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Ein Unwetter

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Am 13. Juni 1930 richtete ein Unwetter mit Hagelschlag und Überschwemmungen in Sachsenhausen erhebliche Schäden an. Karl begleitete an diesem Tag nach den Vorlesungen Marianne in die Gartenstraße. Unterwegs wurden sie vom Sturzregen überrascht. Als er sie in den Arm nahm und versuchte, sie mit seiner Tasche vor den Wassermassen zu schützen, lachte sie und gab ihm den ersten Kuss.

In einem Liebesfilm hätte sich die durchnässte Schönheit ängstlich an ihren Helden geschmiegt, schmachtende Blicke geworfen und ein inniger, mehrminütiger Kuss wäre alsbald unvermeidlich gewesen. Über die in Großaufnahme gezeigten Gesichter liefe dekorativ Wasser. Solche künstliche Romantik war Marianne fremd, aber sie hatte nun endlich ihren Berlinert Schmerz überwunden und lustig war es auf jeden Fall, klatschnass aneinander zu kleben.

Im Spätsommer 1930 hatte Marianne sich überreden lassen, allein mit Karl ein Wochenende zu verbringen. Kultur und Politik sollten zurücktreten und sie wollten auch einmal ohne die Studienfreunde in der Natur unterwegs sein. Den beiden anderen erzählten sie nichts von ihren Plänen und fuhren mit der Bahn nach Bensheim an der Bergstraße und leisteten sich – im Gegensatz zu den sonst bevorzugten Quartieren im Heuschober eines Bauern oder im Schlafsaal einer Jugendherberge – ein Zimmer in einem Gasthof. Als sie am Nachmittag in dem einfachen Gasthauszimmer standen, verließen sie erst einmal das Haus.

Sie unternahmen eine große Wanderung. Vom Schloss Auerbach, hoch über der Stadt Bensheim, schweift der Blick über die Rheinebene bis zum Pfälzerwald. Von Marianne ließ sich Karl die Blumen und Sträucher am Wege mit wesentlich größerer Begeisterung erklären als in Polzin von seinem Großvater.

Als sie wieder einmal in die weite Aussicht vertieft war, erschreckte er sie mit dem schrillen Ton, den er einem zwischen die Daumen beider Hände gespannten Rispengrasblatt entlocken konnte.

„Um Gottes willen, Karl, was ist das denn?“

„Das ist der Brunftschrei des Ochsenfrosches!“

Das Abendessen ließen sie aus. Marianne teilte in ihren Lebenserinnerungen mit, dass das Zusammensein schlimme Folgen hatte. Als nämlich die zunächst als normale Begleiterscheinung bemerkte Blutung nicht aufhören wollte, breitete sich Panik aus. Karl musste die Wirtsleute um Hilfe bitten und sie brachten die völlig aufgelöste Marianne in das nächste Krankenhaus.

In Bensheim existiert seit mehreren Hundert Jahren das Heilig-Geist-Spital, das von einer kirchlichen Stiftung betrieben wird. Die Nonnen, die an jenem Wochenende dort Pflegedienst verrichteten, riefen sofort den diensthabenden Arzt und schickten den jungen Begleiter der Frau erst einmal hinaus. Mit bangen Gefühlen saß Karl im düsteren Gang und wunderte sich, als nach kurzer Zeit zwei Polizeibeamte am Ende erschienen.

„Sie bleiben hier sitzen, junger Mann!“ Eine der Schwestern huschte an ihm vorbei.

„Aber was hat das zu bedeuten?“

„Was?“

„Die Polizei?“

„Das werden Sie schon erfahren.“

„Was ist mit meiner Kommilitonin?“

„Was wird schon sein?“

Jetzt erst begriff er. Sie hatten die Polizei verständigt, weil sie vermuteten, sie hätten es mit den Folgen eines Abtreibungsversuchs zu tun. Bitter dachte er an den Theaterbesuch und das Gespräch mit dem Autor Friedrich Wolf. Er wunderte sich, als die Polizeibeamten wenig später das Krankenhaus wieder verließen, ohne ihn angesprochen zu haben.

Nach der Untersuchung durch den Arzt und der Verabreichung der ersten Spritze änderte sich das ursprünglich feindselig-misstrauische Klima. Die Nonnen, die vorehelichen Verkehr nicht billigen konnten, wurden freundlich zu der jungen Frau, der es so übel ergangen war. Vielleicht mischte sich auch ein wenig Genugtuung in ihre Empfindungen, da der Vorfall wie eine Bestätigung der Sündhaftigkeit des Verhaltens der beiden Studenten auf sie wirken musste. Marianne musste zwei Tage in der Klinik bleiben, bis die Blutung endgültig zum Stillstand gekommen war. Bei der Aufnahme ihrer Personalien legte sie Wert darauf, dass sie als Frau und nicht als Fräulein bezeichnet wurde.

„Stell dir vor, die Polizisten wollten eine Anzeige aufnehmen!“ Bleich lag Marianne in dem Krankenhausbett. Er hielt ihre Hand. „Der Arzt hat ihnen aber gleich gesagt, dass ihr Verdacht falsch war.“

„Es tut mir so leid!“

Karl verbrachte die nächsten zwei Tage noch in Heppenheim. An die Sünde glaubte er nicht, aber er hatte sich die Sexualität doch etwas anders vorgestellt. Vor allem traf ihn die Konsequenz hart, die Marianne aus der Sache zog: „Lass es mal vorläufig bei unserer Freundschaft und gib uns Bedenkzeit. Außerdem müssen wir alle aufs Examen lernen.“

‚Das ist ja ein schöner Kladderadatsch‘, dachte er. Das Wort war ihm sofort peinlich. Er wusste, dass die Berliner Satirezeitschrift dieses Namens seit einigen Jahren Hitler und die Nationalsozialisten mit bösen Karikaturen über die politische Linke unterstützte. Nein, es war viel ernsthafter. Er liebte sie und wollte sie gewinnen. Jetzt hatte er nach einem großen Schritt nach vorne wieder um zwei Schritte zurückweichen müssen. Um die Geschichte zu verarbeiten, schrieb er an den Onkel in Berlin und bat um Rat. Von dort bekam er die lakonische Antwort: „Mein Junge, es gibt noch mehr nette Frauen auf der Welt.“

Das war zwar zutreffend, befriedigte Karl aber nicht. Onkel Schröder mochte viel von der Zukunft der Arbeiterklasse verstehen, aber seine Menschenkenntnis und sein Einfühlungsvermögen in die Schicksale Einzelner waren offenbar nicht im gleichen Maße ausgeprägt. Karl musste alleine damit fertig werden. Mit dem sieben Jahre älteren Bruno mochte er nicht darüber reden.

Die vor sich hin dümpelnde sozialistische Studentengruppe brachte kaum Ablenkung und so gedachte Karl, sich intensiv in die Examensvorbereitung zu stürzen. Das Lernen fiel ihm schwer. Zu vieles ging ihm durch den Kopf, und die Zeiten waren auch nicht für einen Rückzug ins Private geeignet. Vor der Reichstagswahl im September würde die SPD jeden Helfer gebrauchen. Vielleicht konnte er sich hier verdient machen.

Die Regierung in Berlin hatte sich aufgrund der verschlechterten Finanzlage des Reiches gezwungen gesehen, Sparmaßnahmen zu diskutieren. Ein Vorschlag der industrienahen DVP sah vor, die ohnehin armseligen Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu reduzieren. Daran war im März die Koalition zerbrochen und Reichskanzler Müller war zurückgetreten. Kurz danach ernannte Reichspräsident Hindenburg Heinrich Brüning zum Reichskanzler, der ohne Mehrheit im Reichstag das Regieren mit Notverordnungen nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung begann.

Nachdem der Reichstag am 16. Juli eine Vorlage zu einer Beitragserhöhung abgelehnt hatte, setzte Brüning die Vorlage in verfassungswidriger Weise als Notverordnung um. Der Reichstag hob sie am 18. Juli gemäß Artikel 48 Absatz 3 der Verfassung wieder auf, worauf die Regierung mit der Auflösung des Reichstags reagierte. Jetzt konnte 60 Tage lang weiter mit Notverordnungen regiert werden. Eine wahrhaftige Verfassungskrise ergänzte die furchtbare wirtschaftliche Situation. Die Arbeitslosenzahlen stiegen weiter.

In den kurzen, diesen Ereignissen folgenden 60 Tagen fand ein Wahlkampf statt, wie ihn Deutschland nie zuvor erlebt hatte. Die NSDAP mit ihrem Listenplatz 9 stellte die Wähler unter der Überschrift ‚der rote Krieg‘ vor Alternativen, die offenbar verstanden wurden:

„Mutter oder Genossin, Gott oder Teufel, Blut oder Gold, Rasse oder Mischling, Volkslied oder Jazz,“ kurzgefasst: „Nationalsozialismus oder Bolschewismus“.

Außerdem ließ sie ihre Sturmabteilung vor allem in den Arbeitervierteln Angst und Schrecken verbreiten. Das Konzept für ihren Wahlkampf stand schon wenige Tage nach dem Auflösungsbeschluss der Reichsregierung fest; die Nazis waren vorbereitet. Geistiger Kopf der Kampagne war Joseph Goebbels.

„Es darf bis zum 14. September keine Stadt, kein Dorf, keinen Flecken geben, wo wir Nationalsozialisten nicht durch eine große Versammlung in Erscheinung getreten sind.“

Also schickte er den Parteiführer auf Deutschlandtournee, und so trat Adolf Hitler bereits am 3. August in der Festhalle in Frankfurt auf. 17.000 Menschen füllten die riesige Arena, um ihn zu hören und ihm zuzujubeln. Zu gern wollten sie glauben, dass für das deutsche Elend außer dem Schandfrieden von Versailles die Bolschewiken und ihre Lakaien verantwortlich waren. Die antisemitische Hetze der Nazis, die für die aktuelle Kampagne auf Anraten von Goebbels etwas zurückgenommen wurde, hatten die Zuhörer entweder vergessen oder fanden sie sowieso richtig und so selbstverständlich, dass sie nicht ständig wiederholt werden musste.

Die seit Ende 1926 vorliegenden zwei Bände des Hitler‘schen Machwerks ‚Mein Kampf‘ hatten nicht allzu viele der Zuhörer gelesen. Die Auflage des Buches überschritt erst nach der Machtergreifung die Million, als es opportun erscheinen musste, auf der ideologischen Höhe der Zeit zu sein. Dennoch entsprach es der Realität, dass die meisten Deutschen die antisemitischen Ausfälle der Nazis kannten und ihnen insgeheim darin zustimmten, dass die Juden, genauer „das Weltjudentum“ der dritte Sargnagel für ein starkes Deutschland seien.

Die Halle wurde von Hunderten von SA-Männern bewacht. Zwar war die Zahl ihrer aktiven Mitglieder nach der Wiederzulassung und Neuorganisation der NSDAP ab 1925 eher bescheiden: die Wiesbadener Sturmabteilung zählte im Sommer 1926 nicht mehr als zwölf aktive Männer. Bis Anfang 1927 erhöhte sich dies gerade einmal auf 20. Ähnlich sah es im gesamten Partei-Gau Hessen-Nassau-Süd aus. Selbst in der Metropole Frankfurt standen bis 1929 nur wenige Sturmmänner zur Verfügung. In Hessen existierten zwar zahlreiche Wehrsportgruppen, die ebenfalls stramm rechtsradikal und gegen alle Linken waren, aber eine einheitliche Massenorganisation mit militärischen Strukturen und eindeutigem Kampfauftrag bildeten sie noch nicht.

Deshalb mussten auswärtige Kräfte aus dem ganzen Land mit dem LKW nach Frankfurt gebracht werden, um für den Führer Stärke zu demonstrieren. Zum Beispiel war der SA-Sturm 62 aus Mainz den Frankfurter Parteifreunden zu Hilfe gekommen und bildete einen ersten Abwehrring am Vorplatz auf dem Messegelände. Die frisch gewichsten Stiefel glänzten in der Sonne, und einige trugen über dem Braunhemd eine Krawatte. An ein Durchkommen eventueller Gegendemonstranten war nicht zu denken.

Die NSDAP hatte inzwischen auch für Hessen eine eigene Propagandazeitung aufgelegt, den „Frankfurter Beobachter“, für den auf riesigen Transparenten in der Halle geworben wurde. Die fortschrittliche Bildungspolitik des Landes war eines der Angriffsziele Görings gewesen, der schon im Mai 1930 im Zoologischen Garten gesprochen hatte. Es war seine Überzeugung, dass die Nationalsozialisten vor allem Preußen gewinnen mussten, wenn sie im ganzen Reich Erfolg haben wollten.

Dass der SPD nicht Besseres einfiel, als die Parole: „Hitler ist Zwischenspiel, Schlussakt sind wir“, auszugeben, war Ergebnis einer ähnlichen Fehleinschätzung wie der in der KPD vorherrschenden. Das Wort ‚Einheitsfront‘ tauchte zwar in vielen Reden beider Parteien auf, aber man schloss jeweils die Parteiführung der anderen aus. Die KPD veröffentlichte am 24. August eine „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ und rief alle Werktätigen auf, mit den faschistischen Volksbetrügern der NSDAP und der verräterischen Sozialdemokratie zu brechen und eine revolutionäre Millionenfront zu bilden. Ob die Autoren daran wirklich geglaubt haben?

Es war nicht herauszufinden, ob es in der Stadt Frankfurt oder in der Nähe der Halle am 3. August eine Gegendemonstration gab. Schön wäre es, wenn Karl und Bruno mit vielen Genossinnen und Genossen das andere Frankfurt sichtbar gemacht hätten. Was für einen Gegensatz zu dem Besuch der Halle vor drei Monaten hätten sie hier erleben müssen!

In den Straßen von Frankfurt war immer öfter ein Lastwagen zu sehen, dessen Seitenfront mit einem riesigen Schild verkleidet war. Die darauf angebrachte Aufschrift legte den Bürgern nahe: „Deutsche kauft bei Deutschen! Deutsche inseriert in deutschen Zeitungen im völkischen illustrierten und Frankfurter Beobachter.“

Das Ergebnis der Reichstagswahl vom 14. September – wenn auch in Hessen etwas günstiger für die SPD als im Reich – schockierte auch die Linken in Frankfurt. 1928 hatten die Nationalsozialisten lediglich 2,6 % erzielt und damit Schröders frühere Einschätzung anscheinend bestätigt. Aktuell waren sie auf 18,3 % gekommen und bildeten die zweitstärkste Fraktion nach der SPD und vor der KPD.

Marianne und Thea bestanden trotz dieser politischen Entwicklungen auf weiteren kulturellen Erlebnissen. Am 19. Oktober haben sie im Opernhaus die kurz zuvor erstmals dargebotene Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Bertolt Brecht mit der Musik von Kurt Weill und den Eklat erlebt, als etwa 150 Nazis während der Pause ins Foyer drängten und unter Pfiffen und dem Gebrüll „Deutschland erwache!“ das bürgerliche Publikum schockierten. Damals schritt die Polizei ein und beendete die Aktion. Das lag nicht zuletzt daran, dass mit dem japanischen Prinzenpaar Takamatsu hohe Staatsgäste in der Oper waren. Die Vorstellung konnte nach dem Polizeieinsatz fortgesetzt und zu Ende gebracht werden.

Mahagonny, die Netzestadt: Was für ein Inbegriff des sinnlosen Konsums und der Verblödung der Arbeiter unter dem kapitalistischen Joch! Was für eine geistreiche Parodie auf die inhaltsleere Vergnügungssucht und was für eine schmissige Musik! Karl und Bruno waren begeistert. Auf dem Rückweg nach Sachsenhausen durchs nächtliche Frankfurt und auf dem Eisernen Steg über den dunklen Fluss schmetterten sie die Hymne der Stadt Mahagonny im Chor:

„Erstens vergesst nicht kommt das Fressen,

zweitens kommt die Liebe dran,

drittens das Boxen nicht vergessen,

viertens saufen solang man kann.

Vor allem aber achtet scharf,

dass man hier alles dürfen darf!“

Karl legte den Arm um Mariannes Schulter, die in ihrem dünnen Kleidchen in der Nachtkühle deutlich zitterte, und er durfte sie zum ersten Mal seit Bensheim wieder küssen. Er liebte Brecht, der viel über die kapitalistische Gesellschaft, aber auch über die Liebe geschrieben hatte.

Kurz vor diesem Ereignis, am 14. Oktober, war in Frankfurt ein Nazi freigesprochen worden, der im April bei einer Straßenschlacht mit Mitgliedern des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold einen Sozialdemokraten mit dem Messer getötet hatte. Das Landgericht billigte ihm Notwehr zu. Die SPD hatte am 15. Oktober zu einer Protestkundgebung gegen das Urteil aufgerufen.

Karl und Bruno standen mit den anderen auf dem Börsenplatz. Es war für die beiden selbstverständliche Pflicht, an der anschließenden Demonstration teilzunehmen und der Parteisekretär hatte sie daran erinnert. Wahrscheinlich wollte er auch die weiteren Mitglieder der inzwischen hoffentlich machtvollen sozialistischen Studentengruppe sehen.

Spätestens jetzt begann trotz allem die entscheidende Phase der Prüfungsvorbereitung. Karl hatte durch seine Liebesgeschichte und die politische Arbeit so viel Zeit verloren, dass er sich keine Nebenwege mehr erlauben konnte.

Am 16. November bot sich wieder eine Gelegenheit zum Besuch der Festhalle auf dem Messegelände. Die drei anderen holten ihn aus seinen Prüfungsvorbereitungen und schleppten ihn zu dem Ereignis mit. Das Kulturkartell veranstaltete mit 700 Sängern und 100 Instrumentalisten einen Beethovenabend. Unter den brausenden Klängen der ‚Ode an die Freude‘ wurde eine Begeisterung für diesen Komponisten geweckt, die Karl sein Leben lang erfüllte und ihm im April 1943 in Tunesien eine denkwürdige Begegnung mit einem englischen Offizier bescherte.

Kurz vor Weihnachten bat Marianne, sie zu Einkäufen in die Innenstadt zu begleiten. Sie wollte die erst im April eröffnete Filiale des Kaufhauses Woolworth besuchen und Karl sollte ihr bei der Auswahl eines Schals für ihren Vater helfen. Sie rechnete dabei nicht so sehr auf seinen Geschmack in Kleiderfragen, sondern wollte ihn gewissermaßen als Kleiderpuppe nutzen, um zu sehen, wie das ausgesuchte Stück sich an einem Männerhals machte.

Schon von weitem konnten sie erkennen, dass auf dem Schillerplatz, ganz nah bei dem Denkmal des Dichters, ein Weihnachtsbaum aufgestellt war, der mit hellen Flecken übersät war. Als sie näher kamen, hörten sie lautes Gelächter und Rufen. An der reichlich krumm gewachsenen Fichte hingen als Schmuck handbeschriebene weiße Zettel.

‚Brüning ist der Tod des Arbeiters‘ oder ‚Hitler und Brüning: zwei Seiten der Medaille des Kapitals‘ und ähnliche Parolen waren da zu lesen. Einer der Umstehenden rezitierte die Texte unter dem Gejohle der etwa dreißig Versammelten. Karl erkannte einige von ihnen als Mitglieder der örtlichen KPD.

Von der anderen Seite des Platzes näherte sich ein Trupp Braunhemden im Gleichschritt. Ein Träger mit blutroter Hakenkreuzfahne begleitete den Zug. Karl zog Marianne rasch von der Gruppe der Kommunisten weg. Unter dem Ruf: ‚Tod den Bolschewisten‘ und ‚Deutschland erwache!“ stürmten die SA-Männer auf die kleine Versammlung zu und ehe Zeit zum Überlegen war, kippten sie den Baum aufs Pflaster und zertrampelten ihn mitsamt seinem Schmuck mit ihren Stiefeln. Zum Glück hatte die Frankfurter Polizei mit einem Angriff gerechnet. Sie war mit genügend Beamten umgehend auf dem Platz und konnte die beiden Gruppen trennen, bevor es zu einer der gefürchteten Schlägereien kam.

Am Vorabend von Mariannes 21. Geburtstag, der am 16. Dezember mit den drei Freunden gefeiert werden sollte, erließ der Frankfurter Polizeipräsident wegen der zunehmenden Straßenschlachten ein neuerliches Verbot sämtlicher Umzüge, Demonstrationen und Versammlungen. Es wurde noch am selben Tag durch Auflösung einer Versammlung der Nationalsozialisten im Zoologischen Garten angewendet.

Karl verließ in diesen Tagen Frankfurt mit einer gewissen Bange, was das baldige Examen und sein Verhältnis zu Marianne betraf, freute sich aber auf Eltern und Bruder.

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