Читать книгу Sieben Leben - Stefan Kuntze - Страница 12

Pädagogik und Politik

Оглавление

Im zweiten Studienjahr fand die Exkursion der Frankfurter Akademie zu pädagogischen Pilgerstätten statt. Die Akademie bot zu Beginn der Sommerferien im August 1930 eine Studienfahrt an, die interessierte Lehramtsstudenten nach Wickersdorf in Thüringen und in die Walkemühle in Nordhessen führen sollte. Karl und die drei anderen nahmen daran teil. Der Begriff Landschulheim, der Bildungsreform und Naturverbundenheit assoziieren ließ, hatte sie neugierig gemacht.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren solche Einrichtungen in großer Zahl gegründet worden. Gemeinsam war ihnen das umfassende Zusammenleben von Lehrenden und Lernenden sowie die Platzierung weitab von Städten, möglichst mitten in der Natur.

Von der Walkemühle aus war die Gruppe nach dem Abschluss des Besuchs über die weitläufigen Felder und Wiesen des Pfieffe-Tals vorbei an dem Dorf Adelshausen bis zur Fulda gelaufen, deren Verlauf sie in nördlicher Richtung entlang dem großem östlichem Bogen bis zum Bahnhof Melsungen gefolgt waren. Der Zug wurde in etwa einer halben Stunde dort erwartet.

Vor der Abfahrt fasste der Erziehungswissenschaftler der Akademie, der damals noch in der liberalen Reformtradition stehende Ernst Krieck, das Ergebnis ihrer Exkursion mit knappen Worten zusammen. Er stand mit seiner Studentengruppe auf den knarrenden Holzbohlen des Wartesaals, in dem eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch und altem Bohnerwachs die Nasen reizte, und rekapitulierte die Ergebnisse des Besuchs in der Walkemühle.

„Ihnen ist sicher aufgefallen, dass Minna Specht, die Leiterin, vom ‚Leben in autoritätslosen Gemeinschaften‘ gesprochen hat. Das ist ein ganz entscheidender Punkt! Die moderne Erziehung besteht nämlich nicht in einer wie immer angelegten planmäßigen Einwirkung der Älteren auf die Jugend. Das ist Vergangenheit aus verknöcherter Zeit. Heute wissen wir, dass Erziehung in der Gemeinschaft gewissermaßen von selbst geschieht.“

„Wozu studieren wir dann überhaupt Pädagogik?“

Die Frage war der Kommilitonin Hanna spontan und lauter als beabsichtigt herausgerutscht. Jetzt blickte sie ängstlich zum Professor.

„Das ist eine sehr gute Frage. Lachen Sie nicht über ihre Kollegin.“

Karl warf Hanna einen Blick zu, der zwischen Erstaunen und Herablassung changierte.

„Was meinen Sie, Herr Kuntze?“

Krieck sprach lauter als vorher. Karl zuckte zusammen. Richtig verstanden hatte er das in den Vorlesungen ausgebreitete Erziehungsmodell des Dozenten zwar nicht, aber ein Aspekt war hängen geblieben.

„Es gibt mehrere Schichten“, fing er an.

„Ganz richtig und weiter?“

„Na ja, der Mensch und auch der junge Mensch lebt immer in einer Gruppe oder besser einer Gemeinschaft, zum Beispiel in der Familie und die hat Einfluss auf ihn. Man kann es auch so formulieren: diese Gruppe erzieht ihn.“

Marianne blickte zu ihm hinüber. Er war doch ein kluger Kopf, dieser Karl! Sie hatte Professor Krieck von Anfang an bewundert, geradezu verehrt, aber sie hätte keinen seiner Lehrsätze klar wiedergeben können.

„Wir müssen gleich zum Bahnsteig. Deshalb will ich Sie erlösen. Wir gehen in der Tat von drei Schichten aus, in denen Erziehung stattfindet. Da ist zuerst die unterste, die der unbewussten Wirkungen, denen jeder Mensch unterworfen ist. Die zweite Schicht ist die der bewussten Beeinflussung, etwa in der von Ihnen erwähnten Familie oder am Arbeitsplatz. Erst in der dritten Schicht findet eine organisierte Einwirkung statt. Hier erst bildet sich die wichtige Gemeinschaft, deren höchste Form die Volksgemeinschaft ist. Entscheidend ist, dass Erziehung immer ein wechselseitiger Prozess ist und eben nicht von oben nach unten funktioniert. Für eine solche moderne Form haben Sie in der Walkemühle ein interessantes Beispiel gesehen.“

Mit großem Getöse und ohrenbetäubendem Quietschen kam die preußische Tenderlokomotive des Typs T 9.1, die eigentlich auf den Hauptstrecken als Güterzuglokomotive eingesetzt wurde, mit ihren drei staubverkrusteten Plattformwagen zum Stillsand. Schwarzer Rauch quoll aus dem hohen, sich nach oben erweiternden Schornstein. Zischende Geräusche und das Knallen von Türen vermischten sich mit den Rufen der Bahnhofsbediensteten. Lärmend und ermattet von den vielen Eindrücken enterten die Studenten den Eilzug nach Fulda.

Kurze Zeit nach dieser Exkursion, nämlich im Januar 1932, wandte Krieck sich auch äußerlich durch Beitritt zur NSDAP den Nationalsozialisten zu, zu deren führendem Pädagogen er rasch gemacht wurde. Bereits im April 1933 ernannte man ihn auf ministeriellen Erlass hin zum Professor und anschließend zum Rektor der Universität Frankfurt a.M. Das war der Beginn seines Aufstiegs, der über die Bücherverbrennung auf dem Römerberg am 10. Mai 1933 zur Mitarbeit im Sicherheitsdienst Himmlers, Sektion Wissenschaftliche Spitzeldienste, zum Gaudozentenführer und schließlich zum Ehrenmitglied des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben führen sollte.

Karl und die anderen Exkursionsteilnehmer saßen auf den Holzbänken in der dritten Wagenklasse und kauten an den letzten Resten der säuerlichen Äpfel, die sie auf dem Weg nach Melsungen unter den Bäumen aufgelesen hatten.

„Das ist doch eine richtige bürgerliche Scheiße!“ Bruno liebte deutliche Worte und zur Walkemühle waren sie seiner Meinung nach angebracht.

„Meinst du den Krieck und sein Loblied auf das Führerprinzip?“

Karl sprach leise, um nicht von dem Professor gehört zu werden. Bruno blickte ihn fragend an, da er bei dem Geratter des Waggons nichts verstanden hatte. Marianne neigte sich ihm zu und flüsterte in sein Ohr.

„Natürlich meine ich dieses Landschulheimidyll in der Mühle!“

Karl war es während des Vortrags des Herrn von Rauschenplat und der Schulleiterin Minna Specht aufgefallen, wie sich der Gesichtsausdruck seines Freundes verändert hatte. Marianne hatte ihm warnende Blicke zugeworfen. Auch das war ihm nicht entgangen. Bruno Laub holte noch einmal tief Luft.

„Und ihren Führer haben sie im Schulgelände begraben. Das ist mir vielleicht ein Personenkult! Nein danke!“

Das Grab des bereits 1927 verstorbenen Leonard Nelson befand sich damals in der Tat am östlichen Rand des Geländes der Walkemühle vor einem hölzernen Staketenzaun. Mit dem kleinen Naturstein und einem noch jungen Baum dahinter wirkte es wie eine Wallfahrtsstätte und wurde von den Anhängern des ISK auch als solche betrachtet.

Nachdem die SA die Mühle im März 1933 gestürmt, übernommen und 1936 in die SA-Führerschule im NSDAP-Gau Kurhessen verwandelt hatte, wurde der Leichnam exhumiert und der Grabstein auf den Judenfriedhof des Ortes gebracht.

„Also ich weiß nicht, Bruno, diese Idee der autoritätslosen Erziehung in der Gruppe ist doch kein bürgerlicher Scheiß!“

„Liebe Marianne, was ist denn das für eine Wissenschaft, die der Nelson da gepredigt hat? Erziehung passiert von allein und die Gemeinschaft wird’s schon richten oder so ähnlich. Das ist entweder banal oder gefährlich.“

Karl sah eine Chance, vielleicht noch einmal einen Erfolg zu erzielen und setzte sich zurecht.

„Was heißt denn gefährlich? Wir wissen doch alle, dass wir nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten weiterkommen können – auch auf dem Weg zum Sozialismus.“

Marianne nickte und auch Thea schien beeindruckt. Bruno schüttelte den Kopf.

„Wie wollen wir denn in der Weltgeschichte vorankommen, wenn wir nicht klare Ziele definieren? Das frage ich dich. Dass die Gemeinschaft das höchste Gut sein soll, kann ich ja zur Not noch akzeptieren, aber eine Gemeinschaft ohne Inhalte, ohne Werte, kann doch zu nichts Vernünftigem führen, geschweige denn zur Überwindung des Kapitalismus. Irgendjemand muss diese Werte finden und vorgeben. Darüber muss eine offene Diskussion geführt werden. Wir brauchen die Gemeinschaft mit den richtigen Zielen und nicht selbsternannte Führer, die sie sozusagen ex Kathedra anordnen. Das fehlt mir bei diesem Konzept der völligen Freiwilligkeit des Lernens!“

„Da ist etwas dran. Ich hatte bei unserem Krieck oft das Gefühl, dass er mit dem Modell des Lernens in und mit der Gemeinschaft eine Gruppe von Leuten meint, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Die Nazis reden auch von Volksgemeinschaft und ähnlich schwammigen Dingen und wenn man genau hinschaut, ist damit eine Gemeinschaft von blinden Nachfolgern der Führer gemeint. Und diese Führer stehen wie aus heiterem Himmel plötzlich auf der Bühne. Befasst man sich ein wenig mit den Gedanken, die der Parteivorsitzende Adolf Hitler in seinem Machwerk ‚Mein Kampf‘ abgesondert hat, dann graust einem vor einer Gemeinschaft, die ihm bei seinen verbrecherischen Zielen folgt.“

Das war ein langer Beitrag und Karl war fast außer Atem geraten, weil er unbedingt verhindern wollte, von Bruno oder Marianne unterbrochen zu werden.

„Bravo, gut gebrüllt, Löwe!“

Trotz des ironischen Untertons hörte Karl in dem spontanen Zwischenruf Mariannes eine Anerkennung. Er lehnte sich zurück.

Dabei war die allgemeine politische Situation alles andere als entspannend, da die Nazis mit ihrem antidemokratischen und antisozialistischen Programm und einer krankhaften Betonung des Deutschtums sowie mit Hassbotschaften gegenüber Juden, Kommunisten, Gewerkschaften und nicht zuletzt der SPD, immer mehr Anhänger fanden. Das bedeutete für die im September anstehenden Wahlen nichts Gutes. Die NSDAP, die 1928 noch bei 2,6 % gelegen hatte, wurde immer lauter und präsenter. Der Begriff der Volksgemeinschaft, ergänzt durch das Adjektiv „deutsche“ war ebenso konstituierender Bestandteil ihrer Gedankenwelt wie das hierarchische Denken und Handeln von Führer und Gefolgschaft.

„Lieber Genosse Karl!“

Der Angesprochene zuckte zusammen. Wenn Bruno so anfing, stand eine Belehrung bevor, der er wahrscheinlich nichts entgegenzusetzen hatte.

„Ich glaube nicht, dass es hier um die Nazis und ihre verqueren Ideen geht, auch wenn die gerade politische Erfolge einfahren können. Unser Problem in Deutschland ist doch nach wie vor, dass die „Gemeinschaft“ der Linken – hier verwende ich das Wort gerne – in Form einer Einheitsfront bis heute nicht zustande gekommen ist und dass wir vielleicht nicht mehr viel Zeit dafür haben, sie zu erreichen. Da braucht es kleine elitäre Splittergrüppchen wie zum Beispiel diese Nelson-Jünger am allerwenigsten!“

„Worauf willst du denn jetzt hinaus?“

„Ist euch eigentlich klar, wer hinter dieser ganzen Walkemühle steht und was da außer pädagogischer Romantik noch geboten ist?“

Vorsichtshalber antwortete Karl nicht auf die offensichtlich rhetorisch gestellte Frage.

„Der Rauschenplat ist ein Edelkommunist aus dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund und in der Schule, die wir heute besucht haben, werden die künftigen Kader dieser Gruppe ausgebildet, die die Unwissenden zum ‚liberalen‘ Sozialismus führen sollen.“

„Ich habe nichts gegen Sozialisten und auch nichts gegen den Gedanken der Internationale, das solltest du wissen.“

Karl hatte sich nicht zurückhalten können. Vom ISK wusste er allerdings tatsächlich nichts.

„Hast du so etwas schon einmal gehört: liberaler Sozialismus? Das klingt für mich wie gesetzestreue Anarchie oder kirchlicher Atheismus!“

„Na ja, du hast natürlich Recht, dass ein Sozialismus ohne Herrschaft der Arbeiterklasse über die Produktionsmittel nicht funktionieren kann.“

„So ist es! Mit der romantischen Vorstellung von der Verteilung des Grundbesitzes an alle ist keine der heute brennenden Fragen gelöst und das ist alles, was den Nelsonianern dazu einfällt. Und da ist der Rauschenplat ganz vorne mit dabei!“

Sie waren in Fulda angekommen und mussten umsteigen. Die Wagen des D-Zugs in Richtung Frankfurt waren bequemer und deutlich geräuschärmer als die bisher genutzten. So konnte Bruno Laub seinen Mitreisenden erzählen, was er vom ISK wusste und das war nicht wenig.

Bei Karl blieb hauptsächlich das hängen, was mit dem Prinzip der Führerschaft im ISK zu tun hatte. Die Besten sollten gewissermaßen selber erkennen, dass sie Führer sind und diese Rolle übernehmen. Demokratie sei eine „Narrenbühne, auf der der pfiffigste oder bestbezahlte Schwätzer dem vornehmen und nur auf seine gute Sache bedachten Charakter den Rang abläuft“, hatte Nelson formuliert.

Auch später, als in Berlin die Roten Kämpfer Karl in ihren Bann zogen, hatte er sich manchmal gefragt, wer eigentlich genau wusste und bestimmte, was das Gute und Richtige war, dem man sich verpflichtet fühlte und für das man kämpfte. Bei seinem Onkel und den anderen war er sich allerdings sicher, dass sie es wussten. Sie waren zwar nie gewählt worden, aber an ihrer Position als ideologische Führer zweifelte niemand.

Zurück in Frankfurt standen Karl zwei entscheidende und für sein zukünftiges Leben bedeutsame Ereignisse bevor: Das erste sexuelle Erlebnis und die Abschlussprüfung der Akademie.

Sieben Leben

Подняться наверх