk von der Rätepolitik zur Mitwirkung an dem als Kampfinstrument der Bourgeoisie angesehenen Parlamentarismus hatte die Partei faktisch in zwei große Fraktionen gespalten.

Zusammen mit Bernhard Reichenbach und dem holländischen Kommunisten Anton Pannekoek hatte er im April 1921 die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) gegründet, die den eigenen deutschen Weg zum Kommunismus über Arbeiter- und Bauernräte und die Diktatur des Proletariats, verstanden als Herrschaft der fortschrittlichen Mehrheit über die unaufgeklärte Minderheit, vereint mit allen kommunistischen Parteien der Welt beginnen wollte. Reichenbach war ohne den Umweg über die KPD direkt von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), die sich als die wahre sozialistische Hüterin des Rätegedankens 1917 von der SPD abgespalten hatte, zur Gründung der KAPD hinzugekommen.

Für Karl Schröder, der sich in zahlreichen Publikationen der Bewegung ausführlich zu grundsätzlichen Fragen äußerte, waren Parteien im klassischen Sinn ohnehin kapitalistische Organisationen, die gewissermaßen einem Führer gehörten. Er betrachtete sie in der von ihm und den anderen diagnostizierten „Kolossalkrise der kapitalistischen Weltwirtschaft“ nach dem Ende des Krieges als bloße historische Erscheinungen. Sie stellten mit der Beteiligung an Wahlen und im Parlament letztlich Stützen des Kapitalismus dar.

Die Intellektuellen um ihn glaubten, die „Weltrevolution“ habe begonnen und die wahren Kommunisten könnten nur über die Betriebe an die Macht über die Produktionsmittel gelangen. Nach der dortigen Etablierung einer Herrschaft durch Räte werde man zur Phase der staatlichen Herrschaft in Form der Diktatur des Proletariats übergehen. Deshalb – so die führenden Köpfe der KAPD – sei die Organisation der Proletarier in den Betrieben die eigentliche Aufgabe von echten Kommunisten. Hierzu hatten die Mitglieder der KAPD seit 1920 die Allgemeine Arbeiterunion (AAU) ins Leben gerufen, die nach der Theorie die wichtigere und vor allem die entscheidende Funktion beim Kampf um die Befreiung der Arbeiter haben sollte.

Gemeinsam verbreiteten KAPD und AAU zur ersten regulären Reichstagswahl der Weimarer Republik im Jahr 1920 ein Plakat, in dem es u.a. hieß: „Du sollst nicht wählen. Der Parlamentarismus ist die demokratische Kulisse für die Herrschaft des Kapitals … Alle Macht den Räten. Nieder mit dem Parlament. Übt Wahlboykott.“

Damit reagierten die Männer um Schröder auf die Situation in Deutschland nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes, die sie lediglich als Etappensieg des Kapitals ansahen. Das Bestehen einer revolutionären Situation gerade in Deutschland stand zu diesem Zeitpunkt für sie außer Frage.

„Ich sage dir, Karlchen, wir müssen unseren eigenen Weg in die Zukunft finden!“

Der eigene Weg zum Kommunismus war aber nicht einfach zu beginnen. Die 3. Internationale der kommunistischen Parteien, die im August 1920 ihren zweiten Weltkongress in Moskau abhielt, ließ die paar in die Sowjetunion gereisten Repräsentanten, zu denen neben Schröder auch Reichenbach und Schwab gehörten und ihre KAPD als „sympathisierende Partei mit beratender Stimme provisorisch“ zu. Das geschah erst nach endlosen Palavern und Vorgesprächen – auch mit Lenin persönlich hatte Reichenbach ein langes und letztlich erfolgloses Gespräch. Sie hatten selbstverständlich Vollmitgliedschaft angestrebt, um die internationale Bewegung des Sozialismus (diesen Begriff zogen sie dem des Kommunismus vor) auf die unterschiedlichen Herausforderungen in den verschiedenen Ländern vorzubereiten.

Dennoch stellte die halbe Zulassung zur Komintern einen spektakulären Erfolg dar, da die „richtige“ Vertretung Deutschlands, die KPD, Mitglied des illustren Kreises der Internationale war und es eigentlich keinen Platz für eine zweite kommunistische Partei geben konnte. Sicherlich war nicht nur das durch interne Schwierigkeiten und Probleme bei der Machtsicherung (u.a. Krieg mit Polen) hervorgerufene Desinteresse der sowjetischen Kommunisten an den Besonderheiten in Deutschland für diese Entscheidung verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass die KAPD 1920 mit 80.000 Eingeschriebenen mehr Mitglieder hatte als die KPD, die erst im Dezember 1920 durch die Vereinigung mit der USPD etwas geworden war, was man eine Massenpartei nennen konnte.

Die weitere Entwicklung des Kongresses der Komintern konnte den Delegierten der neu aufgenommenen Partei nicht gefallen. Ohne Diskussion wurden die von Lenin formulierten 21 Leitsätze zur Taktik der kommunistischen Parteien beschlossen und damit jede Eigenständigkeit der nationalen Bewegungen faktisch verboten oder – wie es formuliert wurde – als „trotzkistische Abweichung“ von der richtigen Linie gegeißelt. In der von der KAPD herausgegebenen Zeitschrift „Proletarier“ bezeichnete man das Ergebnis dieser Thesen als „aufs äußerste gesteigerten(n) Kadaverzentralismus“.

Enttäuscht verließ Schröder das Mekka des Kommunismus und der spätere Austritt der KAPD aus der Komintern war nur noch eine Formsache. Die Partei beschloss zwar mehrheitlich den Beitritt zur Komintern und entsandte im November 1920 eine weitere Delegation nach Moskau. Ihre Delegierten nahmen sogar im Sommer 1921 noch am dritten Weltkongress teil, nur um dort zu erfahren, dass man gefälligst die 21 Thesen zu akzeptieren und sich im Übrigen mit der KPD zu vereinigen habe.

Damit war ihnen klar gemacht geworden, dass mit den 21 Leitsätzen ein Primat der sowjetischen Partei in Kraft gesetzt worden war, der die ausländischen Parteien zu Befehlsempfängern degradierte. Von wegen eigener Weg zum Sozialismus, für den sie sich so stark gemacht hatten!

Der Austritt der KAPD aus der 3. Internationale geschah durch nahezu einstimmige Beschlüsse der einzelnen Wirtschaftsbezirke. Bernhard Reichenbach formulierte 1928: „Die Revolution lässt sich durch Kongressbeschluss nicht binden. Sie lebt, sie geht ihren Weg. Wir gehen mit ihr, wir gehen in ihrem Dienste unsern Weg.“ Den verfolgten sie dann auch.

Allerdings war für die durch die Schrecken des 1. Weltkriegs gegangenen Intellektuellen die Idee des Internationalismus nicht gestorben. Zunächst erlitt jedoch die KAPD dasselbe Schicksal wie andere linke Parteien in dieser aufgeregten Phase der Weimarer Republik: Ausschlüsse wegen ideologischer Abweichungen und Austritte wegen inhaltlicher Differenzen hatten die Mitgliederzahl bereits 1921 auf fast die Hälfte (43.000) reduziert, als Schröder und Reichenbach die Spaltung durch Initialisierung einer „Essener Richtung“ vorantrieben, deren Anhänger folgerichtig 1922 förmlich aus der Partei ausgeschlossen wurden.

Die genannten Revolutionäre ließen nicht nach und gründeten mit anderen von der Sowjethegemonie enttäuschten Parteien schon im April 1922 die Kommunistische Arbeiter-Internationale (KAI), die die Aufgabe haben sollte, über die Ländergrenzen hinweg den Zusammenschluss der gleichgerichteten Parteien herbeizuführen und die Idee der Räteregierung zu retten.

Bereits zuvor, im Oktober 1921 hatte sich die AAU gepalten und es entstand neben ihr die Allgemeine Arbeiterunion-Einheitsorganisation (AAU-E), die über die Sammlung der Proletarier in den Betrieben die Revolution vorbereiten wollte. In der politischen Entwicklung der Weimarer Republik und später spielte diese ebenso wie die 1923 durch Ausschlüsse und Abspaltungen reduzierte Gruppe der KAI keine Rolle. Das muss auch Schröder so gesehen haben, da er bereits 1922 der SPD beigetreten war. Reichenbach vollzog diesen Schritt im Jahr 1925.

Dieses vielschichtige und verwirrende Bild der linken Parteienlandschaft, das durch weitere Klein- und Kleinstgruppen zu vervollständigen wäre, war dem Jungen aus Pommern nicht bekannt. Er wusste, dass sein Vater seit Urzeiten in der SPD und als Personalrat bei der Reichsbahn aktiv war. Natürlich hatte er auch von der KPD und deren Distanz zur SPD gewusst, aber die feinen ideologischen Verästelungen, welche die politische Landkarte der späten Zwanzigerjahre aufwies, entzogen sich seiner Kenntnis.

„Weißt du, Karlchen, das ist alles gar nicht so einfach. Wenn du mehr darüber wissen willst, komm morgen Abend einfach mit zum Vorwärts-Haus. Ich werde dort bei den Jungsozialisten über den dialektischen Materialismus sprechen.“

„Gerne, ich werde kommen, aber mir raucht der Kopf. Jetzt muss ich in die Schule zurück.“

„Du nimmst am besten die S-Bahn bis Papestraße und dort steigst du um in Richtung Lichterfelde Ost.“

„Ich kann zu Fuß gehen.“

„Verschätz dich nicht, mein Lieber. Das ist ganz schön weit. Ich geb dir das Fahrgeld.“

Voller Begeisterung trabte Karl zur nahe gelegenen Station. Da war sie, die Einladung zur Teilnahme an der großen revolutionären Bewegung, die den Jungen vom pommerschen Land erreichte. Sie sollte auf fruchtbaren Boden fallen. Er würde alles daransetzen, an der Veranstaltung und an der Revolution teilzunehmen.

Er wusste nicht, ob er die Schule abends verlassen durfte und wenn nicht, wie er das trotzdem anstellen konnte. Irgendwie würde es klappen. Als er in den rot-gelben Wagen der S-Bahn saß, kam er sich erwachsen vor. Wie gut war es, dass er nach Berlin hatte gehen können. Aus dem Gespräch mit dem Onkel hatte er ein Feuer revolutionärer Begeisterung mitgenommen.

Aber jetzt war er müde. Sein Kopf schwankte mit den Bewegungen der ratternden Bahn. Er schreckte hoch, als die Bremsen kreischten. Sein Blick fiel auf die Seitenwand des Wagens über den Fenstern. Überall waren kleine rechteckige Plakate angebracht. Er kniff die Augen zusammen und las: „Feuer breitet sich nicht aus, hast du Minimax im Haus.“

Was für ein Unsinn, dachte er noch, als er vom Bahnhof Lichterfelde den Weg zur Zehlendorfer Straße marschierte.

Sieben Leben

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